Versuch

Überblickskommentar:
 
Die erste Versgruppe (VG) verbildlicht die Enstehung der Materie aus dem Urknall, während die zweite VG den Übergang vom Wasser auf das Land, von den Pflanzen zu den Tieren in den Fokus nimmt. VG drei zeigt die menschengemachte Leere der modernen Städte, endet aber mit einem ‚Hoffnungsstrahl‘. Die Kursiva thematisieren mit Pneuma und Schreibgerät die Poetologie des Gedichtes.
 
 

VERSUCH

 
Kalk
figurationen
und
Akkumulierte
Gesteinsknollen

Gegen das –
inkommensurable

Nichts blindlings ein
5
Eigengewicht
balancierend
 
Wind immer unsichtbar –

 
Und
sanftere Unruhen

Der
Seerosenzonen

Gestreift von Gedächtnis

10
Wo bang
ein amphibischer
Schmerz stirbt
 
Röhricht rauschend im Ohr –

 
Aber die
Steilwandabfolgen

Der
zahlfabrizierten
City die
15
Leeren Raum
öffnen sie mit
Genormten Blöcken … in den
Gefiltert ein
Teilstrahl
fällt
 
Rohr schnitt ich ab um Rohr

Es auf den Himmel zu richten
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Das Gedicht versucht, den evolutionären Prozess vom Urknall bis zur Gegenwart darzustellen. Es ist aber ebenso ein Versuch, die diesem Prozess inneliegende Transzendenz zu erreichen.
 
v.1ff: Die erste Versgruppe stellt eine blindlings evolutonär wirkende Kraft dar, die die Balance zwischen dem Organischen und dem Anorganischen herstellt (Eigengewicht balancierend) und den Gegensatz zwischen Geist und Materie in einen nicht erreichbaren bzw. nicht messbaren Zustand des Urknalls (inkommensurable Nichts) im Hegelschen Sinne aufhebt. In einer anderen Interpretation stellt die erste Versgruppe eine Balance zwischen der blinden Materie (blindlings ein / Eigengewicht) und dem inkommensurable Nichts dar. In dieser Konfiguration lässt sich das inkommensurable Nichts als unvergleichliche, nicht messbare Transzendenz verstehen.
 
v.1 Kalkfigurationen: Das Gestein Kalk kann sowohl anorganischer als auch organischer Natur sein. Der Begriff ‚Figuration‘ deutet bereits auf lebendig Gestaltetes hin.
 
v.2 Akkumulierte: von lat. accumulare ‚anhäufen‘, ‚ansammeln‘
 
v.2 Gesteinsknollen: Gesteinsknollen (‚Drusen‘) sind das Ergebnis vulkanischer Aktivitäten. In gasreichen Magmen entstanden vor Jahrmillionen Hohlräume, in die mineralstoffhaltige Lösungen eindrangen. In der Forschung zur Entstehung des Lebens wird diskutiert, ob die Bildung erster komplexerer Moleküle in diesen Hohlräumen stattgefunden haben könnte.
 
v.3 inkommensurable: ((in)kommensurabel; von lat. mensura für Maß, ‚ohne gemeinsames Maß‘, ’nicht vergleichbar‘). Der Ausdruck bezeichnet z.B. in der Physik die Unvergleichbarkeit physikalischer Größen oder in der Quantenmechanik die nicht gleichzeitige Messbarkeit physikalischer Größen.
 
v.5 Eigengewicht: In der Ökonomie das Gewicht einer Ware ohne Verpackung oder auch das Gewicht der Verpackung ohne Ware.
 
v.6: In der Tradition ist der Wind ein Symbol für das ‚Pneuma‘ (Atem. Geist, Seele) bzw. die Transzendenz.
 
v.7ff: Die zweite Versgruppe beschäftigt sich mit der Entstehung des Lebens aus dem Wasser.
 
v.7: Die sanfteren Unruhen stehen im Gegensatz zum Urknall der ersten Versgruppe.
 
v.8 Seerosenzonen: Die Seerosenzonen markieren den Übergangsbereich vom Wasser zum Land, sie sind sowohl als tierische (eine Unterodnung der Korallen heißt Seerosen) als auch als pflanzliche (Seerosen) Lebensformen zu verstehen.
 
v.9 Das über das Wasser streifende Gedächtnis erinnert an den Schöpfungsbericht in Mos. 1,2 ‚und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser‘.
 
v.10f: Die Entwicklungsgeschichte vom Pflanzlichen zum Tierischen erfolgt im Übergangsbereich vom Wasser zum Land und lässt sich als Individuationsprozess verstehen, der durch das ‚dividere‘ (abtrennen) von einem Ganzen mit einem Schmerz verbunden sein kann. Die ersten Tiere, die die Möglichkeit haben, das Wasser zu verlassen, sind die Amphibien. Darüberhinaus können die Amphibien auch als ein Symbol für den Menschen, der sowohl am Dieseits als auch am Jenseits teil hat, angesehen werden. Als Mensch ist er sich seiner Herkunft (Gedächtnis v.9) als auch seiner Endlichkeit, seines Todes bang bewusst.
 
v.12: Der Vers nimmt v.6 (Wind) und v.9 (Gedächtnis) auf und bereitet gleichzeitig v.18f vor. Das Röhricht (Schilfrohr) wurde in der Antike als Schreibgerät benutzt und noch heute wird es in der Kalligraphie eingesetzt.
 
v.13 Steilwandabfolgen: Gemeint sind hier die von Wolkenkratzern (Genormten Blöcke v.16) gebildeten Steilschluchten der modernen Städte. Sie stehen im Gegensatz zu der Vorstellung eines ’sanften‘ Ufergeländes in der Versgruppe 2.
 
v.14 zahlfabrizierten: Hier wird auf die Zweckrationalität moderner Fabrikationprozesse hingewiesen.
 
v.15 Leeren Raum: Die Steilwandabfolgen öffnen den Blick in den Leeren Raum, die Transzendenzlosigkeit.
 
v.17 Teilstrahl: Der gelegentlich in die Schluchten fallende Sonnenstrahl symbolisiert noch einen Rest der Verbindung zur Transzendenz.
 
v.18f Das lyrische Ich deutet seine Tätigkeit (‚Schreibgeräte für Gedichte anfertigen‘) als Versuch, eine Verbindung zur Transzendenz (Himmel) herzustellen.