Ibanoi und Bajau

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Vom Tod über das Nichts zur (Wieder-?)Geburt
 
Das Verschwinden des Magisch/Heiligen/Natürlichen (Höhle/Berg/Riff) durch die wissenschaftlich-technische Zivilisation (VG 1-3). Demaskierung der Materie als NICHTS (VG 4). Preisung der mystischen/buddhistischen Leere (VG 5). Die Leere im Kosmos/den Sternbildern/der Waschmaschine; die Zerstörung der mystischen Einheit von Seele und Kosmos (VG 6-8). VG 9 creatio ex nihilo/ex aqua/ex natura (Mathe/Thales/Bajau).
 
 

IBANOI UND BAJAU

 
Nach
Luzon
z.B. wo diese
Ibanoi
mit
Echt traditioneller Höhlenbestattung
Schrumpfmumien in winzigen
Holzsärgen das wollen
wir
hautnah
5Müssen wir das erleben da wirds
Voll gruslig
trotzdem
am sakralen

Grufthokuspokus natürlich nichts dran ist
 
Fake wie
der Götterberg

Bei den Amungme-Papua wo nicht mal
10Das
erzclevere Know-How

Von Freeport Hochheiliges bemerkte
 
Ja das
Lisianski-Riff
offenbart

Heut selbst einem
kahuna lapaˊau

Sein Zauber
dass er nur tausendschichtiges

15Käsbleiches Knochengebrösel war
 
Aus Teilen
von Teilchen die werden

Unter dem Mikroskop demaskiert zu NICHTS
Und ziehn
überführt dann als Windbeutelei

Das ganze Weltenriff hinter sich her
 
20
Endlich frei
von aller Schwere allem

Schwere-Los Herz sei
Wie der Himmel leer und wie
Der Himmel groß
denn glaubt man
den Zahlen

 
Extrapolierender
Astronomen

25Und ihren
Rastermethoden
genau dazu erzieht

Der Kosmos von sich aus bereits
Durch
akzelerierte VAKUUMEXPANSION

 
Seitdem die
Sternbilder vom
providenziellen

Seelenballast befreit
30Mobiler sich fühlen und dafür
Sternlos die Seelen
 
Und so
konzipiert wie
Matsushitas
geniale

Maschinen die unter ganz simplem Schlitzzieher
Dreht man ihn dreimal um
35Schon in die WASCHZWISCHENRÄUME zerfallen
 
Nullen
gewissermassen mit
dezidiert ominöser

Einser-Tendenz da der Triumphzug
Ob
Thales
ob
Darwin
der Körper

Ja immer im Wasser beginnt und so Naturburschen
40
Sagen wir
die Bajau wenn sie vom Einbaumbötchen

Nach Seetang sprangen durchaus lurch-
Nackt vor uns auftauchen können
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Die Ibanoi sind ein Volksstamm auf der Insel Luzon, die Bajau sind Nomaden auf der Insel Omadal. Beide Inseln liegen in der Sulu-See. Sie werden z.B. auf Amazon als ‚Die Letzten Paradiese‘ beworben (https://www.amazon.de/Die-letzten-Paradiese-Indopazifik-Sulu-See).
 
v.1ff: Der sprachliche Gestus dieser Versgruppe wird zum einen von Werbeangeboten der Tourismusindustrie mitbestimmt (Echt traditionell (v.2), hautnah … erleben (v.4f), voll gruslig (v.6), zum anderen zeigt er den kulturellen Kolonialismus westlicher Provenienz (diese Ibanoi (v.1), Grufthokuspokus (v.7), natürlich nichts dran (v.7)).
 
v.1 Luzon: Luzon im Westpazifik ist die größte Insel der Philippinen.
 
v.1 Ibanoi: indigener Stamm auf Luzon. Die Ibanoi schrumpfen und mumifizieren ihre Toten, legen sie in winzigen Holzsärge und bestatten sie in Höhlen (vgl. https://www.anixehd.tv/usite/paradiese).
 
v.4 wir: Das lyrische Ich (hier im Konsumenten-Plural) schlüpft in die Rolle eines modernen Event-Touristen, der sich vom Reiz magischer Praktiken anlocken lässt und sich gruseln will, die Praktiken aber als sakralen / Grufthokuspokus (v.6f) abwertet.
 
v.6 trotzdem: grammantisch wäre an dieser Stelle ‚obwohl‘ korrekt; der umgangssprachliche Gebrauch des trotzdem passt zum Konsumenten-Plural.
 
v.8ff: Die Amungme-Papua sind eine indigene Bevölkerungsgruppe in Indonesien, auf deren Gebiet die US-amerikanische Firma Freeport in der Grasbergmine Gold und Kupfer abbaut. Die Amungme haben ein animistisches Weltbild, in dem auch die Berge Hochheilig sind. Das lyrische Ich übernimmt den Blick der Amungme. Aus dem kommerziellen Blickwinkel der Firma Freeport sind diese heiligen Berge (Götterberg) nur Fake.
 
v.10 erzclevere Know-How: Der Begriff Know-How (‚Gewusst-Wie‘) ist ein vor allem auf technisches Wissen limiterter Begriff. Das Adjektiv ‚clever‘ ist konnotiert mit List und Skrupellosigkeit, hier der Firma Freeport. Das erz ist zunächst als Verstärkung von clever zu verstehen, verweist aber zugleich auf die Förderung der ‚Erze‘ (Bodenschätze). Die Kombination der drei Begriffe deckt das umweltzerstörende Vorgehen der kapitalistischen, ausbeuterischen Unternehmen auf.
 
v.12 das Lisianski-Riff offenbart: Das Lisianski-Riff ist eine kleine, unbewohnte Insel im Pazifischen Ozean, die zum US-Bundesstaat Hawaiʻi gehört. Sie ist der über der Wasseroberfläche gelegene Teil eines großen Korallenriffs (Neva Shoals), das sich im Laufe von tausenden Jahren aus den Kalkskeletten von Steinkorallen (Aus Teilen von Teilchen v.16) gebildet hat. Dass die Natur hier etwas offenbart, gemahnt an die Vorstellung, dass aus ihr der Schöpfer spricht – hier allerdings überlagert die desillusionierende, entzaubernde Wissenschaft diese Vorstellung (vgl. zu v.14f).
 
v.13 kahuna lapa’au: hawai’ianische Bezeichnung für einen Weisen (kahuna), der mit magischen Praktiken, insbesondere mit Kräutern heilt (lapa’au).
 
v.14f Sein Zauber dass er nur tausendschichtiges / Käsbleiches Knochengebrösel war: Dem desillusionierten, wissenschaftlichen Blick auf das aus Skeletten aufgebaute Lisianski-Korallenriff (vgl. dazu zu v.12) kann sich Heut selbst ein ‚weiser‘ Hawaianer nicht entziehen. Angespielt wird auch auf die Korallenbleiche, die durch die Meereserwärmung und die verantwortungslose Nutzung der modernen Technik verursacht wird. Der Satzbruch, der durch das Vorziehen von Sein Zauber (und die Wiederaufnahme mit er) entsteht, verdeutlicht die Entzauberung, die mit dem wissenschaftlichen Blick einhergeht.
 
v.16f: Gemeint sind die Erkenntnisse der Atomphysik, nach denen das räumliche Verhältnis des Atomkerns (Protonen, Neutronen) zu den ihn umgebenden Teilchen (Elektronen) 1 : 100.000 ist, sich also in Größenverhältnissen so darstellen lässt wie ein Stecknadelkopf zu einem Kirchturm. Die Leere, das NICHTS, zwischen Kern und Hülle demaskiert die Vorstellung von fester Materie.
 
v.18f: Zunächst steht der Begriff Windbeutelei für ein aufgeblasenes, prahlerisches, aber substanzloses Verhalten. Hier wird dieser vom menschlichen Verhalten auf ein erkennistheoretisches Konzept übertragen, in dem Teile von Teilchen .. als NICHTS überführt werden, sodass ein anderes Weltbild (Das ganze Weltenriff) entsteht. Damit wird der Blick vom Lisianski-Riff (v.12) auf den Kosmos ausgeweitet. Da der Wind traditionell mit dem Pneuma, der göttlichen Schöpferkraft, verbunden wird, ist natürlich auch an eine Erschaffung des Kosmos aus dem NICHTS zu denken. Auf diese Weise wird die Umwertung des NICHTS, die in der folgenden Versgruppe stattfindet, vorbereitet.
 
v.20ff: Das lyrische Ich bittet darum, dass sein Herz leer sei, also frei von der Materie (von aller Schwere); es möge nicht mehr mit dem Schicksal (Los) der Schwere belastet, sondern ’schwerelos‘ sein. Damit wird die Leere, das NICHTS, in den Himmel überführt und zur Transzendenz umgedeutet. Der ‚irdische‘ Himmel, der ohnehin schon groß ist, wird hier zum Kosmos gesteigert. Die Schwere als Kennzeichen der Materie erinnert an ein Sonett Rilkes: „Fürchtet euch nicht zu leiden, die Schwere, / gebt sie zurück an der Erde Gewicht; / schwer sind die Berge, schwer sind die Meere.“ (Rilke: Sonette an Orpheus, I,4 v.9-11).
 
v.23ff denn glaubt man den Zahlen / … / … genau dazu erzieht / Der Kosmos: Die Astronomie hat mit neueren Teleskopen und verbesserten Rastermethoden (vgl. zu v.25) festgestellt, dass Der Kosmos, das Universum expandiert und damit die Leere, also das NICHTS (v.17) zunimmt. Die Betonung liegt hier natürlich auf dem glaubt man den Zahlen, also dem Glauben an die Wissenschaft. Den zweiten Nachweis für die Zunahme der Leere gibt der Kosmos scheinbar selbst (von sich aus), er erzieht die ‚Zahlengläubigen‘ Durch akzelerierte VAKUUMEXPANSION (vgl. zu v.27).
 
v.24 Extrapolierender: ‚Extrapolation‘ ist in der Wissenschaft die Fortführung einer Zahlenreihe über den letzten beobachteten Wert hinaus in die Zukunft, also eine Schätzung anhand eines beobachteten Entwicklungstrends.
 
v.25 Rastermethoden: Analog zum Koordinatennetz der Erde, das mit seinen Längen- und Breitengrade ein Gitter aufspannt, indem man alles genau verorten kann, haben Wissenschaftler ein solches Raster auf den Weltraum projiziert. Der neue Himmelsrahmen (2009) ist nun deutlich genauer als seine Vorgänger und bezieht erstmals auch die Rotation der Milchstraße mit ein.
 
v.27 akzelerierte VAKUUMEXPANSION: d.h. ‚beschleunigte Ausweitung der Leere‘. ‚Akzeleration‘ kommt von lat. acceleratio, ‚Beschleunigung‘. Die messbare EXPANSION des Universums und damit der Leere wird in der Astronomie meist auf eine (noch) nicht nachweisbare, ominöse ‚Dunkle Energie‘ zurückgeführt.
 
v.28ff: Die Expansion des Universums führt dazu, dass die Sterne der mythischen Bilder immer weiter auseinander driften (Mobiler sich fühlen) und daher die in der Astrologie übliche Charakterisierung des Einzelnen vermittels der Sternzeichen nicht mehr glaubhaft ist. Die Seelen verlieren ihre ursprüngliche Verankerung in der Transzendenz, sie werden Sternlos.
 
v.28 providenziellen: abgeleitet von lat. ‚providentia‘ ‚Vorsehung‘. Gemeint ist ein von einer höheren Macht bzw. einem Gott durchwalteter Kosmos. Das Schicksal des Einzelnen, der Seelen, wird als von dieser Macht abhängig gedacht.
 
v.32ff: Um eine Waschmaschine einfacher reparieren zu können, entwickelte Panasonic eine Waschmaschine, die mit einem simplen Schlitzzieher (Schraubenzieher) ganz einfach (Dreht man ihn dreimal um) zu zerlegen ist. Ohne es zu konkretisieren wird hier ironischerweise die Waschmaschine mit einem Sternbild parallelisiert und die WASCHZWISCHENRÄUME mit der durch die akzelerierte VAKUUMEXPANSION vermehrte Leere zwischen den Sternen.
 
v.32 Matsushitas: Der japanische Industrielle Kōnosuke Matsushita (1894-1989) gründete die Elektrofirma Panasonic.
 
v.36ff: In der letzten Versgruppe dreht es sich – wie in einer Waschmaschine – um drei Schöpfungsarten: a) Creatio ex nihilo, b) Entstehung des Lebens aus dem Wasser mit Entwickung der Arten, c) die zyklische Verwandlung von Tod (‚tauchen‘) und Leben (‚auftauchen‘) im naturmagischen Bild der Bajau.
 
v.36 Nullen … mit dezidiert ominöser / Einser-Tendenz: lat. ‚dezidieren‘ entscheiden, bestimmen; lat. ‚ominös‘ unheilvoll, verdächtig. Die Null hat hier eine ‚entschieden verdächtige‘ Tendenz zur Eins. Mithin wird das Entstehen von Etwas aus dem Nichts ironisch gefeiert: creatio ex nihilo.
 
v.38 Thales: Thales war ein vorsokratischer Naturphilosoph (geb. um 624/23 v. Chr., gest. 548 oder 544 v. Chr.). Er nahm das Wasser als Ursprung alles Seienden an.
 
v.38 Darwin: Charles Darwin (*1809; † 1882) war ein britischer Naturforscher. Sein Werk ‚Entstehung der Arten‘ (1859) revolutionierte mit der Einordnung des Menschen in die Evolution das christliche Weltbild.
 
v.40ff: Die Bajau sind ein nomadischer Volksstamm, der sein ganzes Dasein aufs Meer verlegt hat. Das Tauchen Nach Seetang sichert ihren Lebensunterhalt. Mit dem Attribut lurch- / Nackt wird die Entstehung des Lebens aus dem Wasser akzentuiert. (zur Interpretation als Schöpfungsvorgang s. zu v.36ff).