Was wird

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Zwei Bereiche sind für das Gedicht zentral: Das Werden (wird) und das Gewordene (Was). Das Werden als Stufe des Seins lässt sich als Evolutionsgeschichte oder als Schöpfungsgeschichte betrachten. Das Resultat der Geschichte, das Was, ist die jeweilige Gegenwart. Auch ein Gedicht mit seiner Entstehungsgeschichte bezieht sich auf diese Bereiche. Die Kursiva verknüpfen kosmische, transzendente und poetologische Bilder mit dem Vorgang der Empfängis und der Geburt.
 
 

WAS WIRD

 
Voll
kontingentem

Getier
die
Bodenzonen

Eingekreist von gefrorenen
Formen. Und
dem zerteilten

5Zustand der Zeit
 
Selbst sternenfunkenschwanger –

 
Zerleuchtet
im Wolkenkern
Kraftlinien – all die geraden
Des Dreistrahlsystems
10Das gezielt eingriff
Ins
Wechselspiel der Gewebe

 
Selbst sonnenfeuerkreißend –

 
In Blühorganen
ein
Vogelfußtraum
… der umfasst
15Die Abstammungsachse
Wie sie die Gattungen schon
ins Rot-

Glühende
übersteigt

 
Wo wären
Schläfenzangen

Mich selbst mir zu entreißen?
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel bezieht sich auf die im Grundgedanken genannten Bereiche Geschichte und Gegenwart, kann aber auch – als Frage gelesen – auf die Zukunft bezogen werden, z.B. auf das Gelingen eines Gedichtes (vgl. dazu zu v.18f).
 
v.1 kontingentem: ‚kontingent‘ bedeutet ‚zufällig, unzusammenhängend‘. In der Biologie meint die Kontingenztheorie, dass das Leben auf der Erde überwiegend von Zufällen (kontingenten Ereignissen) abhängig ist. Im Gedicht-Zusammenhang kann ‚kontingent‘ als zufällig, als nicht (mehr) mit der Transzendenz zusammenhängend verstanden werden.
 
v.2 Getier: Getier ist in der biblischen Schöpfungsgeschichte (1.Mos. 1,21) der Sammelbegriff für alles tierische Leben außer dem Menschen. In der Evolutionstheorie gehört auch der Mensch zum Getier.
 
v.2ff: Auf der konkreten Ebene kann man an versteinerte (gefrorene) Tiere (Fossilien) in Bodenproben denken. Auf der übertragenen Ebene könnte die Tranzendenzferne des modernen Menschen gemeint sein, der das Dasein nur mit Hilfe der Logik der Wissenschaft (der Begriffe, der gefrorenen / Formen) versteht.
 
v.4f: Einerseits denkt man an die Einteilung in die unterschiedlichen Erdzeitalter, andererseits ist an die moderne Zerstücklung der Zeit in der Lebens- und Arbeitswelt zu denken. Auch die Relativierung der Zeit in Einsteins spezieller Relativitätstheorie klingt an. Im Gegensatz dazu steht der eschatologische (auf das Heil gerichtete) Zeitbegriff des Christentums.
 
v.6: Der Vers lenkt den Blick einerseits auf das Individuum, das lyrische Ich (selbst, Getier der Bodenzonen), andererseits weitet es den Blick ins Kosmische (sternenfunken-, das Transzendente), um ihn dann wieder zurück ins lyrischen Ich zu richten (-schwanger). Nach gnostischer Lehre fielen -funken- des Göttlichen Wesens aus der transzendenten geistigen Sphäre in die materielle Welt. Man könnte auch an die Empfängnis Christi durch den Heiligen Geist denken. Dass die Schwangerschaft auch poetologisch zu verstehen ist, zeigt sich dann in den Versen 13-19.
 
v.6 Selbst: Dass das Selbst dreifach erscheint (v.6, v.12, v.19), lässt an C.G. Jungs Aufsatz (Christus, ein Symbol des Selbst) denken.
 
v.7ff: Die zweite Versgruppe zeigt zwei Zeitebenen: Zunächst die Gegenwart, in der die Transzendenz (Kraftlinien) verhüllt ist (Wolkenkern) und keine erkennbare, zentrierte Kraft (Zerleuchtet) ausübt, und danach im Rückblick den historischen Augenblick der Menschwerdung Gottes in Christus (das Dreistrahlsystem (Trinität), Das (in die Welt) gezielt eingriff).
 
v.11 Wechselspiel der Gewebe: Anspielung auf die Evolution (vgl. zu v.2)
 
v.12: Vers 12 ist parallel zu Vers 6 konstruiert. An die Stelle des sternenfunkens tritt das sonnenfeuer. Die Sonne wird im Christentum durch den Sohn Gottes repräsentiert. Der Gedanke der Schwangerschaft (v.6) wird mit dem Begriff des ‚Kreißens‘ fortgesetzt und endet im Bild einer (erhofften) Geburt v.18f.
 
v.13ff: Die Verse knüpfen mit den Pflanzen (Blüh-) und mit den Tieren (Vogel-) an die Evolutionsgeschichte an (vgl. zu v.2), in der mit -traum auch der Mensch erscheint. Die Gattungen in der Evolutionsgeschichte (Abstammungsachse) münden in der Erscheinung des Menschen, der in der Lage ist, diese Achse ins Geistige zu ‚übersteigen‘. Zugang zum Geistigen können der Traum (Vogelfußtraum) oder/und Gedichte (Blühorgane) erzeugen. In der christlichen Interpretation ist der Abdruck der Transzendenz in der ganzen Schöpfung (z.B. auch in Blüten oder Tieren) zu erkennen.
 
v.14 Vogelfußtraum: Die Mäusewicke (Kleiner Vogelfuß, lat. Ornithopus perpusillus) hat an Vogelfüße erinnernde Hülsenfrüchte und zeigt in ihren Blüten ein dem Vogelfuß ähnliches Strahlensystem.
 
v.16f ins Rot- / Glühende: Dass das Geistige, das Transzendente als ‚rotglühend‘ charakterisiert wird, verweist zurück auf v.12 (sonnenfeuer-).
 
v.17 übersteigt: Der Begriff (von lat. tran-scendo ‚über-steigen‘) nimmt Bezug auf Rilkes Eröffnung der ‚Sonette an Orpheus‘: ‚Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! / O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr!‘. Auch hier stellen der Sänger Orpheus (der Dichter) und das Gedicht (der Baum) die Verbindung zur Transzendenz her. (Vgl. dazu auch v.18f).
 
v.18 Schläfenzangen: Die ‚Geburtszange‘ ist ein Instrument zur Beschleunigung der Geburt. Die Schläfen sind in der spirituellen Tradition der Bereich, in dem Transzendenz erfahren werden kann. In der Hirnforschung wird in den Schläfenlappen die Fähigkeit vermutet, von sich Abstand zu nehmen und sich selbst gegenübertreten zu können (Selbstdistanzierung, Fähigkeit zur inneren Opposition. (V.E. Frankl)).
 
v.18f: Die Formulierung Wo wären … kann sowohl als Potentalis als auch als Irrealis interpretiert werden. Sie läßt damit offen, ob der beschriebene Geburtsvorgang möglich ist oder nicht. Dieser Ungewissheit entspricht auf der poetologischen Ebene die Frage, ob es einem gelungenen Gedicht möglich ist, den transzendenten Anteil des Selbst bzw. des Ich (z.B. den gnostischen Funken (vgl. zu v.6 und v.18)) zu erfassen.