Tierlieder

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Anhand des Werbeliedes für Goldbären wird die Inhaltsleere der Werbeaussage karikiert. Diese Leere – übertragen auf den Zustand des modernen Menschen – zeitigt Depressionen, die das lyrische Ich durch den Musenanruf (Singt Schwäne) zu transzendieren sucht. Diese spirituellen Möglichkeit der Poesie wird durch den Posaunenklang des CYGNUS CYGNUS, den Schwan Vom Avon (Shakespeare) und den dirkäischen Schwan aus Theben (Pindar) herbeizitiert. Der Missbrauch dieser Klänge durch die Werbeindustrie offenbart die Verführbarkeit des animal rationale. Das Kollektiv wird zum Müllschlucker.
 
 

TIERLIEDER

 
Haribo macht
singen die mit den Goldbären
Uns ebenfroh
aber aus so einer
dummschlauen

Somatopsychodigestionsexpertise
nun müssen wir lernen
Hari
auch
aggressiv hysterisch und traurig

5Macht es weshalb
unser Lied
nichts als Leerformel

Du lieber Gott!
Was haben
denn diese Süßbauch-
Ausschnüffler bloß gegen die Leere?
 
ein Leib
prall im Fleisch und dann

die LEERE ganz abgesaugt
10Ein Staubkorn
Bekanntlich
 
Nur wenn
als Tausendmillionenklon

Sie ihrerseits absaugt und in HD-Form
Dann expandieren wen wunderts
15Sprachlose DEPRESSIONEN
 
Wovon
jeder Zwanzigste
schon betroffen

Kopfhängend
Starrkrampf der Mund

Im Einsamkeitsmeer
ein Wrack

Und irgendwo
Flügel die letzte Hoffnung

 
20
Ihr die
ihr im

Höhersteigen schwingenschlagend
Singt Schwäne macht das meinem
Schweigen sich ein Gruß entringt respondierend
 
Dem ruffreudigem
CYGNUS CYGNUS

25Zu Tonreihen nämlich von reinen
Posaunenklang muß er den Hals
Lang ausgestreckt seinen Kopf hochdrücken
 
Beobachter dann
animiert
das meistens

Zu fast paralleler Körperhaltung
30
Und nun
gar der Gesang
genuin

Ästhetischer Schwäne heißt es
 
Vom Avon oder dirkäisch aus Theben
Bis in
den Kehlkopf empfindet

Der Zuhörer da muskuläre
35Spannungen und sympathetisch dieselben
 
Weshalb um
so noch effektiver die uns vertraute
Vollpartizipation an jenem anthropogenen Refrain
Oralretrograder Verzückungsschauer
Der kollektiv
zum Ganzköperreim uns verklärt
40
Und wow
− schon brauchen

Wir nicht einmal mehr unsere Bärchen
Selber zu kauen!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: In diesem Gedicht kommt – bis auf den Singschwan in metaphorischer Bedeutung – kein Tier vor. Daher liegt der Gedanke nahe, dass der Mensch selber in die Welt der Tiere eingeordnet wird. Die hier vorgeführte Werbebranche verschafft sich über einen einfachen Refrain (Tierlied) Zugang zu den animalischen Regungen der Menschen.
 
v.1 Haribo macht: ‚Haribo macht Kinder froh – und Erwachsene ebenso!‘: gesungener Werbespruch der Firma Haribo (Hans Riegel Bonn) für ihr Produkt Goldbären.
 
v.2 Uns ebenfroh: Verballhornung des Werbespruchteils ‚und Erwachsene ebenso‘.
 
v.2 dummschlauen: Das paradoxe Kompositum weist einerseits auf den IQ der anvisierten Konsumenten hin, andererseits auf den enormen Erfolg dieser Werbebotschaft. Sie gilt als der bekannteste Werbespruch in Deutschland.
 
v.3 Somatopsychodigestionsexpertise: ‚Somato‘ körperlich; ‚psycho‘ seelisch; ‚digestion‘ Verdauung; ‚expertise‘ Gutachten. Der Werbespruch wird parodistisch als körperlich-seelisches Verdauungsgutachten klassifiziert.
 
v.4 Hari: Die scheinbare Koseform Hari (eigentlich abgeleitet vom Zeitwort hr ‚ergreifen‘, ‚wegnehmen‘, ’stehlen‘) ist im Hinduismus ein Aspekt des Gottes Vishnu. Er ist ein Gott, der Übel oder Sünde fortnimmt und er gilt als Zerstörer des Samsara (der Verstrickung in den Kreislauf von Geburt und Tod). Seine Funktion als Zerstörer bereitet unterschwellig auf die in v.4 beschriebenen Wirkungen der Werbebotschaft vor.
 
v.4 aggressiv hysterisch und traurig: Parallelkonstruktion zur ‚expertise‘ (v.3): aggressiv verweist auch auf eine körperliche Reaktion, hysterisch und traurig eher auf seelische Vorgänge. Die permanente Wiederholung des Werbespruchs könnte aggressiv machen und die Dummheit traurig. Es könnte auch gemeint sein, dass das Produkt Goldbären selbst negativ auf die Gesundheit einwirkt (Zutatenliste für Goldbären gemäß der Internetseite von Haribo: Glukosesirup; Zucker; Gelatine; Dextrose; Fruchtsaft aus Fruchtsaftkonzentrat: (…); Säuerungsmittel: Citronensäure; Frucht- und Pflanzenkonzentrate: (…); Aroma; Holunderbeerextrakt; Überzugsmittel: Bienenwachs weiß und gelb, Carnaubawachs. Laut den Angaben des Herstellers bestehen Goldbären zu 46% (!) aus Zucker).
 
v.5 unser Lied: Sowohl das Possessivpronomen unser als auch die Klassifizierung als Lied ist ironisch bzw. satirisch zu lesen.
 
v.5 nichts als Leerformel: Über die inhaltliche Leere der Werbeformel hinaus und die darin lediglich behauptete Stimmungsaufhellung (macht … froh) könnte hier auch der fehlende bzw. ungesunde Nährwert des Produktes kritisiert sein.
 
v.6 Du lieber Gott!: Ausruf des Erstaunens, hinter dem aber auch die Idee steht, dass die Transzendenz ebenso gut Fülle wie mystische Leere (vor allem im Buddhismus) bedeuten kann.
 
v.6f Was haben … / … Leere: Die rhetorische Frage enthält einen neuerlichen Angriff auf die Werbestrategie des Haribo-Konzerns (Süßbauch- / Ausschnüffler). Die Werbeindustrie versteckt die inhaltliche Leere ihrer Aussage und den zweifelhaften Nutzen ihres Produkts im Reim (v.37-39); sie fürchtet den Konsumverzicht (die Leere der Einkaufswagen) und kann keinen Bezug zu einer möglichen spirituellen Bedeutung der Leere herstellen (s. dazu zu v.6 und im Folgenden).
 
v.8ff: Der Leib (Süßbauch– v.6) ohne Spiritualität, aber ausgerichtet auf Gier und Sexualität (prall im Fleisch), wird in materialistischer Hinsicht zu einem Staubkorn, wenn man auf der atomaren Ebene die LEERE zwischen den Atomkernen und den sie umgebenden Elektronen ganz ‚absaugte‘. Unterschwellig klingt die christliche Vorstellung des Menschen als Staubkorn mit: ‚Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.‘ (Gen. 3,19).
 
v.12ff: Wenn die LEERE (v.9) ihrerseits zunimmt und sich zu einer HD-Form (High-Density, ‚hochverdichtet‘) in den Menschen steigert, werden diese zu einem Tausendmillionenklon, zu einer Milliarde, die Sprachlos(e) ihren DEPRESSIONEN ausgeliefert ist.
 
v.16 jeder Zwanzigste: Die Anzahl der von einer Depression Betroffenen wird hier mit 5% angegeben. Die moderne Forschung geht inzwischen von einem Prozentsatz höher als 10% aus. Die im Gedicht genannten Symptome (z.B. Sprachlosigkeit, Antriebslosigkeit (Kopfhängend) und katatone Zustände (Starrkrampf der Mund) lassen sich auf Sinnverlust und Einsamkeit zurückführen.
 
v.17ff: Im Hintergrund der folgenden Verse (bis zu v.22) scheint das Gedicht „Der Albatros“ von Charles Baudelaire auf. Dort ist von einem Albatros die Rede (hier von dem Singschwan CYGNUS CYGNUS), der die Flügel hängen lässt (hier Kopfhängend die Flügel als letzte Hoffnung hat) und in der letzten Gedichtstrophe mit dem Dichter verglichen wird (hier mit Shakespeare (Avon) und Pindar (dirkäisch) v.22).
 
v.18: Als Vorlage für das Bild eines Depressiven in seiner Einsamkeit dient her Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“. Dargestellt ist ein Wrack als Symbol eines in der Kälte der Welt (Einsamkeitsmeer) untergehenden Menschen.
 
v.19: Im Zusammenhang des Gedichtes wird hier die Hoffnung ausgedrückt, sich mit den ‚Flügeln des Gesanges‘ über die Sprachlosigkeit erheben zu können. Der Terminus letzte Hoffnung suggeriert die Vorstellung, nach dem Tode als Engel zum Himmel aufzufliegen.
 
v.20ff: Verdeckter Musenanruf. Das lyrische Ich bittet die Singschwäne im Hohen Ton (Alliteration mit ‚Schw‘) um eine Inspiration, die seinen Gruß der Transzendenz näherbringt. Dieser Gruß soll dem Gesang eines Singschwans (v.24) respondieren.
 
v.24ff: Der Singschwan (CYGNUS CYGNUS) unterscheidet sich vom bekannten Höckerschwan durch seinen im Flug gerade gehaltenen Hals und seine ‚Ruffreudigkeit‘. Er besitzt ein umfangreiches Stimmrepertoire. Charakteristisch für seine Rufe ist ein tiefer, nasaler Posaunenklang. Beim Rufen ist der Hals gewöhnlich lang ausgestreckt und der Kopf angehoben (vgl. Wikipedia ‚Singschwan‘).
 
v.28 animiert: Der Begriff animiert kann hier doppeldeutig gelesen werden, einerseits anknüpfend an die Schwäne mit der Bedeutung ‚animal‘ (Lebewesen), andererseits anknüpfend an den Gesang und die Transzendenz mit ‚anima‘ (Hauch, Geist).
 
v.30f: Mit dem Schwan Vom Avon wird auf Shakespeare und dessen Geburtsort Stratford-upon-Avon verwiesen, mit dirkäisch auf Pindar und die Quelle ‚Dirke‘ bei seinem Geburtsort Theben. In der deutschen Tradition wird seit Lessings Schriften zur Dichtkunst Shakespeare der ’süße Schwan von Avon‘ (zur Abgrenzung gegen Racine und Corneille) genannt.
 
v.30 genuin: in der Bedeutung von ‚angeboren‘, ‚echt‘ und ‚unverfälscht‘ wird die vorhergehende ironische Charakterisierung der Beobachter aufgehoben und das genus des Hohen Tons der Ästhetische(n) Schwäne vorbereitet.
 
v.33ff: Der Gesang der Singschwäne (und von Shakespeare und Pindar) überträgt sich auf die muskulären / Spannungen der Stimmbänder im Kehlkopf. Der Zuhörer empfindet sympathetisch dieselben Gefühle wie die Verursacher. ‚Sympathetische Magie‘ sind magische, religiöse oder therapeutische Handlungen, die auf der Annahme beruhen, dass zwischen äußerlich ähnlichen Dingen eine Verbindung (Sympathie) besteht und sich diese einander daher beeinflussen.
 
v.36ff: noch effektiver funktioniert der Refrain der Haribo-Werbung, weil er die Menschheit (anthropogen, kollektiv) zu Verzückungsschauern vereint (Vollpartizipation), die auf Erinnerungen an Lieder der Kindheit zurückgehen (Oralretrograd). Die Häufung von wissenschaftlichen Fremdwörter klagt deren Missbrauch in der Werbesprache an.
 
v.39f: Dass die Werbebranche auf Geist,Körper und Seele (Ganzkörperreim) einwirken möchte, wird vom lyrischen Ich – ironischerweise – in die Nähe eines religiösen Erlebnisses gerückt (uns verklärt) und führt zum Verzückungs-Ausruf wow.
 
v.40ff: Die parallele Körperhaltung (v.30) und die sympathetisch(en) muskuläre(n) Spannungen (v.34f), die der Werbespruch missbräuchlich in uns erzeugt, führen dazu, dass wir schlucken, was uns verkauft wird: ohne Selber zu kauen!