Und Gleichgewicht

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Mit dem Bild der Würgefeige, unter der ihr Tragbaum abstirbt (Versgruppe 1) und dem Hohlraum, den sie dann umschließt (VG 2), wird die geistige Situation der Moderne symbolisiert: Die unter der Ratio verschwundene Transzendenz, die das Geistige überwältigende Materie. Die dritte Versgruppe und die Kursiva zeigen die Hoffnung des lyrischen Ich, einen erneuten Übergang zum Geist, zur Transzendenz finden zu können.
 
 

UND GLEICHGEWICHT

 
Die Haftfäden – wenn sie an ihren

Tragbäumen
nachlassen
Schmerzlich die Blüte

Über den
absterbenden

5Werken erblindet
 
Herbstbehang der nicht reicht –

 
Stets ist es
Wurzeldürre
Sind es die hohlen Kronen
Die eine Würgfeige
10Vergebens mit
epiphytischen

Schwellfüßen umschlingt
 
Quer in der Kehle Gier –

 
Aber
versprödendes Blut

Durchs
Schläfenfenster
erfühlts
15Den
Übergangsbogen
– der
Auf
Freiflächen
gestützt
Den
Salzbesatz aussüßt

 
Hängt mich kopfunter – vielleicht

Fällt die Schwere aus mir
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Gleichgewicht könnte den erwünschten Zustand zwischen Geist und Materie, bzw. Transzendenz und Immanenz angeben. Das Und scheint die Frage anzudeuten, ob es dem Gedicht gelingt, dieses Gleichgewicht herzustellen.
 
v.1ff: Die ersten beiden Versgruppen werden durch das Bild der Würgfeige (v.9) bestimmt. Eine Würgefeige ist eine ‚epiphytische‘ (v.10) Pflanze, deren Luftwurzeln wie Haftfäden wirken, mit denen die Pflanze sich im Boden ‚verhaftet‘. Auf der übertragenden Ebene lässt sich die Würgfeige als Ratio verstehen, die der Transzendenz (den Tragbäumen) die Luft nimmt.
 
v.2 Tragbäumen: Bäume, die die Aufsitzerpflanzen (Epiphyten) auf den Ästen ‚tragen‘, vergleichbar den Wirtsbäumen, auf denen Schmarotzerpflanzen (Ektoparasiten) wurzeln.
 
v.3: Die Blüte bezieht sich auf der konkreten Ebene auf die Blüte einer Würgefeige; auf der übertragenen, der poetologischen Ebene lässt sie sich als das Gedicht verstehen, das den Schmerz über den Transzendenzverlust ausdrückt.
 
v.4f absterbenden / Werken erblindet: Innerhalb des hier entfalteten Naturbildes weist der Begriff ‚Werke‘ daraufhin, dass ein Ebenenwechsel hin zur poetologischen Interpretation stattfindet: Für das lyrische Ich sind Werke mit ’nachlassendem‘ (v.2) Transzendenzbezug absterbend und erblindet.
 
v.6: Herbstbehang kann auf der konkreten Ebene verstanden werden als das Übriggebliebene (Blätter, Blüten, Früchte) aus der Frühlings- und Sommerzeit. Die Würgefeige mit ihren Luftwurzeln wirkt wie ein Behang, ähnlich einem Vorhang. Auf der übertragenen Ebene wird die Vorstellung einer zyklischen mit der Transzendenz verbundenen Zeit als nicht ausreichend (der nicht reicht) beschrieben.
 
v.7ff: Fortgesetzt wird mit Wurzeldürre und den hohlen Kronen das Bild der Würgefeige, die ihren Tragbaum erfolgreich vernichtet, indem sie ihn umschlingt. Auf der übertragenen Ebene ist dies allerdings Vergebens, weil sie damit ihren Bezug zur Tranzendenz abwürgt.
 
v.10 epiphytischen: ‚aufsitzenden‘. s. zu v.2 Tragbäumen
 
v.12: Die Kehle verweist wiederum auf die poetologische Ebene, im traditionellen Verständnis ist der Dichter ein Sänger. Dieses traditionelle Bild wird hier ‚durchquert‘, weil auch das lyrische Ich unter der Gier nach Materiellem (v.19 Schwere) leidet. Das Bild der quer in der Kehle steckenden Gräte ruft andererseits über die Verbindung mit dem Fisch die Figur des Christus auf und damit das Verlangen (Gier) nach Transzendenz.
 
v.13ff: Während die ersten beiden Versgruppen das Bild der Würgfeige evozieren, entwirft die dritte Versgruppe das Bild des zur Transzendenz strebenden Poeten, der sich noch in der imitatio christi fühlt.
 
v.13 versprödendes Blut: Das für die Menschheit vergossene Blut Christi ist, da die christliche Tradition ‚austrocknet‘, versprödet. Der Begriff ‚versprödend‘ versinnbildlicht, dass das ehemals mit der Transzendenz verbundene, fließende Blut in der Moderne stockt. Da die Tradition nicht ganz erloschen ist, scheint es möglich, dass der Dichter als Vates (Seher) noch die Verbindung ‚erfühlt‘.
 
v.14 Schläfenfenster: In der Evolutionsbiologie ist das Schläfenfenster eine seitliche Öffnung im Schädeldach von Tetrapoden (Vierfüßern). Traditionell wird die Schläfe als Fenster zur Transzendenz, zum Göttlichen gesehen.
 
v.15 Übergangsbogen: Der Übergangsbogen ist als Brücke zwischen zwei Bereichen, hier der Immanenz und der Transzendenz, zu deuten. Auf der poetologischen Ebene ist das Gedicht der Übergangsbogen.
 
v.16 Freiflächen: Freifläche ist zunächst poetologisch das leere, unbeschriebene Blatt, auf dem das Gedicht niedergeschrieben wird. Auf der übertragenen Ebene sind es Flächen, die von dem, was die Wahrnehmung der Transzendenz behindern könnte, befreit sind.
 
v.17 Salzbesatz aussüßt: Aussüßung ist ein Fachbegriff aus der Hydrologie. Dabei handelt es sich um das sukzessive Entsalzen von Gewässern oder Böden. Durch das Gedicht soll das Gleichgewicht zwischen der Immanenz (Salzbesatz) und der Transzendenz (‚Süße‘) wieder hergestellt werden.
 
v.18f: Das lyrische Ich wünscht sich, von der Schwere, der Materie befreit zu werden. Es bittet darum, in der imitatio christi und in der Nachfolge des Apostels Petrus – wie dieser – kopfunter gekreuzigt zu werden.