Am Morgen, am Abend, am Ziel

Am Morgen, am Abend, am Ziel
 

Am Morgen, am Abend, am Ziel

Sechsuhrzweiunddreißig – fast genau wie gestern,
wie morgen – schiebt sich das lidlose
Glutrund herauf über den Golf; wenn er die Nacht
stehend in Spekulationen verbracht hatte,
hob Sokrates dazu
anbetend die Arme. Später,

auf den Galapagos, unternahm Darwin
Wettrennen mit den Riesenschildkröten. Und am Ende besiegt,
den verzweifelten Kopf auf dem Tagebuch,
starb Scott in der Eiswüste. Den optimalen Zeitpunkt

für den Computerkauf gibt es schon lange nicht mehr –
die Informations-Igel haben allhier
uns immer schon überholt. Nur drei Sekunden
(den zweiten, langsameren Takt des Gehirns)
dauert die Gegenwart. Jetzt

küss mir die Augen, solange die Zeit
sie noch nicht mit dem Krähenfuß tritt,
und lass uns den sterblichen Leib – eine Harfe
Brahmas
, wie Kabir sagt –

mit Musik optimieren: Jedes Gefühl
eine Zahl, jede Zahl ein Ton:
Analyse – Synthese – Sound – Selbsttranszendenz
ist der Imperativ der lebendigeren Systeme
und hochgetrieben den Rhythmus bis

einundzwanziguhrdrei – beinah wie gestern,
wie morgen – unterm Verandadach
spreiten sich plötzliche Drachenflügel
zu nächtlicher Zickzackjagd. Und der Engel,
womöglich, nimmt uns die Binde ab,

löscht die Blendlaterne der Zeit.


(Lesung im Berliner Literaturhaus 30.01.2014)

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