Zumindest dreidimensional

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Mit den den Versgruppen zu Grunde liegenden Figuren (Brustkorb als Kosmos, Wolkenkratzer als Kathedrale, Kettenkarussell als Kreis) werden drei Dimensionen aufgerufen: die Tiefe, die Vertikale und der Kreis. Der Titel deutet an, dass es eine vierte Dimension gibt, zu der die drei anderen streben. Die Kursiva zeugen von der Sehnsucht des lyrischen Ichs, diese Dimension schauen zu dürfen.
 
 

ZUMINDEST DREIDIMENSIONAL

 
Stoffwechsel
er ließe
ja langsam
Herunter sich regeln bis schließlich
Der Brustkorb
der Kosmos
Ganz ununterscheidbar
Atem-

5Höhle sich entmaterialisiert
 
Ein Aug Sehnsucht nach Licht −

 
Aufsteigen
selbst mit Skeletten
Aus Stahl will noch Beton will sogar
Glas
zelebriert
− Stock für Stock − den erdienten
10Triumph über die Schwere
Unter Gesetzen des Materials

 
Ein Aug der Zeugung trauend −

 
Unter dem
kreisrunden Azur
aber
Zentral ein Hebel
der wenn ihn endlich
15Die Hand frei gibt − wie
Wetter

Hui! fährts da hinein in die Ketten und
Aufblitzt das
Kindergesicht

 
So von der Brücke lasst mich

Im Strom den Adlerflug schauen!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Das Zumindest zeigt, dass auch in den Naturwissenschaften inzwischen das Bewusstsein für Zumindest eine vierte Dimension vorhanden ist.
 
v.1 Stoffwechsel: Als Stoffwechsel bezeichnet man alle chemischen Umwandlungen von Stoffen im Körper von Lebewesen. Er ist für das Leben in Materie notwendig. Möglicherweise ist auch der Austausch zwischen Geist und Materie angesprochen.
 
v.1f er ließe … / … bis schließlich: Die Aufnahme von Stoffen (hier insbesondere von Sauerstoff) lässt sich soweit reduzieren, dass schließlich mit dem Tod ein Aufgehen in den Kosmos erfolgen kann.
 
v.3ff Der Brustkorb der Kosmos / Ganz ununterscheidbar Atem- / Höhle: Angespielt wird auf Rilkes 1. Sonett des zweiten Teil der ‚Sonette an Orpheus‘: ‚Atmen, du unsichtbares Gedicht! / Immerfort um das eigne / Sein rein eingetauschter Weltraum.‘ Während aber bei Rilke das Atmen, das Gedicht, dem Austausch mit der Transzendenz dient, scheint hier das Herunterregeln des Atems den Eingang in die Transzendenz (entmaterialisiert v.5) zu öffnen.
 
v.4f Atem- / Höhle … / … Licht: Platons Höhlengleichnis symbolisiert den Aufstieg aus einer Höhle zum Licht; der Aufstieg ist vergleichbar mit der ‚Entmaterialisierung‘ der Atem- / Höhle und der Sehnsucht des lyrischen Ich nach dem Licht, der Transzendenz, der Idee.
 
v.6: Während in diesem Vers Ein Aug des lyrischen Ich auf die Transzendenz (Licht) gerichtet ist, ist im Vers 12 das andere Auge auf den Beginn der Immanenz (die Zeugung, bzw die Schöpfung) gerichtet.
 
v.7ff: Diese Versgruppe feiert den Triumph der Idee über die Schwere … des Materials. Der Wolkenkratzer (mit seiner Stahlskelettbauweise) ist die säkularisierte Kathedrale mit ihrem Strebewerk (der Steinskelettbauweise). Vergleichbar dem Aufbau der Wolkenkratzer aus Stock für Stock -Werken ist die Kathedrale gegliedert in Arkadengeschoss, Triforium und Obergaden. Die Formulierung Aufsteigen selbst mit Skeletten suggeriert das Bild der Auferstehung, des Triumphes des ewigen Lebens über den Tod und schließt damit an die vorhergehenden Verse an.
 
v.9: Mit den Vokabeln zelebriert und erdienten wird auf die religiöse Tradition des Gottesdienstes als Transformationsfeier hingwiesen.
 
v.11 Unter Gesetzen des Materials: All unsere Erfahrungen und die Gesetze der klassischen Physik bewegen sich im dreidimensionalen Raum, während die Quantenphysik die Tür zu mehrdimensionalen Räumen öffnet.
 
v.12: Auch die Zeugung kann im christlichen Sinne als ein Akt der Schöpfung verstanden werden, dem das lyirsche Ich vertraut.
 
v.13ff: Der Versgruppe zu Grunde liegt das Bild des Kettenkarussels Unter dem kreisrunden Azur als Dach und in dem Aufblitzt das Kindergesicht. Vergleichbar ist das Rilke-Gedicht „Das Karussell“, das ebenfalls mit dem Karusselldach beginnt und mit dem ‚blinden Spiel‘ der Realität und einem Kinderlächeln endet. Wie im Rilke-Gedicht wird auch im hier die Realität durch die Dimension des Tranzendenten überhöht.
 
v.13 kreisrunden Azur: Angespielt wird auf den Himmel mit der Farbe des Azur (himmelblau), die auch die Farbe der Geistes ist. Der Kreis ist ein Symbol der Vollkommenheit.
 
v.14f: Mit dem Hebel wird das Diktum des Archimedes aufgerufen: ‚Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich werde die Welt aus den Angeln heben.‘ Der Hebel symbolisiert gleichzeitig den Schreibstift, den der Dichter mit der Hand an einem Zentralen Punkt ansetzt, um mit seinem Gedicht die endliche Welt frei zu geben (von den Ketten zu befreien).
 
v.15ff: Die Wetterphänomene (Wetter, Sturm (Hui!) und Blitz (Aufblitzt)) stehen für die Offenbarung des Transzendenten im Gedicht, wie z.B. auch in Hölderlins ‚An die Natur‘: ‚Wenn der Sturm mit seinen Wetterwogen / Mir vorüber durch die Berge fuhr / und des Himmels Flammen mich umflogen, / Da erschienst Du, Seele der Natur!‘ v.29-32).
 
v.17 Kindergesicht: So wie das Gedicht als Zeugung im Geistigen aufgefasst werden kann (vgl. zu v. 12), so kann die Verkündigung an Maria als ‚Aufblitzen‘ des künftigen heiligen Kindes verstanden werden.
 
v.18f: In den Abschlussversen bittet das lyrische Ich darum, dass es im Gedicht (der Brücke zwischen dem Hier und der Transzendenz) das Göttliche (den Adlerflug) Im Strom der Zeit schauen dürfe. Diese Verse erinnern auch an das Hölderlin-Gedicht ‚Heidelberg‘, in dessen zweiter Strophe die drei Motive (Strom, Brücke und Vogel) ebenfalls benutzt werden.