Cleansing the Doors

Überblickskommentar:

Als lyrisches Ich dieses Gedichtes fungiert Jim Morrison, der Lead-Sänger der Rockband „The Doors“. Am seinem Beispiel wird der durch Technik verstärkte exzessive Genuss von Musik und Drogen thematisiert und damit – entsprechend dem Titel (‚Die Türen reinigen‘) – eine moderne Möglichkeit der Selbstentgrenzung diskutiert. Die 1. Versgruppe beschreibt wie eine Ouvertüre die Wirkung von E-Gitarren-Musik auf den Körper, die 2. Versgruppe zeigt den Versuch, sich mit diesen Mitteln aus der Wirklichkeit zu befreien. Die Versgruppen 3 und 4 fügen als Beispiel eine Metamorphose aus dem Bereich des Evolutionären (Raupe (‚Larve‘) und Puppe) hinzu, die in Versgruppe 8 im Schmetterlingsschrei kulminiert. Die Versgruppen 5, 6 und 7 zeigen kulturhistorische Varianten des Mannes (Raupe), der Frau (Puppe) und des Kindes (Schmetterling), die mit hey Chorus angesprochen und aufgefordert werden, ihr individuelles Sein zu überwinden. Versgruppe 9 stellt mit den drei Gitarren-Effekten eine Engführung der vorherigen Versgruppen dar, sodass Versgruppe 10 zum Ziel des Gedichtes führen kann: der Auflösung der Individualität im Vergessen und dem Erreichen des eigentlichen Seins.

Cleansing the Doors

Broadway
Vibrato
E-Wellen
belecken die Zehen

Impulssprünge
in
Neon-Gewittern
Soul kitchen
Tokyo-Overdrive
yeah
Sankt Turbo
wühlt sich ins Fleisch
Hochtonanteil
der
Metro-Motoren

5
Favela-Flanger
promisk
yeah yeah putschts zwischen den
Schläfen

Signal-Interferenzen für
Wellblechbaracken
und so

 
wenns auf die
Endstufe
zugeht
Leute

Datenspurausfahrt Nacht
End of the night
packt die
Infinity PS 8 Subwoofer
ihr Leute
10packt sie mir um mein Bett
und übersteuert mit
Feuern die Nacht
:
 
Gleichlaufschwankung der Antriebs-Hardware

larvenverzerrend

ah hello
Koronar-Tremolo

15
come on light my fire
Light my fire
 
Steilflankige
Fuzz-Effekte
puppenzersprengend

ah Atem-
Dymanikspitzen

come on set the night on fire

 
20und:
Glatzkopf
der rüber zum
DJ
grient
Neon-Impuls
Ecstasy Kokain

lass deine Zelle schmelzen

hey
Chorus
!

 
und:
Schwangere
die sich Dröhnknöpfe ins Ohr krallt
25Underground-Hochton Feuchtigkeit zwischen den Falten
lass deine Zelle schmelzen Unhappy girl
hey Chorus!
 
und: Kindersoldat neben den Ghetto-Blaster gekauert
Blech-Überdosierung
Blutrausch im Auge

30lass deine Zelle schmelzen
hey Chorus c`mon!
 
Come on Chorus yeah yeah
Elektronen-Azur
überm
Fade-out der Namen

come on now misch ihn dir bei
35den
Schmetterlingsschrei
When the music’s over
mit dem
Break
beim
Regenbogen
Sustain
und so
Break on through
 
Vibrato Overdrive

Fuzz
 
vergessen
zu sein
40vergessen im
Soundblau

raumweiten Vergessens
sein
 

Stellenkommentar:

Titel: Der Titel Cleansing The Doors (‚Die Türen reinigen‘) ist ursprünglich eine Zeile aus dem Versepos/Essay „The Marriage of Heaven and Hell“ von William Blake („If the doors of perception were cleansed every thing would appear to man as it is, infinit“) und wird von Aldous Huxley in seinem Essay über die Wirkung von Drogen, „The Doors of Perception“ (Die Pforten der Wahrnehmung), zitiert. Der Lead-Sänger Jim Morrison hat aus dem Huxley-Titel den Namen seiner Band, „The Doors“, abgeleitet.

v.1 Broadway: Mit Broadway, Tokyo (v.3) und Favela (v.5) werden 3 Orte auf 3 verschiedenen Kontinenten genannt, vermutlich um die Universalität der Musik zu zeigen. Broadway lässt auch an das Benn-Gedicht „Der Broadway singt und tanzt“ denken, in dem Benn die moderne, betäubende (amerikanische Kultur) satirisch charakterisiert und ihr die traditionelle, denkerisch geprägte (europäische) Kultur ironisch entgegenstellt.

v.1 Vibrato: Ein Gitarreneffekt, der durch Verzerren des Gitarrensignals mit Hilfe von elektronischen Schaltungen entsteht. Weitere im Gedicht genannte verzerrende Effekte sind: Overdrive (v.3, 37), Flanger (v.5), Tremolo (v.14), Fuzz (v.16, 38), Chorus (v.23, 27, 31, 32), Sustain (v.36) und nochmals Vibrato (v.37). Vibrato bezeichnet die periodische Schwankung der Tonhöhe.

v.1 belecken die Zehen: Die Verbfolge belecken, wühlt (v.3) und putschts (v.5) stellt eine Steigerung dar: Vom Annähern über das Verletzen bis zur Herrschaftsübernahme. Dem entspricht die Folge der Körperteile Zehen, Fleisch (v.3) und Schläfen (v.5), also vom Fuß über den Rumpf zum Kopf.

v.2 Impulssprünge: Impulssprung ist ein Begriff aus der Elektrotechnik und der Signalverarbeitung. Aus technischer Sicht interessiert er hier vor allem, weil er in der Lautsprechertechnik Verwendung findet. Weiter Begriffe aus diesen Bereichen sind im Gedicht: Hochtonanteil (v.4), Signal-Interferenzen (v.6), Endstufe (v.7), Datenspur (v.8), Subwoofer (v.9), Gleichlaufschwankung (v.12) und Dynamikspitzen (v.18). Impulssprünge wiederaufgenommen in Neon-Impuls (v.21).

v.2 Neon-Gewittern: Gemeint sind Lichteffekte bei Rockkonzerten und in Diskotheken. Angespielt wird auch auf das Lied von Jim Morrison „Soul Kitchen“, in dem eine Zeile lautet: „Stumbling in the neon groves“. Soul kitchen

v.3 Tokyo-Overdrive: Zum Ort s. zu v.1 (Broadway). Zum Gitarreneffekt Overdrive s. zu v.1 (Vibrato).

v.3 yeah: Ausruf in der Beat-Musik, hier genutzt als Bejahung der ekstatische Steigerung (so auch in v.5 und v.32).

v.3 Sankt Turbo: ironische Sakralisierung der Geschwindigkeit und Technik. Ein bekannter Verzerrer (im engl. auch ‚Overdrive‘ genannt) für E-Gitarren ist ein Gerät namens DS-2 TURBO Distortion.

v.4 Hochtonanteil: Lautsprecher haben einen Hochtonanteil. (s.a. zu v.2); wiederaufgenommen in Underground-Hochton (v.25).

v.4 Metro-Motoren: eventuell Anspielung auf die technische Ausrüstung eines Rockkonzertes. Zugleich Hinweis auf die Metropolen (New York, Tokyo und Rio), den Sound der Großstädte, der auch und vor allem von den Automotoren bestimmt wird.

v.5 Favela-Flanger: Als ‚Favelas‘ werden die in den Randlagen großer Städte Brasiliens liegenden Armenviertel bezeichnet. Zum Gitarreneffekt Flanger s. zu v.1 (Vibrato).

v.5 promisk: das Adjektiv wird verwendet für „sexuell freizügig“, für die sexuellen Kontakte mit zwei oder mehreren Partnern. Daher folgt auch im Vers direkt das zweifache yeah yeah. Damit wird der Gitarreneffekt Flanger wieder aufgenommen, bei diesem wird ein Eingangssignal auf zwei Signalzweige aufgeteilt. Durch die Überlagerung mit dem unveränderten Originalsignal ergeben sich Interferenzen. Die Musik bekommt damit einen etwas synthetischen, „spacigen“ Klang. Die Aufteilung in zwei Signalzweige entspricht den zwei Schläfen.

v.5 Schläfen: In der deutsche Lyrik traditionell der Sitz Gottes (z.B. bei Hölderlin, Trakl, Benn oder Celan).

v.6 Wellblechbaracken: Unterkünfte der Favelas. Wiederaufgenommen in Blech-Überdosierung (v.29).

v.7 Endstufe: Die letzte, elektronisch aktive Stufe in der Signalverarbeitung, ein zu einem Gitarrenverstärker gehörendes Bauelement. Das Übersteuern (s.a. v.11 übersteuert) der Endstufe wird auch als Overdrive bezeichnet. Übertragen: die letzte Stufe der menschlichen Existenz im Diesseits, der Tod. Parallelisiert wird damit die Entwicklung eines Schmetterlings (larvenverzerrend (v.13), puppenzersprengend (v.17) und Schmetterlingsschrei (v.35)). Der Schmetterling gilt traditionell als Symbol für die Seele, die sich aus dem Körper (der Larve) befreit.

v.7 Leute: parodierende Nutzung einer in einer bestimmten Generation (Woodstock) genutzten Anredeform, wiederholt in v.9.

v.8 Datenspurausfahrt Nacht: Gemeint ist das Ende des Informationsstroms (in der Nacht, aber auch im Tod), assoziiert werden kann auch das Bild der Autobahnausfahrt (s.a. zu v.4), zu dem auch der Begriff des ‚Steuerns‘ (übersteuert v.11) passt. Angespielt wird auch auf das Lied von Jim Morrison „End of the Night“, in dem die Anfangszeile lautet: „Take the highway to the end oft he night“. End of the night

v.9 Infinity PS 8 Subwoofer: Lautsprecher der Firma Infinity. Mit zu hören ist das englische Wort für ‚Unendlichkeit‘, hier im Blake‘schen Sinne (vgl. das Blake-Zitat zum Titel) benutzt als ‚zur Transzendenz gehörig‘.

v.11 Feuern die Nacht: Lichterreklame in Großstädten. Gemeint ist natürlich auch das Aufblitzen der Transzendenz im Diesseits. Dazu gehört auch das ‚Neon-Gewitter‘ (v.2). Vgl. dazu auch zu v.15.

v.12 Gleichlaufschwankung der Antriebs-Hardware: Gleichlaufschwankungen sind Tonhöhenschwankungen > 5 Hz, die durch Drehzahlschwankungen bei einem Plattenspieler oder durch Unregelmäßigkeiten beim Bandtransport eines Tonbands entstehen können. Demgemäß ist unter Antriebs-Hardware der Plattenspieler oder ein Tonband zu verstehen.

v.13 larvenverzerrend: Mit ‚Larve‘ ist ein Vorstadium des Schmetterlings gemeint (s.a. puppenzersprengend (v.17) und Schmetterlingsschrei (v.35)). Musik wird hier als Mittel zur Wandlung verstanden: so wie sich aus der Larve und dann aus der Puppe der Schmetterling entwickelt, so befreit sich die Seele aus dem Körper (s.u. zu v.22) zum eigentlichen Dasein.

v.14 Koronar-Tremolo: ‚coronar‘: Adjektive bzw. Bestandteile einiger medizinischer Komposita, die sich auf die Herzkranzgefäße beziehen. Tremolo bezeichnet die periodische Schwankung der Lautstärke in der Musik. Der zusammengesetzte Begriff lässt an Herzkammerflimmern denken. Das Herz und der in v.18 genannte Atem sind hier als Zentren sowohl des organischen als auch (übertragen) des spirituellen Lebens gemeint.

v.15 come on light my fire: Zitat aus der 2.Single der Rockband “The Doors”; Titel des Songs ist „Light my fire“. Die erste Zeile des Refrains lautet vollständig “Come on baby, light my fire”. Der Refrain wird auch in v.19 genutzt: Die 3. Zeile des Refrains heißt „Try to set the night on fire“. Weitere Zitate im Gedicht sind in v.31 und v.32 zu finden. Im Song fordert der Sänger Jim Morrison eine Geliebte auf, ihn ‚in Flammen‘ zu versetzen, damit beide den Bereich des uneigentlichen Lebens (im Song „mire“ (Sumpf)) verlassen können. Das Gedicht übernimmt den appellativen Charakter des come on. Light my fire

v.16 Steilflankige: ‚Steilflankig‘ ist ein Begriff aus der Lautsprechertechnik ebenso wie Dynamikspitzen (v. 18).

v.17 puppenzersprengend: Eine Puppe bezeichnet in der Zoologie die meist in völliger Ruhestellung in einer Hülle befindliche Insektenlarve im letzten Entwicklungsstadium auf dem Weg zum geschlechtsreifen Vollinsekt.

v.18: s.o. zu v.16

v.19: s.o. zu v.15

v.20 Glatzkopf: hypertrophe Form des Mannes, sowie die Schwangere (v.24) die hypertrophe Form der Frau und der Kindersoldat (v.28) die absurde Form des Kindes zeigt. Diese 3 Figuren werden als Zuhörer (Chorus) angesprochen und zur Wandlung (Lass deine Zelle schmelzen v.22, v.26 und v.30) aufgefordert.

v.20 DJ: Mit der Nennung des Diskjockeys (DJ) wird deutlich, dass das Gedicht (zumindest jetzt) nicht ein Konzertauftritt der Doors beschreibt, sondern das Szenario eines heutigen Clubs darstellt.

v.21 Neon-Impuls: s.a. zu v.2. In der 5. Versgruppe (v.20-23) werden die ersten beiden Verse der 1. Versgruppe wiederaufgenommen. Ebenso werden in der 6. Versgruppe die v.3-4 der ersten Versgruppe wiederaufgenommen (Hochton, wühlt sich ins Fleisch / ins Ohr krallt) und in der 7. Versgruppe die v. 5-6 der ersten Versgruppe (Favela / Ghetto, Blech-Überdosierung / Wellblechbaracken, putschts / Blutrausch).

v.21 Ecstasy Kokain: Unter dem Einfluss von Drogen geht es um Bewusstseinserweiterung (wie z.B. auch bei A. Huxley, T. Leary und G. Benn), die die Grenzen des Körperlichen so weit überschreitet, dass ein Auflösung der materiellen Gebundenheit des Menschen gefühlt wird. Jim Morrison ließ sich von Experimenten mit Substanzen wie LSD, Amphetaminen und Meskalin zu einigen seiner Songtexte inspirieren.

v.22 lass deine Zelle schmelzen: Metapher für die gewünschte Entmaterialisierung (s.a. zu v.21), die Köperzelle soll schmelzen, um das Eigentliche, das Verborgene hervortreten zu lassen. (Hier wird indirekt W. Blake zitiert: „this I shall do, by … melting apparent surfaces away, and displaying the infinite which was hid.” Diese Zeile steht im Blake-Text direkt vor dem vom Autor genutzten Zitat.) Neben der Körperzelle ist natürlich auch die Gefängniszelle mitzuhören. Dieser Topos der im Körper gefangenen Seele ist bereits in der Gnosis zu finden. Die Aufforderung, die Zelle zu sprengen, wird in den v.26 und v.30 wiederholt. Angespielt wird auch auf das Lied von Jim Morrison „Unhappy Girl“, in dem eine Zeile lautet: „Melt your cell today“. Unhappy girl

v.23 Chorus: Verzerrer-Effekt für E-Gitarren. S.a. zu v.20.

v.24 Schwangere: Dies könnte eine Anspielung auf den Schwangerschaftsabbruch der Freundin Morrisons, Particia Kennely, sein.

v.29 Blutrausch im Auge: Hier die Gewaltdimension der Rockmusik kommentierend.

v.33 Elektronen-Azur: Azur steht hier als Farbe der Transzendenz (des Himmels). Auf der musikalischen Ebene wird damit die Möglichkeit, dass die elektronische Musik (Morrisons) zu einer Entgrenzung führen kann, angedeutet. Auf der physikalischen Ebene ist das Elektron mit der Zelle zu parallelisieren und stellt den Übergang des Materiellen zum Immateriellen dar.

v.33 Fade-out der Namen: Ein Fadeout (engl. für „ausblenden“) ist ein tontechnischer Begriff, der die abklingende Lautstärke am Ende eines Tonsignals beschreibt. Gemeint ist auch das Aufheben der Individualität (s.a.zu v.22).

v.35 Schmetterlingsschrei: Durch das Verpuppen und Schlüpfen aus dem anscheinend leblosen Kokon nach monatelanger äußerer Ruhe war der Schmetterling in der Antike das Sinnbild der Wiedergeburt und Unsterblichkeit und ist in der christlichen Kunst noch heute das Symbol der Auferstehung. Angespielt wird auch auf das Lied von Jim Morrison „When the Music’s over“, in dem eine Zeile lautet: „The scream of the butterfly“. When the music’s over

v.36 Break: Das Wort Break, ein Begriff aus der afroamerikanischen und internationalen Popularmusik, bezeichnet eine kurze Kadenz am Ende eines formalen Abschnitts, häufig am Ende der so genannten ‚Bridge‘. Angespielt wird auch auf das Lied, mit dem Jim Morrison seinen Durchbruch hatte: „Break on through“, in dem eine Zeile lautet: „Break on through to the other side“. Break on through

v.36 Regenbogen: biblische Bild für die Verbindung von Gott und Menschen, Jenseits und Diesseits. Das im Begriff Break enthaltene Wort ‚bridge‘ wird wiederaufgenommen (s. zu v.36).

v.36 Sustain: Unter dem Begriff Sustain (englisch für aufrechterhalten) versteht man die Länge des Ausklingvorgangs, mit der ein Ton ausklingt, nachdem er auf einem Klangerzeuger gespielt wurde.

v.36 und so: Wiederholung des Schlusses der 1.Versgruppe (v.6). Damit wird das Gedicht zunächst abgeschlossen, die folgende Versgruppe zeigt das Ziel des Gedichts, die Wahrnehmungserweiterung (vgl. dazu zum Titel).

v.37f; Wiederaufnahme der Gitarreneffekte aus v.1, v.3 und v.16.

v.39ff: In den letzten vier Verse des Gedichtes ist der Begriff ‚Vergessen‘ so angeordnet, dass sich das Bild einer Treppe ergibt. Wer diese hinabsteigt, gelangt ins sein. Dies ist die Quintessenz des Gedichtes: Über das Vergessen, die Auflösung der Individualität (lass deine Zelle schmelzen (v.22, 26 und 30 ebenfalls ein Dreischritt) und Fade-out der Namen (v.33)) gibt es die Möglichkeit, die wahre Existenz zu erreichen. Der Begriff ‚Sein‘ ist hier in zwei Bedeutungen gebraucht: in v.39 meint das reale Sein, v. 42 meint das absolute Sein. In der Antike ist ‚Vergessen‘ durch den Fluss Lethe symbolisiert, über den Charon die Toten in den Hades bringt. Ein ähnlicher Gedanke liegt dem Rilke-Sonett („Ein Gott vermags“, Sonette an Orpheus Nr. III) zugrunde, in dem ‚vergessen‘ in ähnlicher Funktion benutzt wird.

v.40 Soundblau: Synästhesie (rhetorische Figur: die Überlagerung zweier aus unterschiedlichen Sinnesquellen stammender Reize) Hier ist Sehen und Hören gekoppelt. Gleichzeitig auch die Überlagerung von Realtität (Musik) und Transzendenz (Farbe). S.a. zu v.33 Elektronen-Azur.

Aspekte der Form:

Zieht man die beiden letzten Versgruppen zusammen, so sieht man, dass das Gedicht achsensymmetrisch ist (6/5//4/4/4/4/4//5/2+4). Die komplexen inhaltlichen Bezüge der Versgruppen untereinander unterbrechen aber die formale Achsensymmetrie: Die 1. Versgruppe wird durch die Versgruppen 5, 6 und 7 wieder aufgenommen (s. zu v. 21 Neon-Impuls). Die Versgruppe 2 entspricht der Gruppe 10 (beide sind speziell auf den Titel bezogen: Während die 2. Versgruppe eine Möglichkeit zu ‚Ausfahrt‘ aus der Realität zeigt, gibt Versgruppe 10 das Ziel an. Mittel dazu ist das Reinigen der Wahrnehmung durch Auslöschen der Individualität).Durch das Schmetterlings-Bild werden die Versgruppen 3, 4 und 8 aneinander gebunden. Die Versgruppe 9 zitiert die Gruppen 1 und 4.

Das Gedicht hat kein regelmäßiges Reimschema. Neben Reimen, die aus Wortwiederholungen bestehen, stehen in den Versgruppen 6, 7 und 8 unreine Reime jeweils in den ersten beiden Versen (z. B. grient (v.20) und Kokain (v.21)). Ein einziger reiner Reim steht in den Versen 34 und 35 (bei und schrei), als Höhepunkt der Entwicklung von der Puppe zum Schmetterling (s. zu v. 35).

Die eingerückten und nichteingerückten Verse spiegeln in ihrer Dualität die komplexe Verbindung von Realität und Transzendenz wider. In diesem Zusammenhang fällt auch die außergewöhnliche Häufung der mit einem Bindestrich zusammengesetzten Begriffe auf. In dieser Dualität ist die Synthesis (symbolisiert durch die vom ‚Vergessen‘ gebildete Treppe (s. zu v.39ff)) verborgen.

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