Theorem

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Gezeigt wird die kathartische und/oder katastrophale Wirkung eines singulären Ereignisses auf Personen in einer bürgerlichen Welt. Dieser Wendepunkt (Peripetie) wird mit Beispielen aus der Physik, der Religion, der Biologie und der Mythologie belegt.
 
 

THEOREM

 
Und das obwohl doch
gewöhnlich
Ist
eine Gerda dazu
auch ein Maxilein da

Samt Eigenheim mit der erhöhten
Hemmschwelle
sodass aber
es gibt sie ja
5
Die Versuchung
die uns blitzplötzlich

Direkter Blick Herzüberschlag
Dem also zu folgen wenn nötig
 
Bis Thoms
KATASTROPHENFALTE
auf der

Sogar der Aufrührer
schwankt

10Der Brecher indeterminiert stürzt
Und kippeln die Polymere
 
Eigendynamische Chaosfasern

Schöpfungsfrüh eingeschwärzt

Kreuzquer in die
Ordnung

15Kosmischer Harmonie sodass der
 
Einsiedler als reines Verneinungswunder

Die tiefste Verantwortung

Die übernimmt er in bleichem Verzicht
Ausgleichend das Energiefeld und der
 
20
Leere

Still geweiht ordne er mir lichte
Fülle Kraft und Gnade Heil und Zeit
Erdenleid und Götterwillen
denn der

 
Gab Vögeln
weiß man zum Innenohr

25Gab er im Beckenbereich jenes zweite
Organ für das GLEICHGEWICHT
herrlich

Um Schönheit des Flugbilds besorgt
 
Und selbst die Materie
in ihrem vergeblichen

Urstreit mit Gegenmaterie
30Einmünden sie beide in STABILITÄT
Unvernichtbaren Lichts

 
Wie die Trojaner
die rossegewandten

Und erzumschienten Achäer
Welche die göttliche Tyndaride klagend
35Stillstellte in ihrem Doppelmantel
 
Aus haltbarer
Leinwand
wo kopfschüttelnd
Auch wir noch bestaunen dort unserer Tage
Helden
die
zelluloidbürtigen

Paolos
die der Natur einmal zu ihrer Qual
40Grad in den Abgrund geblickt und überdrüssig
Wegschenken sie ihre Fabrik und wanken
Nackt in die Wüste
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Ein Theorem (von gr. theṓrēma ‚Angeschautes, Untersuchung, Lehrsatz) kann sowohl ein logisch abgeleitete Satz als auch ein physikalisches Gesetz sein. In Pasolinis Film ‚Teorema – Geometrie der Liebe‘ ist es Ankunft und Abschied eines Gastes, wodurch das Leben aller fünf Mitglieder eines Haushaltes geändert wird. Alle fünf Personen verlieben sich in ihn und entdecken nach dessen Abschied ihre existentielle Leere. Mit Ankunft und Abschied des Gastes kann die Menschwerdung und der Kreuzestod Christi parallelisiert werden.
 
v.1 Und das obwohl doch: Die Konjunktion Und verknüpft zwei Dinge gleichwertig miteinander, wohingegen obwohl einen nicht hinreichenden Gegengrund aufführt. Als Gegengrund ist hier das ‚Gewöhnliche‘ zu verstehen gegen das Theorem, das Ergeignis (vgl. dazu v.5f).
 
v.2f eine Gerda dazu auch ein Maxilein da / Samt Eigenheim: Die unbestimmten Artikel eine, ein weist darauf in, dass es sich hier um zufällig gewählte Namen für den Ottonormalverbraucher Samt ‚gewöhnlichem‘ Eigenheim handelt.
 
v.3f mit der erhöhten / Hemmschwelle: Hemmschwelle meint, dass ein Mensch erst nach intensiver Motivation bereit ist, eine bestimmte Aktion auszuführen, wenn diese gegen erlernte oder ererbte Verhaltensweisen verstößt. Die Schwelle als Eingang ins Eigenheim könnte hier für die sexuelle Verklemmung der Bürger stehen. Zugleich könnte die erhöhte(n) Hemmschwelle auf die Transzendenzverweigerung des modernen Menschen hinweisen.
 
v.4f sodass aber: das konsekutive sodass gibt normalerweise die logische Folgerung aus einem vorhergehenden Gedanken. Hier fehlt diese Folgerung (z.B. der Fortgang des gewöhnlichen Lebens, der erlernten oder ererbten Verhaltensweisen), sie wird durch einen Gegensatz (aber es gibt sie ja / Die Versuchung) gebrochen.
 
v.5f: Die das normale Leben unterbrechende Versuchung, das Ereignis, ist hier die Liebe, die blitzplötzlich durch ‚direkten Blickkontakt‘ zum Herzüberschlag führt. Möglicherweise ist das Ereignis als Eintritt der Transzendenz in das gewöhnliche Leben zu verstehen.
 
v.8 KATASTROPHENFALTE: Der Mathematiker René Thom (1923-2003) benutzte eine Art topologischer Faltung, um die nichtlinearen Änderungen zu beschreiben, bei denen Systeme abrupt und unstetig von einem Zustand in einen anderen übergehen (z.B. dass Platzen eines Luftballons, wenn er aufgeblasen wird und in einem unbestimmten Moment platzt).
 
v.9ff: Hier werden drei Beispiele für eine Katastrophenfalte angeführt: 1) psychisch – die plötzliche Verhaltensänderung eines Anführers bei einem Aufruhr; 2) physisch – das Brechen einer linearen Welle auf dem Höhepunkt des Wellenkamms zu einem indeterminierten Sturz; 3) chemisch – die Wechsel von Polymeren zwischen leitend und nichtleitend. Gemeint könnten auch Biopolymere sein, z.B. die DNA, die aus gefalteten bzw. gedrehten Elementen besteht.
 
v.12f Eigendynamische Chaosfasern / Schöpfungsfrüh: Zu Beginn der ‚Schöpfung‘ können aus Chaosfasern durch Eigendynamik komplexere Systeme wie z.B. die DNA entstehen. Mit dem Begriff der Schöpfung wird das Feld des Physikalischen (Polymere, fasern) durch religiöse Konzepte erweitert, so verweist Chaos (hebr. tohu wa-bohu Gen. 1,1) z.B. auf den Beginn der Schöpfung.
 
v.13 Schöpfungsfrüh eingeschwärzt: Die Kosmische Harmonie (v.15) der biblischen Schöpfungsgeschichte wird gleich nach der Entstehung durch den Sündenfall eingeschwärzt. Der Tod als Folge des Sündenfalls wird mit der Farbe Schwarz verbunden.
 
v.14f: Zwei Ereignisse ändern die Ordnung / Kosmischer Harmonie: Der Sündenfall (vgl. zu v.13) und Menschwerdung und Opfertod Christi. Beides fährt Kreuzquer in die Ordnung.
 
v.16: Derjenige, der in der Einsamkeit die Welt verneint, kann das mystische Wunder der Offenbarung der Transzendenz erleben. Der Neologismus Verneinungswunder ist paradox: Die Öffnung ins Wunderbare widerspricht dem Nihilismus der Verneinung.
 
v.17ff: Das Energiefeld des mit Leiden verbundenen Lebens kann durch den bleichen Verzicht ausgeglichen werden. Der Einsiedler übernimmt – wie im Christentum und im Buddhismus – die tiefste Verantwortung für das Heil (v.22) der Schöpfung.
 
v.20ff: Das lyrische Ich bittet den Einsiedler (das Personalpronomen v.21 (er) bezieht sich auf diesen), dass er sich der Leere weihen möge (wie die Mystiker und Buddhisten), und dadurch für den Leser Ordnung im gesamten Kosmos schaffe. Er steht damit in der imitatio Christi. Um die Ganzheit des Kosmos zu zeigen, wird eine dichotomische, antagonistische Struktur aufgebaut: Göttliches (Gnade, Heil, Götterwillen) gegen Irdisches (Kraft, Zeit, Erdenleid).
 
v.23 denn der: Gemeint ist der Götterwille(n) und damit der Schöpfergott.
 
v.24ff: Vögel haben zwei Gleichgewichtsorgane (im Innenohr und im Beckenbereich), um nicht nur das Gehen und Stehen zu kontrollieren, sondern auch das Fliegen.
 
v.26f herrlich / Um Schönheit des Flugbilds besorgt: In herrlich klingt der ‚Herr der Schöpfung‘ mit an. Dieser Preis der Schönheit erinnert an Platons Symposion, in dem Diotima die Schönheit verherrlicht und Sokrates in dieser das Tor zur Wahrheit sieht.
 
v.28f: Gemäß der heutigen physikalischen Anschauung waren Materie und Antimaterie (Gegenmaterie) Antagonisten. Auf Grund einer Symmetriebrechung überwiegt heute aber die Materie im Kosmos.
 
v.31: Das Licht besteht aus Photonen. Photonen haben eine unendliche natürliche Lebensdauer (sie haben STABILITÄT), das heißt, sie unterliegen keinem spontanen Zerfall wie alle anderen Elementarteilchen. Auch hier zeigt sich wieder eine dualistische Struktur: Photonen zeigen sich je nach Experiment als Teilchen oder als Welle.
 
v.32ff: Zunächst wird mit den Trojanern und den Achäern ein weiteres Paar von Antagonisten (vgl. v.28f) aufgerufen, deren Kämpfe Helena, die göttliche Tyndaride, in ihr Doppelgewand einwebt (Ilias, 3, 125f). Der Doppelmantel weist auf Maria als Schutzmantel-Madonna hin. Damit vertritt hier Helena in einer Person zwei weibliche Antagonistinnen: als die Verführerin Eva und als Schutz-und-Schild Maria.
 
v.36 Leinwand: Nicht nur ein Hinweis auf den Stoff des Doppelmantel(s), sondern eine Vorwegnahme der Film-Leinwand.
 
v.37f unserer Tage / Helden: Die antiken Helden (wie z.B. die der Trojaner und der Achäer) werden durch einen ‚Filmhelden‘ ersetzt.
 
v.38 zelluloidbürtigen: auf Zelluloid, dem Filmmaterial, festgehalten, sozusagen ‚gebürtig‘ aus Zelluloid.
 
v.39ff: Der Fabrikant Paolo aus Pasolinis Film ‚Teorema‘ ändert sein bürgerliches Leben, indem er nach dem Abschied des Gastes die Fabrik seinen Arbeitern schenkt und Nackt in die Wüste wankt. Mit der sozialen Geste übernimmt er wie der Einsiedler (v.21) Verantwortung und scheint sein Leben der religiösen Askese weihen zu wollen.