Zwischenräume

Überblickskommentar:
 
Das Gedicht behandelt unterschiedliche Zwischenräume: Die Versgruppen 1 und 9 (VG 1, 9) beziehen sich auf Räume kollektiver Ekstasen in einer Menschenmasse. VG 2 und 3 besingen das Verhältnis zwischen zwei Liebenden. Mit den Räumen zwischen Göttern und Menschen beschäftigen sich die VG 4, 6-8, und den Übergangsraum zwischen Tod und Leben gestalten die Versgruppen 2 und 5. Diese Resonanzräume werden durch Technik gestört bzw. durch Übersetzung verdeckt.
 
 

ZWISCHENRÄUME

 
Nichts
nämlich wenn
unsereins

Hautnah mit anderen ob die
Nun
rudelgucken Fanmeile

Playground Arena Beach

5Nichts fehlt mehr wenn partygeil
Body an body sich aufmischt
Wie denn bereits
 
Pindar der fromme Festsänger

Als ihm die Seele sich ablöste
nicht

10Vertraute er da auf
Psychopompos

Allein nein auf die wärmende Menge
 
Und Knie an Knie auf den Liebling
Denn die Unsterblichen selbst
den Frommen

Nahten sie kaum mehr nach Menschenweise
15Einsprechend wie ehedem üblich
 
Sonder gen Osten verzogen
haben sie

Viel später erst wieder herbei sich
Gelassen zu
SPAZIOSPHÄRISCHEN

Lichtepiphanien zwischen den Schläfenlappen

 
20
Lass mich nicht allein
atmen

Auf der Matte Allraum lehr mich
Sein leuchte meinem
Atem
 
Vorbei nämlich Götternähe

25Seit unwillig der Wogengott einst
Die eichebeplankten fünfzig
Argo-Heroen erspähte
 
Und zog grollend zurück sich aus einem Leben
Mit Aussicht irgendwann künftig
30
Fünftausend CONTAINERLADUNGEN

Bugwund auf seinem Rücken zu schleppen
 
Zumal über Kreta gerade den
Howard Hughes

Präfigurierend
und andere DÜSENNOMADEN

Ein Flugapparat
dem Sandalen-

35Flügler die Botschaft verschlug
 
Wodurch heut noch ein
Lautloch
auf-
Träte vielleicht wenn unsereins nicht
Scott Travis

Der also aufs
Kit
eindrischt oder auch

Krass
Judas Priest
seine
Hard-Core-Performance

40Die laden die
Soundlöffel
mit
Underground

So voll laden die die dass man nicht andere
Message
noch braucht

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der philosophische Begriff ‚Zwischen‘ charakterisiert (z.B. bei Martin Buber) eine Ontologie, in der das Göttliche räumlich anwesend ist.
 
v.1 Nichts: Die Doppelung des Nichts (v.1 und v.5) verweist auf dessen Doppelcharakter, und zwar einmal als ‚absolutes Nichts‚ (das entspricht dem frz. néant oder auch der Hegelschen absoluten Negation) oder als relatives Nichts (das enspricht dem frz. rien oder auch der Hegelschen bestimmten Negation). In v.1 deutet die absolute Negation auf das Verschwinden des Absoluten (der Transzendenz) hin, während in v.5 mit der bestimmten Negation das Fehlen des Transzendenz-Bezugs (Nichts fehlt mehr) gemeint ist.
 
v.1 unsereins: Diese umgangssprachliche Formel weist hier darauf hin, dass jeder sowohl Individuum (eins) als auch Teil einer Gemeinschaft (unser) ist. Die Gemeinschaft ist für den modernen Menschen – wie das Folgende zeigt (v.2-7) – gleichzeitig Bedingung der Existenz und Verstellung der Transzendenz (so z.B. auch in v.46ff).
 
v.3 rudelgucken Fanmeile: Der Neologismus rudelgucken als Attribut zu Fanmeile evoziert das Erlebnis, bei dem das Individuum in der kollektiven Seele aufgeht: insbesonder beim Fußball-Gucken.
 
v.4ff Playground Arena Beach … partygeil / Body an Body sich aufmischt: Für den modernen Menschen sind Party, Droge und Sexualität gesteigerter Lebensgenuss, für das lyrische Ich hingegen Verstellung der Transzendenz.
 
v.8 Pindar der fromme Festsänger: Pindar (* 522; † nach 446 v. Chr.) war ein griechischer Dichter, der im Gefühl lebte, dass die von ihm verherrlichte und gefeierte Welt der alten aristokratischen Werte im unaufhaltsamen Untergang begriffen war. Gegenstand seiner Siegeslieder (Epinikia) ist das Lob des Siegers und dessen Familie, aber auch das Lob des Dichters und der Dichtkunst. Der kultischen und metaphysischen Dimension dieser Lyrik entsprechend nehmen Erzählungen über Götter und mythische Helden einen großen Raum ein.
 
v.9ff: Der Legende nach starb Pindar im Theater von Argos im Schoß des – von ihm in einem erotischen Lied besungenen – Theoxenos, seinem Liebling (v.12). Er vertraute sterbend (Als ihm die Seele sich ablöste (v.9)) auch auf die Gemeinschaft (wärmende Menge (v.11)).
 
v.10 Psychopompos: Der Botengottes Hermes geleitet als Psychopompos die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits, den Hades. Dass Pindar bei seinem Tod auch auf den Seelenführer – neben der Gemeinschaft (vgl. zu v. 8ff) – vertraut, zeigt, dass seine Verbundenheit mit der antiken Götterwelt und ihren aristokratischen Werten noch lebendig ist.
 
v.13ff: In Ovids Metamophosen wird das alte Ehepaar Philemon und Baucis zu Gastgebern der in Menschenweise erscheinenden Göttern Jupiter und Merkur (Zeus und Hermes), denn Philemon und Baucis sind noch für die Ansprache der Götter seelisch empfänglich (im Gegensatz zu den Gottlosen ihrer Stadt).
 
v.16 Sondern gen Osten verzogen: Die Vorstellung, dass sich die Transzendenz in Menschengestalt zeigt, wandert von den griechischen Göttern in östliche Religionen bis zur Verkörperung des Göttlichen in Christus.
 
v.18 SPAZIOSPHÄRISCHEN: Das italienische Spazio kann sowohl mit ‚Strecke‘, ‚Raum‘, ‚Weltraum‘ als auch mit ‚Zeit‘ übersetzt werden. sphärisch bezieht sich allgemein auf die ‚Fläche einer Kugel‘ und speziell auf die ‚Himmelskugel‘. Die Wortverbindung kann entweder auf die Herkunft der Lichtepiphanien aus der Transzendenz (dem ‚Weltraum‘, der ‚Himmelskugel‘) bezogen werden oder sie scheint den Sitz der Lichtepiphanien im kugelförmigen, zeitgebundenem Hirn zu bezeichnen.
 
v.19 Lichtepiphanien zwischen den Schläfenlappen: Der Temporallappen oder Schläfenlappen ist einer der vier Lappen des Großhirns. Er ist Sitz eines Sprachzentrums und enthält wichtige Strukturen für das Gedächtnis. Im rechten Schläfenlappen können Erlebnisse der Außerkörperlichkeit (mystischer oder religiöser Natur) und auch Lichtepiphanien bei Nahtod-Erfahrungen auftreten.
 
v.20ff: Das lyrische Ich betet, auf seinem Sterbebett (Auf der Matte) beim Übergang in die Transzendenz (Allraum, sein eigentliches Sein) nicht alleingelassen zu werden. Der Psychopompos (v.10) möge seiner Seele (Hauch, Atem) leuchten. Der eigentlich zu erwartende Reim auf Matte wäre ‚Schatten‘, seine Ersetzung durch Atem überblendet das antike Bild des Schattenreichs mit der christlichen Vorstellung des Eingehens in das Licht.
 
v.24ff: In der Antike endet das Goldene Zeitalter legendär mit dem Erschrecken des Wogengotts Poseidon beim Anblick der eichebeplankten fünfzig / Argo-Heroen. Das Goldene Zeitalter war durch Götternähe bestimmt, während im folgenden silbernen Zeitalter schon die Technik (die eichebeplankte Argo) eine Rolle spielt und die Götter beginnen, sich grollend zurückzuziehen.
 
v.30: Seit etwa 1988 (irgendwann künftig v.29) bezeichnet man als ‚Panamax‘ die Containerschiffe, die auch die maximale Länge von Panamakanal-Schleusen (294 Meter) nutzten. Sie konnten bis zu Fünftausend Container laden, heute sind bei den neueren Schiffen bis zu 24.000 Container (Bugwund auf seinem Rücken v.31) möglich.
 
v.32 Howard Hughes: Howard Hughes, Jr. (* 1905; † 1976 in einem Flugzeug über Texas) war ein US-amerikanischer Filmproduzent und Luftfahrtpionier.
 
v.33 Präfigurierend: In der Lehre vom vierfachen Schriftsinn, der ein Muster für die Textauslegung seit der Antike ist, bezeichnet der typologische Schriftsinn eine Vorläufer-Nachfolge-Beziehung (Präfigurierend) wie hier das Verhältnis des antiken Luftfahrtpioniers Dädalus zu Howard Hughes / … und andere(n) DÜSENNOMADEN.
 
v.34f: So wie Poseidon beim Anblick der Argo erschrickt, so verschlägt es hier dem Sandalen- / Flügler Hermes die Sprache (Botschaft), als er den Flugapparat des (nichtgenannten) Dädalus über Kreta (v.33) sieht. Auch hier ist es die Technik, die die Menschen den Göttern entfremdet.
 
v.36 Lautloch: metaphorisch für ‚Stille‘. Es klingt ‚lautlos‘ an. Die Stille symbolisiert das Ausbleiben der göttlichen Botschaft (s. v.34f).
 
v.37 Scott Travis: Schlagzeuger der britischen Heavy-Metal-Band Judas Priest (v.39)
 
v.38 Kit: englisch ‚Ausrüstung‘, hier Sammelbezeichnung für alle Elemente eines Schlagzeugs
 
v.39 Judas Priest: britische Heavy-Metal-Band, die seit den 1970er Jahren als eine der einflussreichsten Bands ihres Genres gilt. Mit der Benennung der Gruppe nach Judas wird auf den biblischen Judas Isakriot angespielt und damit nahe gelegt, dass Judas als Psychopompos Christus an Kreuz bringt bzw. der Unterwelt ausliefert.
 
v.39 Hard-Core-Performance: Neben der musikalischen Darbietung der Stilrichtung ‚Hardcore‘ kann Hard-Core-Performance auch die explizite Darstellung sexueller Aktivitäten meinen (vgl. dazu v.4ff).
 
v.40 Soundlöffel: i.e. die Ohren
 
v.40 Underground: Der Underground ist ein Begriff, der in vielen Sparten der Kunst den Teil einer Szene bezeichnet, der nicht auf die Masse ausgerichtet ist, unabhängig produziert und oft auch eine Gegenkultur darstellt. In der Musik wird unter anderem Hardcore und Heavy-Metal dazu gerechnet. Der Underground ist heute allerdings zur Massenkultur geworden: Ironisch betrachtet hat damit die Unterwelt die Oberwelt verdrängt, die Götter sind verschwunden.
 
v.42 Message: ‚Mitteilung‘, ‚Nachricht‘, aber auch ‚religiöse Botschaft‚ (vg. zu v.34f). Im weiteren Sinn kann Message auch ein (religiöser) Auftrag sein. So wie die Technik die Menschen den Göttern entfremdet, so dienen hier die englischen Begriffe (Message, Underground, Sound, Performance, Judas Priest, Kit) zur Verdeckung der religiösen/mythischen Bezüge (Messe, Unterwelt, Botschaft, Gottesdienst, Judas Iskariot).