Sursum

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Zentraler Begriff des Gedichtes ist die ‚Elevation‘ (Erhebung).
 
Anschließend an das ‚Empor‘ (Sursum) des Titels werden in Versgruppe eins (VG 1) die Herzen der Fernsehzuschauer ‚erhoben‘; eine Seilbahn ‚erhebt‘ ihre Benutzer auf einen Gipfel (VG 2), ein Fund auf dem Wühltisch verursacht Hochgefühle (VG 3) und in VG4 kann eine Umbenennung ein Kaff zu einer Weltstadt erheben. Das lyrische Ich versucht in der VG 5 aus Worten ein Gedicht als Treppe hinauf zur Transzendenz zu bauen. In VG 6 erhebt sich Elias im Flammenwagen in den Himmel, während in der VG 7 Elektro-Stimulationen dem Hirn religiöse Grenzzustände verursachen sollen. Das Glücksgefühl eines Jungen, wenn aus den Haferflocken Herakles aufsteigt, zeigt die VG 8, und Vg 9 thematisiert Hochgefühle beim Betrachten eines Sandalenfilms. Der Schlussvers Aber egal! blickt ironisch zurück auf die Erhebungen in einer egalitären Gesellschaft.
 
 

SURSUM

 
Ja so ein sauberer Gold-

Junge wie der aus der Schweiz wenn der dann
Zuletzt doch gegen diesen Negroni
Oder wenn
Schlag-Raab

5Sogar Diplomsportler mit seinem Eisstock
Hinauf bis in die Halsader

Kitzelt uns da die Herzkurve holla
 
Ganz
PHB EIBSEE
mit seligem

Spitzgipfelglück für alle
10Ausnahmen
die obligaten

Paar Schwindelanfälligen
 
Die raffen sich ihre
Hochgefühle

Als Extraration vom
STRIATUM

Jagdrevier Kramland
15Mit Markentrophäen vom Wühltisch
 
Schlitzäugig umetikettiert
wie die verlausten

Lattenverschläge um Samarkand

Die
Timur der Held
hochadelte

Zu Rom Paris und Damaskus wahnholzgebaute
 
20
Hütten zu Stein

Erhoben
Steine
aufs Wort gestellt

So zu den Göttern droben Sisyphus
Wälz ich die Welt wo einst
 
Einst doch vom Jordan ein Regensinger

25Mit Flammenwagen und Feuerross
Sturmgleich hinaufgebraust über die Häupter
Von fünfzig Prophetenjüngern
 
Bengalischer Pomp
gegen die
intramentalen

Oszillationen
heutiger Gläubiger

30Durch 40-Hertz-Kicks im GOD-SPOT
In Grenzzustände verfallend
 
Unwiederholbar
dennoch
das Schläfenpochen

Atemloses von damals als
Halbgott

Herakles koloriert
35Heraufstieg aus seinen Haferflocken
 
Jetzt
epiphan 3-D
wie die anderen
Z.B.
Achill als Brad Pitt

Wenn der diesem
Troja-Spast

Mit seinem Haumich eins überzieht
40Hui hüpft uns der Hammer schon mal
Weil nämlich auch hier lungern genug rum die
Aber egal
!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Sursum (lat. ‚aufwärts‘, ‚in die Höhe‘, ‚empor‘). Die Formel ‚Sursum corda‘ (‚erhebt die Herzen‘) ist in der Messe Bestandteil des Einleitungsdialogs (Präfation) zum eucharistischen Ritus. Mit diesen Worten fordert der Priester die Gemeinde auf, ihre Herzen zu Gott zu erheben. Im anschließenden Hochgebet (Anaphora) erfolgt Wandlung und Kommunion.
 
v.1ff: Bezug genommen wird auf die TV-Sendung DSDS (‚Deutschland sucht den Superstar‘) vom 28.04.2012, in der der Schweizer Luca Hänni gegen Daniele Negroni den Gold-Platz erreichte. Zuerst wurde Negroni zum Sieger erklärt, dies wurde aber Zuletzt zugunsten von Hänni korrigiert. Dass die Idole der Neuzeit zu ‚Goldjungen‘ stilisiert werden, zeigt ihre Herkunft aus dem sakralen Bereich an. Ironisch zu verstehen ist die Verbindung von ’sauber‘ und Schweizer Gold.
 
v.4f: Bezug genommen wird auf die TV-Sendung ‚Schlag den Raab‘ (Schlag-Raab) vom 12.09.2015, in der Stefan Raab den Diplomsportler (Diplom-Sportlehrer) Robert Klauß im Lattlschießen (Eisstock-Schießen) besiegt hat.
 
v.6f: Die Show-Wettbewerbe in den beiden genannten TV-Sendungen sollen beim geneigten Zuschauer Spannung erzeugen, sodass die Herzfrequenz (Herzkurve) in die Höhe steigt und der Blutdruck Hinauf bis in die Halsader spürbar ist.
 
v.8 PHB EIBSEE: Die Eibsee-Seilbahn war von 2013 bis 2017 eine Luftseilbahn zwischen der Talstation am Eibsee und der Bergstation am Zugspitzgipfel. Sie wurde von der Gesellschaft PHB (Pohlig-Heckel-Bleichert) betrieben.
 
v.8f mit seligem / Spitzgipfelglück für alle: Das Höhenglück, das die Seilbahnnutzer mit ihrer seligem Auffahrt zum Zugspitzgipfel erleben, wird mit der Spannung der TV-Zuschauer und dem sursum corda des Sakralbereichs parallelisiert (Vgl. auch v.24ff, die Auffahrt des Elias).
 
v.10f die obligaten / Paar Schwindelanfälligen: ‚obligat‘ kann hier in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Erstens als ‚dazugehörig‘ und zweitens ironisch als ‚unvermeidbar‘. Natürlich ist nicht nur der Übelkeitsanfall, der bei einer Seilbahnfahrt auftreten kann, sondern auch auch der Schwindel, der häufig religiösen Riten unterstellt wird, gemeint. Zugleich könnte auch gemeint sein, dass ein Subjekt, das sich zu solchen schwindelerregenden Höhen aufschwingt, in einen Taumel gerät.
 
v.13ff: Das STRIATUM ist ein Teil der Basalganglien, die zum Großhirn gehören. Die Bezeichnung bedeutet „Streifenkörper“ oder „Streifenhügel“ von lat. striatus (‚gestreift‘) ab. Die Basalganglien sind zuständig für das Zusammenwirken von Motivation und Emotion, so z.B. beim ‚Raffen‘ im Jagdrevier Kramland / Mit Markentrophäen vom Wühltisch.
 
v.13 Hochgefühle: Das Hochgefühl im sakralen Bereich (Sursum corda) wird in der kapitalistischen Warenaneignung (Wühltisch v.15) säkularisiert.
 
v.16 Schlitzäugig umetikettiert: Die politisch nicht korrekte Bezeichnung für ehemals vornehmlich chinesische ‚Produktpiraten‘ bezieht sich auf das ökonomisch nicht korrekte ‚Umetikettieren‘ von Billigwaren zu Markentrophäen (v.15). Natürlich ist es auch auf den Mongolenführer Timur (v.18) zu beziehen.
 
v.16ff: Die wohl in die Legende zu verweisende ‚Umetikettierung‘ von Lattenverschlägen um Samarkand in kulturell hoch angesehene Hauptstädte (Rom Paris und Damaskus) ist ein Beispiel für den Versuch Timurs, nur mit Worten den wahnholzgebauten Dörfern ein ‚hochadliges‘ Ansehen zu verleihen. Dieser Täuschungsversuch ist den berühmten aus Kulissen bestehenden ‚Potemkinschen Dörfern‘ vergleichbar, mit dem der Feldmarschall Potjomkin Katharina die Große beeindrucken wollte.
 
v.18 Timur der Held: Timur Lenk (auch ‚Tamerlan‘, 1336 – 1405) war ein mongolischer Heerführer, der in Zentralasien mit Brutalität und Tyrannei ein Großreich errichtete. Gleichzeitig galt er als großzügiger Kunst- und Literaturförderer.
 
v.20ff: Während in den Versen v.16ff zwei Beipiele für die betrügerischen bzw. vergeblichen Versuch, die Realität (Immanenz) mit Worten zu überhöhen, angeführt werden, zeigen die Verse v.20ff den Versuch des lyrischen Ich, mit Worten die Transzendenz zu erreichen. Wie die mythologische Figur Sisyphus, die im Hades immer wieder vergeblich versucht, einen Stein auf die Höhe eines Berges zu rollen, so versucht das lyrische Ich mit seinem aufs Wort gestellten Gedicht, die Welt So zu den Göttern droben zu ‚wälzen‘. Die Formulierung Hütten zu Stein / Erhoben erinnert an das Petrus-Wort bei der Verklärung Jesu: ‚Meister, hie ist gut sein, lasset uns drei Hütten machen, dir eine, Mose ein und Elia eine‘ (s. auch zu 24ff).
 
v.20 Stein: Die frühen christlichen Anbetungsstätten finden im Mittelalter in der monumentalen gotischen Kathedralen ihren Ausdruck als zu Stein gewordenes Wort Gottes. Deren Eckstein geht in der Vorstellung von Christus als lapis (lat. Stein) in die Tradition ein.
 
v.24ff: Im Alten Testament wird über den Propheten Elia (9.Jh. v.Chr,) berichtet, dass er von Gott (JHWE) die Fähigkeit erhalten habe, sowohl eine Dürre als auch Regen (Regensinger) zu beschwören (1 Kön 16, 17ff). Seine Auffahrt in den Himmel Mit Flammenwagen und Feuerross am Jordan vor fünfzig Prophetenjüngern wird 2 Kön 2,1-11 geschildert. Diese Auffahrt bildet das typologische Pendant zur Himmelfahrt Christi im Neuen Testament. (Vgl. die Seilbahn-Auffahrt v.8ff)
 
v.28 Bengalischer Pomp: Bengalisches Feuer ist ein Effekt der Pyrotechnik, der zur effektvollen Beleuchtung eingesetzt wird. Der Begriff transferiert das Bild Flammenwagen und Feuerross in eine moderne Dimension.
 
v.28ff: Anfang des 21. Jahrhunderts haben Neurowissenschaftler versucht, im Gehirn einen Ort zu lokalisieren, der für spirtuelle bzw, religiöse Erfahrung zuständig ist. Dieser sollte mit oszillierenden 40-Hertz-Wellen gereizt werden um Grenzzustände hervorzurufen. Der Versuch eine Gotteserfahrung in einem bestimmen Hirnbereich, dem sogenannten GOD-SPOT zu verorten, wird heute als gescheitert angesehen, die entsprechenden Erfahrungen scheinen über das gesamte Gehirn (intramental) ausgebreitet zu sein.
 
v.29 heutiger Gläubiger: Die Bezeichnung Gläubiger bezieht sich auf das (kapitalistische) Finanzsystem und säkularisiert die ehemals auf die religöse Ebene bezogene Bezeichnung ‚Gläubige‘. Die heutigen ‚Gläubigen‘ glauben an das Geld oder die Wissenschaft und nicht an ‚Gott‘.
 
v.32 Unwiederholbar: Eigentlich auf das Erlebnis eines Jugendlichen bezogen, indirekt aber auch ein Kommentar zur nicht wiederholbaren Bindung früherer Gesellschaften an den transzendenten Raum.
 
v.32ff: das Schläfenpochen (Atemloses) des Jugendlichen, wenn er ein buntes Bildchen (Halbgott / Herakles) in der Haferflockentüte findet, ist vergleichbar den intramentalen / Oszillationen (vgl. zu v.28ff). Dass das Bildchen hier als koloriert beziechnet wird, entsprich dem Bengalischen Pomp (v.28).
 
v.33f Halbgott / Herakles: Sohn des Zeus und der Alkmene (der Gattin des Amphitryon). Der Halbgott (der aus seinen (!) Haferflocken Heraufstieg) übernimmt hier die Funktion des moderneren ‚Idols‘ (Abgott).
 
v.36 epiphan 3-D: In der religiösen Tradition ist eine ‚Epiphanie‘ das Erscheinen einer Gottheit in der Welt (z.B. Jesu Christi). Hier wird das Wort ironisch für das Erscheinen der Idole bzw. der Halbgötter in der Dreidimensionalität genutzt. 3-D lässt sich auf ein Filmformat beziehen. (Allerdings ist der Film Troja, auf dem hier angespielt wird, nicht im 3-D-Format gedreht worden.) Gewagter Weise könnte man in 3-D auch ironisch die Dreifaltigkeit erkennen.
 
v.37 Achill als Brad Pitt: In dem US-Film ‚Troja‘ von 2003 spielt Brad Pitt die Rolle des Achill. Dass hier nicht Brad Pitt als Achill, sondern Achill als Brad Pitt auftritt, betont das ‚Herabsteigen‘ des Göttlichen in die platte Dreidimensionalität.
 
v.38 Troja-Spast: Der Trojaner Hector, der von Achill im Kampf besiegt wird. Der Begriff ‚Spastiker‘ sowie seine Kurzformen Spast wird als Schimpfwort im Sinne von Kretin, d. h. ‚Dummkopf, beschränkte, unfähige Person‘, verwendet.
 
v.38ff: In der homerischen Ilias (22, 306-364) tötet Achill Hector, indem er ihm mit seiner Lanze die Kehle durchbohrt. Es gibt dort also weder einen Haumich (Schwert?) noch einen Hammer. Die Änderung der Waffe entspricht einer Verrohung des Kampfes in der heutigen Zeit (bzw. den heutigen Sandalenfilmen) gegenüber den ritualisierten Kämpfen der Antike. Die sexuellen Konnotationen (Mit seinem Haumich eins ‚überziehen‘, Hui hüpft uns der Hammer) führen den Leser in die Niederungen und Bedürfnisse der in der Gegenwart ‚herum lungernden‘ Film- und Fernsehzuschauer (VG 1) und runden so das Gedicht.
 
v.42 Aber egal!: Das abschließende Aber egal! zeigt nicht nur die Resignation des lyrischen Ich, es kann auch als Kommentar des lyrische Ich zur ‚egalité‘, zur egalitären Gesellschaft, verstanden werden, aus der sich heute kein Gott mehr erhebt…