Psychosoma

Überblickskommentar:
 
Der Titel Psychosoma evoziert ein Zusammenwirken von Körper und Seele, das im Gedicht in Bezug auf die historische Veränderung der Liebe in der Paarbeziehung untersucht wird: vom platonischen Kugelmenschen bis zur Klondoublette, von der Verkörperung des Weiblichen und des Männlichen in der indischen Mythologie bis zum Datingportal, zum Partnerschaftsmakler. Die ursprünglich dreifaltige Liebesauffassung (Transzendenz, das Männliche und das Weibliche) wird über die bürgerliche Dyade (Ehe) hin zur narzisstischen Klonbeziehung der Moderne auseinandergelegt.
 
 

PSYCHOSOMA

 
Auch
leugnen wir nein ja nicht
dass
wir

Oft zeitweilig depressiv ab-
Sacken
speziell paarweise
doch
manövriert

Man uns mit Kow-how irgendwann
5Erst durch die
Lustinstanzen
dann
Skinners

Response zuletzt aber als
Partnerschaftsmakler

Das
Evolutionslogbuch siehe

 
Ein portugiesisches Rumpfschiff

Als
Dhau
getakelt

10Mit
Nordmannruderwerk
hinten −

Modellhaft INNOVATIVE
 
Dreistufige MATERIALKONSTRUKTION

Zur
Christenconquista von Indien

Siegreich im
Orbis Terrarum
doch die
Gewalt

15Über
die oberen Zonen

 
Die haben durchs Dunkel reitend
Shaktis
und
lingamgestaltig

Des
Shiva
Gottflammenleib

Noch inne bis heute
 
20
Sternenfeuerpaar
das kein

Tag beendet bleib dem
Herzen wahr wenn der
Tag mich blendet ja einige
 
Elfenbeinküstler
die führen gar irreparable

25Beziehungsprobleme auf fortlebender
Ehegesponse
Nachgroll im Jenseits zurück

Die sie verstoßen haben
 
Wen hier aber zu zweit mehr als die nackte
KÖRPERFUNKTION plötzlich beglückt

30
Ereignisverlassen
nicht einmal das Zitat

Einer Metapher wagt der
 
Und
kratzt sophistisch

Am
goldilluminierten
Plato

Bis übrig vom Doppel-
35Leib nur noch die
Bockshaut
ist

 
Die
Phoenix
dann für uns abstaubt
Um Zeitgemäßheit zu erproben

Festkörperaffiner Phantompfau

Durchs kosmische Off
zu
Klon-

40Doubletten
zusammen uns zaubernd

Dreibeinig
mit Zuschauerhoffnung

Liebe zur Story und Medienglauben
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Begriff Psychosomatik stellt eine Zusammensetzung aus den altgriechischen Wörtern psyché (Atem, Hauch und Seele) und soma (Körper und Leib) dar. Die Psychosomatik vertritt ein ganzheitliches Menschenbild, das auch die zwischenmenschlichen und sozialen Aspekte umfasst.
 
v.1 leugnen wir nein ja nicht: Die syntaktische und semantische Konstruktion zeigt einen Zustand der Zerrissenheit, der sich nicht auflösen lässt.
 
v.1 wir … wir: Die Doppelung des wir weckt Zweifel an der Einheit, die das Personalpronomen repräsentiert. Diese schizoide Verfassheit spiegelt die sozio-kulturelle Befindlichkeit der modernen Menschen, die Oft zeitweilig depressiv ab- / Sacken.
 
v.3 speziell paarweise: Die ‚zeitweilige Depression‘ wird im besonderen auf die Paarbeziehungen bezogen.
 
v.3f manövriert / Man: Im Gegensatz zum wir bezeichnet Man eine anonyme Instanz, die Macht über das uns ausübt und uns mittels Know-how manipuliert. Das manöviert bereitet das in den folgenden Versen weiter ausgeführte Bild eines Schiffes vor (logbuch v.7, Rumpfschiff v.8ff)
 
v.5 Lustinstanzen: Das Instanzenmodell wird Anfang des 20.Jahrhunderts von Sigmund Freud entwickelt (Es, Ich und Überich). Die eigentliche Lustinstanz ist bei ihm nur das Es. Der Plural Lustinstanzen weckt Zweifel an seinem Modell der Psyche.
 
v.5f Skinners / Response: Das Skinner’sche Modell (entwickelt Mitte des 20.Jahrhunderts) mit Stimulus-Response entwirft ein mechanistisches Bild des modernen, manipulierbaren Menschen.
 
v.6 Partnerschaftsmakler: Die Manipulierbarkeit der Menschen tritt im ökonomischen Modell der Partnerschaftsbörsen und der Datingportale (entstanden Anfang des 21.Jahrhunderts) besonders deutlich hervor.
 
v.7 Evolutionslogbuch siehe: Die in zeitlicher Abfolge angeordenten drei Behandlungsmöglichkeiten für Partnerschaftsprobleme (v.5f) bilden eine ironischen Kommentar zur Evolution der Psychologie der Paarbeziehung. Durch das biblisch konnotierte siehe wird das im Gegensatz zur Schöpfungsgeschichte stehende Evolutionslogbuch aufgehoben. Das den Kurs eines Schiffes dokumentierende Logbuch wird häufig mit dem Lebensweg des Menschen parallelisiert.
 
v.8ff: Die Dreistufige Konstruktion des Schiffes knüpft an die dreistufige Psychologie der Paarbeziehung (v.7) an. Die portugisischen christlichen Seefahrer bauten ihre Karavellen (Rumpfschiff) mit einer Dhao-Takelung und einem Nordmannruderwerk zu größerer Beweglichkeit um, sodass das Christentum Siegreich nach Indien gebracht werden konnte.
 
v.9 Dhao: Dhau ist ein in allen Anliegerländern des Indischen Ozeans zu findender Segelschiffstyp. Die Besonderheiten einer Dhau sind die trapezförmigen Segel, mit denen im Gegensatz zu Rah-Besegelung hoch am Wind manovriert werden konnte. Das Dào stellt im Taoismus eine Art von transzendenter höchster Wirklichkeit und Wahrheit dar.
 
v.10 Nordmannruderwerk: Das auf den Schiffen der Wikinger (‚Nordmänner‚) verwendete Steuer (ruderwerk)
 
v.11f: Die Dreistufige MATERIALKONSTRUKTION ist nicht nur auf das Schiff zu beziehen (vgl. zu v.8ff), sondern auch auf ein Menschenbild (Körper, Geist und Seele) und möglichweise auch auf den dreieinigen christlichen Gott (Vater, Sohn und Heiliger Geist). Die Schiffssymbolik lässt sich auch auf die dreifaltige Liebesauffassung beziehen: der Schiffsrumpf als das weibliche Prinzip, das ruderwerk als das männliche Prinzip und die Segel als Pneuma, das transzendente Prinzip.
 
v.13 Christenconquista von Indien: Der Begriff ‚Conquista‘ (Eroberung) wird eigentlich auf die gewaltsame Inbesitznahme Mittel- und Südamerikas durch die christlichen Konquistadoren angewandt. In Indien beginnen die Portugiesen die Christianisierung Mitte das 16. Jahrhunderts.
 
v.14 Orbis Terrarum: Der Begriff setzt sich zusammen aus lat. orbis (‚Kreis‘) und dem Genitiv Plural von terra (‚Erde, Land, Erdboden‘) und meint in der römischen Antike die bewohnte Welt. Die christliche Kirche übernimmt den Herrschaftsanspruch des Römischen Reiches und versucht, in der ganzen Welt Siegreich zu sein.
 
v.14f die Gewalt / Über die oberen Zonen: Götter haben in allen Religionen insbesondere die Macht im Himmel (Über die oberen Zonen).
 
v.15f: die oberen Zonen werden hier nicht durch das Licht, die Helligkeit (die Rationalität/das Bewusstsein) repräsentiert, sondern durch das Dunkel der Nacht (die Irrationalität/das Unbewusste). Die Vielgestaltigkeit der mythologischen Archetypen wird hier durch die hinduistischen Gottheiten dargestellt (‚den Leib inne haben‘).
 
v.17 Shaktis: Shakti (wörtl. ‚Kraft‘, ‚Energie‘) steht im Hinduismus für die weibliche Urkraft des Universums – sie stellt eine aktive Energie dar. Diese Kraft wird in verschiedenen Gestalten dargestellt, u.a. auch als Parvati, die als Gattin dem Shiva zugeordnet ist.
 
v.17 lingamgestaltig: Die Wissenschaft assoziiert den Shiva-Lingam gewöhnlich mit der männlichen Schöpferkraft Shivas und interpretiert ihn als Symbol des Phallus.
 
v.18 Shiva: Shiva (wörtl. ‚Glückverheißender‘) ist einer der Hauptgötter des Hinduismus. Er gilt den Gläubigen als die wichtigste Manifestation des Höchsten. Er reitet oft auf dem Stier Nandi.
 
v.18 Gottflammenleib: Shiva wird traditionell mit einem Feuer in der rechten Hand oder im Feuer tanzend dargestellt. Das Feuer symbolisiert die Kraft der Zerstörung und Neuschöpfung. In der christlichen Mythologie erscheint Gott Moses im brennenden Dornbusch und verheißt ihm die Befreiung seines Volkes aus der Sklaverei.
 
v.20ff: Hier wird das weibliche und das männliche Prinzip (vorher verkörpert durch Shiva und Shakti) als Sternenfeuerpaar an den nächtlichen Himmel versetzt. Das lyrische Ich wünscht sich, dass die Liebe als kosmisches Macht die Rationalität des Tages überstrahlt und im eigenen Herzen überdauert.
 
v.24ff: Bei einem Stamm an der Elfenbeinküste, den Baule, gibt es die Vorstellung, dass im Jenseits jeweils Partner zu den Eheleuten existieren, die in das diesseitige Leben eingreifen können, sodass deren Nachgroll zu sexuellen Verwerfungen beziehungsweise zu irreparablen Beziehungsproblemen führen können. (Vgl. dazu z.B. ‚Von Geistern, Schiffen und Liebhabern: Jenseitswelten‘, Katalog zur Ausstellung im Völkerkundemuseum der Universität Zürich 2005).
 
v.26 Ehegesponse: Historische Bezeichnung für ‚Eheleute‘, abgeleitet von lat. sponsus, sponsa (Bräutigam, Braut)
 
v.28f nackte / KÖRPERFUNKTION plötzlich beglückt: sprachlich nüchterne Darstellung des emotional erruptiven Orgasmus, der zugleich ein die Zeitlichkeit aufhebendes Ereignis sein kann.
 
v.30 Ereignisverlassen: In der traditionellen Auffassung ist das Ereignis verbunden mit dem Eintritt der Transzendenz in das ansonsten rational verfasste Kontinuum. Der moderne Mensch hat diesen Ereignisraum verlassen.
 
v.30f nicht einmal das Zitat / Einer Metapher wagt: Die Möglichkeit, ein Ereignis sprachlich durch eine Metapher zu erfassen (wie z.B. im Kugelmensch-Mythos (vgl. zu v.33ff)) besteht für die den modernen Mensch nicht einmal mehr im Zitat.
 
v.32 kratzt sophistisch: Entgegen der ursprünglich zunächst positiven Bewertung der Sophisten ist das heutige Verständnis negativ geprägt: Es ist verbunden mit Wortklauberei, mit dem Gebrauch rhetorischer Figuren ohne Wahrheitswert und mit bewusst falscher Argumentation.
 
v.33 goldilluminierten: Als goldilluminiert werden im Mittelalter Drucke bezeichnet, die mit Gold unterlegt wurden. Das Gold stellte den Bezug zur Transzendenz dar. Hier wird das Adjektiv vom Druck auf den Autor übertragen, um dessen ‚erleuchtete‘ Philosophie zu charakterisieren. Das Gold lässt auch an die Sonne denken, die für Plato die höchste Idee darstellt. Das ’sophistische Kratzen‘ am goldenen Plato leitet eine Entwicklung ein, die in der Moderne vom Doppelmensch-Mythos nur noch die Bockshaut übrig lässt.
 
v.33ff: In Platons Symposion wird zur Begründung der Liebe der Mythos der Kugelmenschen erzählt, die soviel Macht hatten, dass Zeus die ursprüngliche Einheit in zwei Teile zerschlug. Von da an hat jeder Einzelne Sehnsucht nach dem jeweilig anderen Teil.
 
v.35 Bockshaut: Der Bock steht hier für seine sprichwörtliche Geilheit, die von der Liebe losgelöste Sexualität. Angespielt wird auf den Mythos des Wettkampfes zwischen Apoll und Marsyas, bei dem Marsyas unterliegt und zur Strafe dafür, das er Apoll herausgefordert hat, von diesem gehäutet wird.
 
v.36 Phoenix: Wie in den zwei vorhergehenden Mythen (Doppelmenschen, Marsyas) erfolgt auch hier die Dekonstruktion: Vom Mythos des sich verbrennenden und wieder auferstehenden Vogel Phönix hin zum Fernsehsender Phoenix.
 
v.36f abstaubt / Um Zeitgemäßheit zu erproben: Programm der Moderne ist die Umarbeitung und kommerzielle Nutzung der Mythen.
 
v.38 Festkörperaffiner Phantompfau: ironische Bezeichnung für den TV-Sender Phoenix. Der Ausdruck ‚affin‘ bezeichnet in philosophischer Fachliteratur u.a. die ‚Verknüpfbarkeit zweier Begriffe oder Vorstellungen‘. Festkörperaffin(er) ist der TV-Sender, weil seine Informationen sich affin zur materiellen Welt (Festkörper) verhalten können. Er ist eines der Medien, in denen sich der Narzissmus, die scheinhaften Eitelkeiten (Phantompfau) der Moderne spiegeln.
 
v.39 Durchs kosmische Off: Umschreibung der Fernsehübertragung über Satelitt. Die Formulierung weist zugleich darauf hin, dass der Kosmos nicht mehr der mythische Ort der Transzendenz ist, sondern ein Off, ein Weg-Sein, eine Leere bezeichnet.
 
v.39f Klon- / Doubletten: Das Wunschbild der narzisstischen Moderne ist nicht mehr der fehlenden Teil des platonischen Doppelmenschen, sondern der Klon als Doppelung des eigenen Ichs.
 
v.40 zusammen uns zaubernd: Die ursprüngliche ‚Zaubermacht der Liebe‘ wird hier ironisiert, dekonstruiert und in eine neue gentechnische Vison (Klon- / Doubletten) eingefügt.
 
v.41f: Überlagert wird hier der Mythos der Pythia, die in Delphi auf einem Dreibeinigen Schemel orakelte, mit einer Dekonstruktion der christlichen Botschaft (-hoffnung, Liebe und -glauben). Dieses ‚Evangelium‘ der Drei(b)einigkeit wird mit Begriffen der Textexegese auf das Fernsehen angewandt: Story (Text), Medien (Vermittlung) und Zuschauer (Rezipient).