Am Morgen, am Abend, am Ziel

Überblickskommentar:

Das Gedicht verbindet Urlaubserlebnisse in Griechenland (Sonnenaufgang / Musikgenuß /Fledermaus) mit einer Reflexion über die Zeit und das Nichtzeitliche (das Ideenreich, die Transzendenz, das „Uchronische“ (Bazon Brook)). Es parallelisiert den Tagesablauf mit dem Kulturverlauf (Sonnenaufgang / Sokrates / Darwin / Scott / Computer/ Jetzt (v.15) / Musik / Sonnenuntergang), in dem der moderne Zeitbegriff bis zur Jetzt-Zeit die Oberhand gewinnt, aber als nicht zielführend gekennzeichnet wird (vgl. die verlorenen Wettläufe (Achill / Darwin / Scott / Computerkauf)). Im zweiten Teil (ab v.16) wird dem ein anderes Seins-Verständnis entgegengesetzt: ‚Optimierung‘ des Lebens durch Kunst (am Beispiel der Musik, die ja ihren eigenen Zeitverlauf schafft), um mit Hilfe der Transzendenz (Engel) den ‚Schleier der Maja‘ zu lüften (löscht die Blendlaterne der Zeit (v.30)). Dann wäre es möglich, das Ziel, das der Titel vorgibt, zu erreichen.
 

Am Morgen, am Abend, am Ziel

Sechsuhrzweiunddreißig
fast genau wie gestern
,
wie morgen – schiebt sich das lidlose
Glutrund
herauf über den Golf; wenn
er
die
Nacht

stehend in Spekulationen verbracht hatte,
5hob
Sokrates
dazu
anbetend die Arme
.
Später
,
 
auf den Galapagos, unternahm
Darwin

Wettrennen mit den Riesenschildkröten
.
Und am Ende besiegt
,
den verzweifelten Kopf auf dem
Tagebuch
,
10starb
Scott
in der Eiswüste.
Den optimalen Zeitpunkt

 
für den
Computerkauf
gibt es schon lange nicht mehr –
die Informations-Igel haben allhier

uns
immer schon überholt.
Nur drei Sekunden

(
den zweiten, langsameren Takt des Gehirns
)
15dauert die Gegenwart. Jetzt
 
küss mir die Augen
, solange die Zeit
sie noch nicht mit dem Krähenfuß tritt,
und lass uns den sterblichen Leib – eine Harfe
Brahmas
, wie
Kabir
sagt –
 
20mit Musik
optimieren
:
Jedes Gefühl

eine Zahl, jede Zahl ein Ton:
Analyse – Synthese – Sound
Selbsttranszendenz

ist der Imperativ der lebendigeren Systeme
und hochgetrieben den Rhythmus bis
 
25
einundzwanziguhrdrei
beinah wie gestern
,
wie morgen –
unterm Verandadach

spreiten
sich plötzliche Drachenflügel
zu nächtlicher Zickzackjagd.
Und
der
Engel
,
womöglich,
nimmt uns die Binde ab
,
 
30
löscht die Blendlaterne
der Zeit.
 

Stellenkommentar:

v.1 Sechsuhrzweiunddreißig: Sonnenaufgangszeit (vermutlich in Griechenland im Spätsommer/Herbst), vgl. dazu die Sonnenuntergangszeit in v.25 (einzwanziguhrdrei), beides entspricht dem Titel (Am Morgen, am Abend).

v.1f fast genau wie gestern, / wie morgen: zyklische Vorstellung der Zeit. Die leichte Verschiebung des Sonnenaufgangs im Gang des Jahres wird im Gedicht durch die sinngemäße Wiederholung in v.25f bei gleichzeitiger Änderung des Adverbs (fast in beinah) verdeutlicht.

v.2f das lidlose / Glutrund: i.e. die Sonne. Das Attribut ‚lidlos‘ weist daraufhin, dass hier zugleich das Auge gemeint ist (möglicherweise das Auge Gottes, der Transzendenz o.ä.).

v.3 er: vorgezogenes Personalpronomen, in v.5 wird deutlich, dass Sokrates gemeint ist.

v.3f Nacht / … in Spekulationen: Die Nacht hier als Bereich, der eine größere Nähe zu den Ideen ermöglicht

v.5 Sokrates: griechischer Philosoph, * 469 v. Chr.- † 399 v. Chr. Der Vorgang, der in v.4 bis v.6 beschrieben wird, entspricht der Beschreibung Platons im Symposion (220d). In tiefes Nachdenken versunken, bleibt Sokrates eine Nacht über am selben Flecke stehen und geht erst nach Sonnenaufgang und einem Gebet an Helios weiter.

v.5f hob … / anbetend die Arme: antike Gebetshaltung im Unterschied zur jetzigen christlichen

v.6 Später: Die Anfügung der Zeitangabe an die Sokrates-Anekdote suggeriert, dass der Tagesablauf weitergeht. Im Fortgang des Gedichtes zeigt sich aber, dass es sich auch um einen kulturgeschichtlichen Ablauf handelt.

v.7 Darwin: Charles Robert Darwin (* 12. Februar 1809 in Shrewsbury; † 19. April 1882 in Downe), britischer Naturforscher. Er gilt wegen seiner wesentlichen Beiträge zur Evolutionstheorie als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler.

v.7f auf den Galapagos … / Wettrennen mit den Riesenschildkröten: Auf den Galapagos fand Darwin entscheidende Hinweise für seine Evolutionstheorie, u.a. die auf jeder Insel unterschiedlichen Panzerzeichnungen der Schildkröten. Ein Wettrennen mit den Schildkröten ist in Darwins Tagebuch nicht erwähnt. Das Wettrennen, auf das angespielt wird, dürfte das zwischen Achill und einer Schildkröte sein, dass bekannt Paradoxon des Zenon von Elea. Hierbei kann Achill die Schildkröte – wegen eines der Schildkröte eingeräumten Vorsprunges (Voraussetzung ist die unendliche Teilbarkeit des Raumes und der Zeit) – diese nicht einholen, er kommt also nicht an sein Ziel. Mitgemeint könnte hier sein, dass die logische Exaktheit der Naturwissenschaft das Leben / die Transzendenz nicht vollständig erreichen kann.

v.8 Und am Ende besiegt: Formal auf das folgende, die Scott-Anekdote, bezogen, aber auch auf Darwin zu beziehen, dessen naturwissenschaftliche Sieg über die Metaphysik hier als Niederlage, als Irrweg verstanden werden kann.

v.9 Tagebuch: Scott starb mit seinen Begleitern 11 Meilen vom nächsten Versorgungsdepot entfernt, seine letzter Tagebucheintrag lautet: „Jeden Tag waren wir bereit, uns auf den Weg zu unserem elf Meilen entfernten Depot zu machen, doch vor dem Zelt bleibt das wirbelnde Gestöber. Ich denke nicht, dass wir jetzt noch hoffen können. Wir werden es bis zum Ende durchstehen, doch wir werden natürlich schwächer und das Ende kann nicht mehr weit sein. Es ist schade, aber ich kann jetzt nicht mehr schreiben. Kümmert euch um Himmels willen um unsere Hinterbliebenen.“

v.10 Scott: Sir Robert Falcon Scott, (* 6. Juni 1868 in Devonport bei Plymouth; † 29. März 1912 in der Antarktis), britischer Polarforscher. Er wurde durch seinen Wettlauf um die Ersterreichung des Südpols (Terra-Nova-Expedition) gegen Roald Amundsen berühmt; von diesem geschlagen, kam Scott gemeinsam mit seinen Begleitern während des Rückmarsches ins Basislager ums Leben.

v.10 Den optimalen Zeitpunkt: s.u. zu v.20

v.11 Computerkauf: Indikation für die Gegenwart. Die Optimierung der Technik wird verstanden als Wettlauf um die Neuerung, letztlich also um den Sieg am Markt.

v.12 die Informations-Igel … allhier: Anspielung auf das Grimm’sche Märchen „Der Hase und der Igel“. Bei dem Wettrennen ruft der Igel bzw. seine Frau am Ziel dem Hasen jeweils zu „Ick bün al dor!“. Dem Hasen ist die Niederlage unbegreiflich, er verlangt Revanche und führt insgesamt 73 Läufe mit stets demselben Ergebnis durch. Beim 74. Rennen bricht er erschöpft zusammen und stirbt. Das Wettrennen zwischen Hase und Igel wird parallelisiert mit dem zwischen Mensch und Technik, am Ende droht die Technik zu siegen und der Mensch zu sterben (ohne verstanden zu haben).

v.13 uns: i.e. der Dichter und die gesamte Menschheit

V.13ff Nur drei Sekunden … Gegenwart: Die Neuro-Wissenschaft stellt fest, dass nur Eindrücke innerhalb von 3 Sekunden vom menschliche Gehirn zu einem Gesamteindruck verschmolzen werden, die Zeiteinheit für das Jetzt unserer Gegenwart beträgt somit 3 Sekunden.

v.14 den zweiten, langsameren Takt des Gehirns: Dieser 2. Takt ist der in v. 13ff beschriebene ‚Gegenwartstakt‘ (siehe zu v.13ff). Der 1. vor der bewussten Gegenwartsebene liegende Takt dürfte das Bereitschaftspotential sein, ein elektrophysiologisches Phänomen, das im Vorfeld willkürlicher Bewegungen in bestimmten Arealen der Großhirnrinde auftritt und als Ausdruck von Aktivierungs- und Vorbereitungsprozessen interpretiert wird, es wird mehr als eine Sekunde vor der bewussten Willensentscheidung aufgebaut.

v.16 küss mir die Augen: Gemeint ist die Muse, die aufgefordert wird, ihn sehend zu machen (gegen die Blendlaterne der Zeit (v.30)).

v.18f eine Harfe / Brahmas: Die Stelle, an der Kabir den menschlichen Leib als eine Harfe Brahmas bezeichnet, ist in seinen Liedern nicht zu verifizieren. Die Annahme allerdings, dass das Göttliche den menschlichen Leib als Instrument nutzt, entspricht der Vorstellung Kabirs.

v.19 Kabir: Kabir (* 1440; † 1518 in Maghar) war ein indischer Mystiker, der das Ideal einer einigen Menschheit vertrat. Seine monistische Philosophie handelt vom einzigen Ursprung aller Dinge und der liebevollen Demut zu Gott.

v.20 optimieren: Der menschliche Leib soll durch Musik (das Göttliche) überhöht, transzendiert werden. Dies steht im Gegensatz zum optimalen Zeitpunkt / für den Computerkauf (v.10f), den der Mensch nicht finden kann; die Technik dient also nicht – im Gegensatz zur Musik – der Optimierung des Ichs, der Selbsttranszendenz.

v.20f Jedes Gefühl / … Ton: Beschreibung der Entstehung von Musik: einem Gefühl entspricht eine Idee (Zahl) und dieser ein Ton. Für die Antike war die Musik eine Unterform der Mathematik.

v.22 Analyse – Synthese – Sound: Moderne Formulierung des oben genannten Entstehungsvorgangs. Dieser Schöpfungsvorgang ist nicht nur auf die Musik, sondern auch auf die Dichtung anzuwenden. Traditionell wird der Dichter ja auch als Sänger bezeichnet.

v.22f Selbsttranszendenz / … Systeme: In der üblichen Verwendung der Begriffe ist mit ‚Selbsttranszendenz von Systemen‘ gemeint, dass sich eine Einheit (ein System) mit anderen Einheiten zu einer höheren Einheit zusammenschließt (horizontaler Zusammenschluss). Hier dürfte aber auch gemeint sein, dass das Ich sich überschreitet und zu einer Transzendenzerfahrung gelangt (Vertikalspannung). Der Imperativ der Selbsttranszendenz gilt für alle biologischen Systeme, für den Menschen gilt insbesondere die vertikale Ausrichtung (hochgetrieben v.24).

v.25f einundzwanziguhrdrei … morgen: s.o. zu v.1. und v.1f

v.26ff unterm … Zickzackjagd: Zugrunde liegt die Erfahrung einer jeden Abend bei Sonnenuntergang zur Jagd startenden Fledermaus. Im Gegensatz zu den vergeblichen Wettläufen oben (Darwin, Scott) scheint die Jagd der Fledermaus in der Nacht erfolgreich zu sein. So wie die Fledermaus blind, aber mit Tönen Beute macht, so schafft der Dichter mit seinem Ton (Gedicht) Zugang zur (unsichtbaren) Transzendenz.

v.27 spreiten … Drachenflügel: Hier klingt „Dämmrung will die Flügel spreiten“ (Eichendorff, „Zwielicht“ v.1) an.

v.28 Und: Durch die Konjunktion wird der folgende Vorgang, die Erscheinung des Engels, mit dem vorhergehendem, der Jagd der Fledermaus, verbunden.

v.28 Engel: Der Engel scheint hier die Funktion eines Psychopompos, eine Seelenführers, zu haben. Seine Bedeutung ist neben dem Transport der Seele vor allem der Prozess der Akzeptanz der Sterblichkeit. Er ist Führer und Helfer.

v.29 nimmt uns die Binde ab: Anspielung auf Initiationsriten, in denen das neue Mitglied mit verbundenen Augen in eine Gemeinschaft geführt wird und ihm dort die Augenbinde abgenommen wird (vgl. z.B. Alfred Schäfer: Das Unsichtbare sehen, Münster 2004, S. 70ff). In der christlichen Ikonographie wird die Synagoge (als Sinnbild für die jüdische Religion) mit einer Augenbinde dargestellt. Das Gegenbild ist die sehende Ecclesia, die christliche Kirche.

v.30 löscht die Blendlaterne: Hier klingt Wagners ‚Tristan und Isolde‘ mit an: z.B. der Beginn des 2. Aktes, wo Isolde es nicht erwarten kann, die Fackel zu löschen, oder der 3. Akt mit Tristans Solo „Noch losch das Licht nicht aus“. Im Tristan wird das Löschen der Fackel als emphatischer Ausdruck der Todessehnsucht der Liebenden interpretiert.

Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus 6 Versgruppen (6/4/5/4/5/5+1), in der Mitte des Gedichtes, zwischen v.15 und v.16 erfolgt der Umschlag des Gedichtes (s. Überblickskommentar und u. zu v.15f). Das Gedicht wird durch die variierte Wiederaufnahme der Zeitangabe und der folgenden Zeitadverbien gerundet. Der Schlussvers hat eine Sonderstellung (er ist quasi außerhalb der Zeit und das Ziel) und ist deshalb von den vorhergehenden Versen getrennt. Die Verse reimen nicht.

v.15f: Der Sprung von v.15 zu v.16 bildet die Mitte des Gedichtes, er entspricht in der Dauer dem Phänomen der Gegenwart.

v.22 Analyse – Synthese – Sound: Dieser Drei-Schritt ist besonders aus Gedichten Gottfried Benns vertraut.

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