Fliegen mit AATT

Überblickskommentar:
 
Das lyrische Ich tritt in der Rolle eines Gentechnikers auf, der einen zur Reise nach Afrika Aufbrechenden verabschiedet. Er stellt sich die zukünftigen Erfahrungen des Reisenden vor und beneidet ihn fast um die ‚Weite des Blickes’, weil er selbst als Techniker in ‚Isolation’ gefangen und durch einen ‚kyklopischen’ Blick gefesselt ist.
 
Das Gedicht könnte unter dem Motto stehen: ‚Christiane Nüsslein-Volhard (Ich) trifft Michael Grzimek (Du)’. Die beiden Personen stehen für zwei Arten der Naturbetrachtung: Natur im Film („Serengeti darf nicht sterben“ von Bernhard Grizmek) und analysierte Natur im Gen-Labor (mit der Nobelpreisträgerin und deren Untersuchungsobjekt Drosophila melanogaster). Beide sind sogenannte ‚objektive‘ Betrachtungsweisen, durchs Objektiv der Kamera und durchs Objektiv des Mikroskops. Der Blick auf die Natur wird durch die Augenbezüge verdeutlicht: Film (Panorama, Lichtspiel, Sichtplatz, sehen, bewegte Millionenbild, Sieh, Szene, flimmert), Fliegenauge (ANT-C, labiales Segment, Rasterauge), Labor (fensterlos, Nacht – Helligkeit, Inspektion, kyklopisch, Mikroskop). Damit wird die Natur in einen Verdinglichungszusammenhang gestellt, der eine auf der Subjekt-Ebene stattfindende Begegnung mit der Natur verhindert, dies führt zu dem bedrohlichen Schluss (v.28ff), in dem eine holistische Betrachtungsweise angedeutet wird.
 
Eventuell ist in einer weiteren Schicht des Gedichts mit den zwei Arten der Naturdarstellung auch die tragische Vater-Sohn-Konstellation der Produzenten des Films „Serengeti darf nicht sterben“ aufgenommen: Der Sohn Michael stirbt, weil sein Flugzeug mit einem Geier kollidiert (vgl. den dunklen Schluss v.28ff).

Fliegen mit AATT


 
Und denk an mich
wenn du früh auf der
grandiosen
Grasflur
am
Kilimandscharo
landest – im
Panorama-Lichtspiel

der
Schirmakazien
vor rosa Himmeln funkelnd das Ziel
voll Wunder die du besuchen willst am
Puls der Natur

5
während ich na du weißt schon
gegen
acht
tret ich dann
wieder in diesen stahlblanken Korridor Schiebetüren zu den Kammern
nach beiden Seiten fensterlos konstante 25-Grad-Beheizung
zwölf Stunden Nacht
klingeling zwölf Stunden Helligkeit
und zuerst kipp ich mal meine Flaschen aus d.h. ich werd winziges
10
Krabbelzeug
von den leckeren
Agar-Agar-Küchelchen
nehmen
und die
Inspektion
mit dem Buchstabieren beginnen
Adenin Adenin Thymin Thymin Cytosin

 
denk also an mich wenn du auf deinem
Gol-Kopje-Sichtplatz

die Elefanten zu sehen bekommst die Löwen mit ihrer Goldmähne
15das farbige Savannen-Programm samt Tüpfelhyäne
die in der Büffelbauchhöhle gierig Gekröse schmatzt
denn ich tja
sehr isoliert sehr steril
nur mit dem
Gal4/UAS-System

am ANT-C sprich
Antennapedia-Komplex
schalt ich
auch heut etwas herum wieder nur
labiales Segment
– drum also
 
20denk dann an mich wenn im
heißen Mittag
die Weite sich rührt
und der
Guide
(aufsteigt dir du fühlst es mit Jubelrufen
ein altes Glück) das bewegte Millionenbild vorführt:
Sieh deine
Serengeti
auch hier gibt es sie noch immer
wo Leib an Leib verschwimmend mit den Häuptern den Hufen
25
Gnuzug um Gnuzug
dir
fern über die Szene flimmert

 
ich aber
kyklopisch
durchs Mikroskop starrt sie mich an
Drosophila melanogaster
mit
erratischem
Rasterauge das spurend schon
vorn aus dem Fühler trat wie ein
Tagmond
auf böser Bahn
 
schwarz vor die Sonne
30
richtungslos
her und hin aber fahren frierend die Vögel
 

Stellenkommentar:

Titel: Der Leser denkt zunächst an einen Flug mit einer Airline AATT, erst beim zweiten Lesen wird er merken, dass eigentlich eine Fliegenart mit einer Genvariante AATT gemeint ist. Durch die Doppeldeutigkeit des Wortes Fliegen, das als Verb oder als Substantiv verstanden werden kann, werden die beiden Themen miteinander verschränkt. Außerdem könnte mit der Abkürzung AATT auch auf die 10th International Conference on Application of Advanced Technologies in Transportation (AATT 2008) angespielt werden.

v.1 und denk an mich: Dreifache Einleitung (leicht variiert v.13 und v.20) zum Thema Natur im Film (‚Serengeti darf nicht sterben‘ s.u. zu v.23).

v.1-4 grandiosen…rosa Himmeln…funkelnd…Wunder…Puls der Natur: klischeehafte Darstellung der Natur, eben einem Film entsprechend um ein breites Publikum für die Rettung der Natur zu gewinnen. Dazu passt auch Löwen mit ihrer Goldmähne (v.14) und das farbige Savannen-Programm (v.15).

v.2 Kilimandscharo: Der Kilimandscharo (Swahili »Berg des bösen Geistes«) ist mit 5.893 m über dem Meeresspiegel das höchste Bergmassiv Afrikas. Das Massiv im Nordosten von Tansania hat mit dem Kibo den höchsten Berg des afrikanischen Kontinents. Zwischen dem Kilimandscharo und dem Viktoriasee befindet sich in der Serengeti (v.23) der Serengeti-Nationalpark.

v.2 Panorama-Lichtspiel: häufig auch ein Name für ein Kino

v.3 Schirmakazien: Akaziengattung der Tropen und Subtropen. Schirmakazien weisen autonome Blattbewegungen auf, die in der Umgangssprache auch als Schlafbewegung bezeichnet werden. Die Fiederblätter klappen in ca. 12-stündigem, dem Tag- und Nachtrhythmus entsprechenden Abstand abends die einzelnen Fieder zusammen und öffnen diese morgens wieder (vgl. v.8).

v.4 Puls der Natur: Die Formulierung erinnert an den Titel einer Jugendlektüre des Autors: „Pulsschlag der Wildnis. Jagdgeschichten eines Großwildjägers“ (1952) von Hans Schomburgk.

v.5 während ich na du weißt schon: Das ich wird jeweils zu Beginn der Versgruppen, die das Labor als Thema haben, aufgerufen (v.5, v.9, v.17 und v.26).

v.5 acht: in den so genannten ‚Laborversen’ werden präzise Zahlenangaben gemacht (25-Grad, zwölf Stunden) im Gegensatz zu den so genannten ‚Film-Versen’, in denen mit früh und Mittag eine am Menschen orientierte Zeit erscheint.

v.8: Der regelmäßige Wechsel von Nacht und Helligkeit erinnert an das Öffnen und Schließen der Akazienblätter (vgl. v.3) und verschränkt damit die Ebenen Natur und Labor miteinander.

v.10 Krabbelzeug: Wie der Leser erst im Verlauf des Gedichtes (v.27) feststellt, sind damit Taufliegen (Drosophila melanogaster) gemeint (s. auch zu v.17, v.18).

v.10 Agar-Agar-Küchelchen: Agar ist ein ostasiatisches Geliermittel, das aus den Zellwänden einiger Algenarten hergestellt wird. In der Mikrobiologie werden damit Nährböden für Mikroorganismen verfestigt. Hier sind es die Nährböden für Fliegen. Das Krabbeln der Fliegen auf dem Nährboden hat seine Pendants im Fressen der Hyäne (v.15f) und im Gewimmel der Gnus (v.24f).

v.11 Inspektion: Analog zur Inspektion, bei der die Grzimeks den Tierbestand der Serengeti erfassten (s. zu v.25).

v.12 Adenin …: Genannt sind drei der vier in der DNA vorkommenden Basen: Adenin Thymin Cytosin. Die vierte, fehlende ist: Guanin. Die Reihenfolge der ersten Basen Adenin Adenin Thymin Thymin erscheint als Abkürzung (‚buchstabiert‘ v.11) im Titel: AATT.

v.13 Gol-Kopje-Sichtplatz: Gol-Kopjes (‚Köpfchen‘) sind in der sonst fast ebenen Serengeti herausragende, abgeschliffene Gneis- und Granitreste, Überbleibsel einer früheren Felslandschaft. Sie werden als Aussichtspunkte für Touristen genutzt.

v.16 sehr isoliert sehr steril: Isolation und Sterilität als Kennzeichen für die moderne Forschung, dies im Gegensatz zu einer holistischen Betrachtung der Natur.

v.17 Gal4/UAS-System: Das GAL4/UAS-System wird durch die Kreuzung von zwei Fliegenstämmen erzeugt. Mit seiner Hilfe können beliebige klonierte Gene gezielt in bestimmten Zellen oder Geweben exprimiert (i.e. ‚herausgemendelt‘) werden.

v.18 ANT-C sprich Antennapedia-Komplex: Gengruppe bei der Taufliege Drosophila melanogaster (v.27), über die die Ausbildung des Kopfes und der vorderen Brustsegmente der Fliege kontrolliert werden.

v.19 labiales Segment: der Antennapedia-Komplex (v.18) besteht aus 5 Genabschnitten, deren erster das ‚labiale Segment‘ genannt wird.

v.20 heißen Mittag: Gegensatz zu v.30 mit der Sonnenfinsternis und den frierenden Vögeln. Auch ironische Anspielung auf Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, in dessen vierten Teil („Mittags“) Zarathustra sagt „Heißer Mittag schläft auf den Fluren. Singe nicht! Still! Die Welt ist vollkommen.“

v.21 Guide: Auch hier wird die Natur nur vermittelt, mit einem Führer wahrgenommen. Verdeckt wird aber auch an den Psychopompos, den Seelengeleiter der Antike erinnert, der die Seelen zurück, in ein altes Glück führte (vgl. auch Platons Anamnesis-Lehre).

v.23 Serengeti: Flache Grassteppe im Norden Tansanias, in der sich der Serengeti-Nationalpark befindet. In Deutschland ist sie vor allem durch den Film ‚Serengeti darf nicht sterben‘ von Bernhard Grzimek und dessen Sohn Michael aus dem Jahr 1959 bekannt geworden. Michael Grzimek kam während der Dreharbeiten bei einem Flugzeugabsturz (!) ums Leben, als ein Geier gegen die Tragfläche seines Flugzeugs prallte (vgl. dazu evtl. v.28ff). Durch das Possessivpronomen deine ordnet der Redende die Serengeti dem Angeredeten zu und macht damit deutlich, dass er dessen Verhältnis zur Natur als subjektiv-besitzergreifend versteht.

v.25 Gnuzug um Gnuzug: Um sich ein genaues Bild über die Tierwanderungen zu machen, wurden Bernhard und Michael Grzimek 1957 von der Nationalparkverwaltung der Serengeti eingeladen. Die Grzimeks fanden durch ein neues Zählverfahren mit zwei Flugzeugen heraus, dass die Wanderungen der Gnu-Herden anders verliefen als angenommen. Mit atemberaubenden Kameraaufnahmen machten die Grzimeks auf die zunehmende Zerstörung eines der letzten afrikanischen Tierparadiese aufmerksam.

v.25 fern über die Szene flimmert: Eventuell ist nicht nur auf das Kino angespielt, sondern mit fern auch auf das Fernsehen.

v.26 ich aber …: Der hier begonnene Satz ist ein Anakoluth. Damit wird der Wechsel des Subjekt-Objekt-Bezuges syntaktisch umgesetzt, statt des Blickes des Forschers auf sein Objekt schaut das Objekt plötzlich ihn an.

v.26 kyklopisch: Zyklopen sind in der griechischen Mythologie einäugige Riesen. Hier steht kyklopisch für den Blick mit einem Auge durch das Mikroskop, aber auch für den einseitigen Blick auf die Natur.

v.27 Drosophila melanogaster: die „Schwarzbäuchige Taufliege“ ist einer der am besten untersuchten Organismen der Welt. Als geeigneten Versuchsorganismus nutzte sie 1901 zuerst der Zoologe und Vererbungsforscher William Ernest Castle. Er untersuchte an Drosophila-Stämmen die Wirkung von Inzucht über zahlreiche Generationen und die nach Kreuzung von Inzuchtlinien auftretenden Effekte. In den 1970er Jahren begann sich die dt. Biologin Christiane Nüsslein-Volhard mit den Entwicklungsgenen von Drosophila zu beschäftigen; sie untersuchte insbesondere, wie bestimmte Gensegmente (ANT-C s. v.18) die Organentwicklung beeinflussen. Hierfür erhielt sie 1995 den Nobelpreis.

v.27 erratischem: dt. ‚verirrt, zerstreut‘ steht hier nicht nur für das Auge, das durch die Genmanipulation auf dem Fliegenfühler wächst, sondern auch für den ‚verirrten‘ Blick auf die Natur.

V28ff Tagmond … Sonne: Durch den Vergleich des auf dem Fühler sitzenden Fliegenauges mit einem Mond vor der Sonne wird der Blick aus dem mikroskopischem Bereich plötzlich ins Kosmische ausgeweitet. Mit dem zugrunde liegendem Bild der Sonnenfinsternis (traditionell unheilverheißend) und den Vokabeln schwarz (v.29) und böser Bahn (v.28) wird die moderne Naturbetrachtung erstmals im Gedicht bewertet: und zwar als faszinierend bedrohlich. Formal endet mit v.28 das 2. Sonett (s.u. Aspekte der Form), aber analog zum ‚Aus-der-Bahn-Treten‘ des Experimentes mit der Natur sprengen die beiden hinzutretenden Verse (v.29f) das formale Gerüst.

v.30: Der syntaktische Wechsel zum Hauptsatz zeigt, dass die Ebene des Vergleich (wie ein Tagmond v.28) verlassen worden ist und das Geschehen auf eine neue Wirklichkeitsebene gehoben wird. Das Bild der in einer Sonnenfinsternis orientierungslosen Vögel steht für eine Gesellschaft ohne sinnstiftende Wärme, für die Moderne. Das Bild der Vögel rundet das Gedicht durch die Verbindung zum Titel (Fliegen).

Aspekte der Form:

5 Versgruppen (12/7/6/3/3) mit insgesamt 30 Versen. Davon 14 für das ‚Filmthema‘ (I,1-4 / II,1-4 / III,1-6) und 14 für das ‚Laborthema‘ (I,5-12 / II,5-7 / IV,1-3). Die letzte Versgruppe (2 Verse) gibt den Kommentar. Es ergeben sich also 2 Sonette mit einer Erweiterung des letzten um 2 Verse.

Jedes Thema ist formal gesondert charakterisiert:
Das Filmthema hat (gemäß der klischeehaften Betrachtung) den reinen Reim (I+II: a/b/b/a; III: a/b/a/c/b/c), in den beiden Terzetten gibt es im jeweils zweiten Vers noch den zusätzlichen Binnenreim (z.B. rührt / fühlst / führt).
Das Laborthema scheint reimlos und metrisch ungebundener zu sein. Allerdings könnten man die sequentielle Anordnung des Fliegengenoms (v.12) als Muster für die Verteilung der Vokale in den ‚Reimen‘ dienen: Das Vokalschema folgt dem Muster AATT in den Versen 5-8 (a/a/ei/ei) und in den Versen 9-12 dem Muster CGCC (i/e/i/i), im 1.Terzett (e/i/a) ist dieses Schema noch erkennbar (sodass man jeden Vokal mit einer Base des Genoms identifizieren könnte), gerät dann aber im 2.Terzett und der Erweiterung außer Kontrolle (ein zusätzlicher Vokal (o) tritt hinzu).

Der Kommentarschluss (Versgruppe 5) nutzt den hohen Ton: v.29 ist der Schlussvers der Sapphischen Strophe (-uu-u), v.30 ist ebenfalls im Freien Rhythmus des Hohen Stils. Die Verse erinnern an die Diktion Hölderlins.

v.3f : auffällige Häufung des u-Klanges ebenso wie in der Formulierung Gnuzug um Gnuzug (v.25)
v.6ff: In den Versen 6-10 fällt ein an den Stabreim erinnernde Häufung des Konsonanten K auf.
v.30: Die Häufung der F-Alliteration bindet den Schluss zurück an den Titel Fliegen mit AATT

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