Unstet

Überblickskommentar:
 
Das Gedicht durchbricht die Linearität der Zeit, indem es die normale Abfolge (Tag – Dämmerung – Nacht – Dämmerung – Tag) ändert zur UNSTETen Abfolge von Tag – Nacht – jedes Dämmer. Dabei symbolisiert der grelle Mittag die instrumentelle Vernunft, die Nacht (Groß träumend) die um die mythischen Bilder erweiterte Vernunft und jedes Dämmer die Möglichkeit die Differenz, den Zwiespalt zu überwinden.
 
 

UNSTET

 
Am grellen Mittag

Zufall
aus einjährigem
Grünkraut
Fühlbar
sein Schattenwurf der
5Zeigt Nord
 
Ohren − voll Sang von Sirenen

 
Groß träumend

Über dem Haupt des Drachen
Die
Eigenleuchtkraft

10Wie sie mit extraterrestrischem
Fuß triumphiert
 
Augen − von Hoffnung leer

 
Durch jedes Dämmer jedoch von

Prallhängen
bedrängt
15Nur Fluss …
und sucht

Für Farben und sterbende Sterne
Sucht ein Gedächtnis
 
Halade Mystai! Tränen

Die Tränen wollen ins Meer −
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel UNSTET weckt Zweifel am modernen Bewusstsein einer stetig fließenden Zeit.
 
v.1: Die blendende, grelle Helle des Mittags symbolisiert das Licht der Rationalität, das die Sicht auf die Transzendenz verstellt.
 
v.2f: Mit Grünkraut bezeichnet man die jungen (einjährigen) Sprößlinge aller Pflanzen. Um Chlorophyll bilden zu können richtet sich das Grünkraut strikt zur Sonne aus, nach Süden. Gegen den Bereich der rationalen Erkenntnis wird ein ontologisches Element, der Bereich des Lebendigen aufgerufen, in dem der Zufall die ‚unstete‘ Kraft der Entwicklung darstellt.
 
v.4f: Als Ergänzung zum Bereich der rationalen Erkenntnis tritt der Bereich des Fühlens hinzu, zum grellen Licht der wohltuende Schatten des lebendigen Grünkrauts.
 
v.6: Angespielt wird auf den XII. Gesang der Odyssee, in dem es Odysseus gelingt, dem tödlichen Gesang der Sirenen zu lauschen, ohne ihm zu verfallen. Dazu lässt er sich an den Mast seines Schiffes fesseln und verbietet seinen Gefährten, ihn loszubinden. Eine berühmte Interpretation dieser Szene bieten die Philosphen Horkheimer und Adorno in ihrer ‚Dialektik der Aufklärung‘: Die List des Odysseus (die instrumentelle Vernunft) überwindet die Sirenen (den Mythos). Dieser Sieg über den Mythos ist aber nicht nur positiv zu sehen, er wird mit der Einschränkung der Vernunft auf ihren instrumentellen Teil, die Rationalität, bezahlt. Diese Einschränkung der Vernunft scheint der Vers zu beklagen.
 
v.7ff: Benutzt wird in dieser Versgruppe das Sternbild Drache, über dessen Haupt das Sternbild des Herakles liegt, der in der griechischen Mythologie den Drachen tötet. Im Christentum wird die Schlange des Paradieses, über die Maria triumphiert, zum Drachen der Offenbarung, den der Erzengel Michael besiegt. Im Gegensatz zur ersten Versgruppe, deren Tageszeit der grelle Mittag ist, herrscht in der zweiten Versgruppe die Nacht, in der Sterne ihre Eigenleuchtkraft entfalten. Hiermit verknüpft ist das Gebet zu Maria ‚Ave maris stella‘, in der Maria als Orientierungsstern der Seeleute und als Gegenfigur zu Eva (‚Ave‘ als Umkehrung von Eva) fungiert. mit extraterrestrichem / Fuß steht Maria als Schlangenzertreterin auf der Mondsichel bzw. in andren Darstellungen auf der Erdkugel. Wiederum im Gegensatz zur eingeengten instrumentellen Vernunft der ersten Versgruppe wird hier der Bereich der Vernunft träumend mit leuchtkraft ins extraterrestrische (ins Transzendente) erweitert.
 
v.9: Eigenleuchtkraft ist ein Begriff der Astronomie, so hat die Sonne als Stern eine Eigenleuchtkraft von 3.83×1026 Watt. In der Physik gibt die Eigenleuchtkraft (Selbstlumineszenz) eines Farbtons an, wieviel Licht der Farbton emittiert.
 
v.12: Augen, die vom grellen Licht der Rationalität geblendet sind, trauern weinend über den Verlust der Transzendenz, so dass sie alle Hoffnung fahren lassen. Augen aber, denen im Traum (VG 2) die Wahrheit der Transzendenz einleuchtet, sind nicht mehr auf die Hoffnung angewiesen.
 
v.13ff: Während die erste Versgruppe mit dem grellen Tag die Transzendenzferne und die zweite Versgruppe mit der Nacht die Transzendenznähe thematisiert, zeigt die dritte Versgruppe mit jeder Dämmerung die Möglichkeit eines Übergangs. Das Bild des Flusses symbolisiert die Lebensenergie im Fluss der Zeit. Die Prallhänge versinnbildlichen die Widerstände der Realität.
 
v.14 Prallhängen: Die äußere Kurve eines Flussufers heißt Prallhang, weil das Wasser durch die Kurvenbewegung hier gegen das Ufer drängt, ‚prallt‘.
 
v.15ff: Die Energie sucht für das Lebendige (Farben, Grün- (v.3)) und für die schwindenden mythischen Bilder (sterbende Sterne, extraterrestrich (v.10)) ein Gedächtnis, d.h. einen Ausdruck im Gedicht.
 
v.18f: Im antiken Griechenland wurden in der Morgendämmerung des zweiten Tags der Eleusinischen Mysterien die Teilnehmer von den Priestern mit dem Ruf Halade Mystai! (‚Zum Meer, ihr Eingeweihten!‘) aufgefordert, die rituelle Reinigung im Meer zu vollziehen. Das Gedicht fordert mit dem mystischen Ruf auf, die Trauer über die Transzendenzferne (Tränen) zu überwinden und sich mit dem Meer, der Unendlichkeit zu vereinen.