Spiegelungen

Überblickskommentar:
 
Die erste Versgruppe zeigt die Erde als leidende Gaia. Die zweite Versgruppe parallelisiert die Genese eines Prachtfalters mit der Seele. In der dritten Versgruppe vollzieht sich ein Eingriff der Transzendenz in die Erdgeschichte. In den Kursiva wird mit Anspielung auf den griechischen Gelehrten Eratosthenes der Wunsch des lyrischen Ich dargestellt, sich durch Versenkung ins Innere der Transzendenz zu nähern.
 
 

SPIEGELUNGEN

 
Erschöpfte
Vulkanböden
die
Fragen mit ihren Trockenrissen
Vergebens die Blutbahn ab
Flammender Storchschnabelbänder

Wie sie
die Segler vertäuen
 
Sonne die Mittag zeigt −

 
In schlüpfenden
Prachtfalterflügeln

Kassiber
die Unterweltsdunkel die
Viel labyrinthische Schrittfolgen
Für Märchenfiguren
die leiten
zum zitternden
Glanz der Entwandlung
 
Brunnen bei Vollmond gegraben −

 
Über dem
Stundengebälk tauber
Tobboden für Schwefel-
Blitze die
tanzen. Galopp
mit Blitzen

Wie Pollen gold bis unter dem ersten der
Estrich
bricht
 
Brunnen − darüber geneigt

Einmal die Fülle haben!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: So wie der Brunnen den Himmel spiegelt und der Himmel ein Symbol für die Schöpfung ist, so spiegelt die Seele die Transzendenz.
 
v.1 Erschöpfte Vulkanböden: Vulkanböden sind nach Zersetzung der Lava eigentlich sehr fruchtbare Böden, sie können aber (wie alle Böden) nach Übernutzung zu ‚erschöpften Böden‘ werden. Der Begriff ‚Erschöpfung‘ bezieht sich ursprünglich auf den Menschen, er wird hier auf ‚Erde‘ übertragen. In Schöpfungsmythen wird die Erschaffung der Erde als transzendenter Akt dargestellt. Die ‚erschöpften Böden‘ spiegeln die ‚Austrocknung‘ der Transzendenz wider.
 
v.1ff Erschöpfte Vulkanböden die / Fragen … / … die Blutbahn ab: Die Personifizierung der ‚Böden‘ (vgl.zu v.1) erinnert an die Gaia-Hypothese von James Lovelock, nach der die gesamte Erde wie ein Lebewesen betrachtet werden kann. Erschöpfte Vulkanböden, die Fragen können, stehen hier paradigmatisch für eine Erde, die mit der Klimakrise ringt. Dies wird im Bild der Trockenrisse, die als ausgetrocknete Blutbahn gezeigt werden, verdeutlicht. In dem Prozess von Schöpfung und Erschöpfung (‚Austrocknung‘) wird dann auch das Lebewesen ‚der Mensch‘ auf seine transzendente Herkunft Vergebens befragt.
 
v.4: Die Blutbahn der Erde, die Trockenrisse, sind hier von einem Band aus Storchschnabelgewächsen (z.B. Geranien) bewachsen. Im Hintergrund könnte das (die Zeugung und die Geburt verschleiernde) Kindermärchen vom Storch stehen, der in seinem Schnabel das Tuch (-bänder) trägt, in dem das Baby gebracht wird.
 
v.5: Im Bild des Lebensschiffes (Segler), das in den Hafen einläuft und festgemacht werden muss (vertäuen), sind Tod und Geburt (s. v.4) miteinander verbunden.
 
v.6: Vgl. zu v.18f.
 
v.7ff: Dieser Versgruppe liegt das Bild eines aus dem Kokon schlüpfenden Schmetterlings (v.7f) zugrunde. Der Schmetterling ist ein Symbol für die Seele, die zur Transzendenz zurückkehrt (v.10f), so z.B. in Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht“ („Kommst geflogen und gebannt, / Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist du Schmetterling verbrannt.“ v.14-16).
 
v.7 Prachtfalterflügeln: Prachtfalter (Cosmopterigidae) sind eine Familie der Schmetterlinge. Einzelne Exemplare kann man gelegentlich im Kreis tänzelnd auf Blättern beobachten (vgl. zu 8ff labyrinthische Schrittfolgen).
 
v.8ff: Ein Kassiber ist eine geheimgehaltene schriftliche Mitteilung eines Gefangenen an andere Gefangene oder aus dem Gefängnis heraus an die Außenwelt. Die Seele (s. zu v.7ff) als Gefangene in der Materie ist eine von Plato aus der Gnosis stammende Vorstellung. Auf den noch nicht entfalteten Flügeln der Seele befinden sich geheime Nachrichten über die Immanenz (Unterweltsdunkel) und Anleitungen für den Weg in die Transzendenz (Viel labyrinthische Schrittfolgen / Für Märchenfiguren).
 
v.10f: Die Genese des Schmetterlings führt über die Verwandlung von der Raupe in die Puppe zur endgültigen Gestalt. Dass die Seele sich aus ihrem materiellen Gefängnis befreien kann, kann als Entwandlung (das Ende aller Wandlungen), als Aufstieg in das Licht, den Glanz, interpretiert werden.
 
v.12: Vgl. zu v.18f.
 
v.13 Stundengebälk: ‚Gebälk‘ bezeichnet in der Architektur allgemein die zu einer Decken- oder Dachkonstruktion gehörenden Balken. In Verbindung mit der zeitlichen Einheit ‚Stunde‘ kann hier an einen Glockenturm gedacht werden.
 
v.13ff tauber / Tobboden für Schwefel- / Blitze die tanzen.: Mit -boden und Schwefel- wird auf den Anfang der ersten Versgruppe, auf die Erschöpfte(n) Vulkanböden (s. dazu zu v.1 und v.1ff) zurückverwiesen. Hier wie dort sind die Böden unfruchtbar (‚taub‘), wie zu Beginn der Erdgeschichte, als vulkanische Schwefel- / Blitze … tanzen und ‚toben‘. Diese evolutionäre Vorstellung der Entstehung des Lebens steht im Gegensatz zur religiösen Schöpfungsgeschichte.
 
v.15 .: Der (ungewöhnliche) Punkt in der Mitte des Verses trennt die Versgruppe in zwei Hälften: Während die erste Hälfte transzendenzlos erscheint, bricht in der zweiten Hälfte die Transzendenz durch.
 
v.15f Galopp mit Blitzen / Wie Pollen gold: Der Galopp mit Blitzen verbindet sich assoziativ mit dem Mythos des den Sonnenwagen lenkenden Apollon, sodass die Sonne (gold) die Erde fruchtbar macht (Pollen). Unter dem ersten Strahl der Sonne bricht der / (unfruchtbare) Estrich auf. Aus Sicht der chemischen Evolution kann hier an Urformen des Lebens, an Biomoleküle (Pollen) gedacht werden, die durch permanente Blitze in die ‚Ursuppe‘ enstanden sein sollen.
 
v.17 Estrich: Als Estrich bezeichnet man den Aufbau des Fußbodens als ebenen Untergrund für Fußbodenbeläge.
 
v.18f: Die Kursiva (v.6, v.12, v.18 und v.19) zeigen den Wunsch des lyrischen Ich, aus der Betrachtung des Kosmos (Sonne, Vollmond) und mit Hilfe der Versenkung ins Innere (Brunnen − darüber geneigt) Zugang zur Transzendenz zu gewinnen. Dem Bild liegt der Versuch des griechischen Gelehrten Eratosthenes (3.Jh. v. Chr.) zu Grunde, den Erdumfang zu berechnen. Eratosthenes maß den Schatten, der in einem Brunnen entsteht, wenn die Sonne im Zenit (Mittag) steht, und verglich dessen Länge mit einem weit entfernten Meßpunkt, an dem die Sonne im Zenit keinen Schatten wirft. Daraus berechnete er einen noch aus heutiger Sicht ziemlich genauen Erdumfang von 41.750 km (heute 40 075 km).