In Revier

Überblickskommentar:
 
Die Versgruppe eins entwirft mit einem Anklang an die Erschaffung Evas eine kurze Evolutionsgeschichte der Erde, die in dem Wunsch mündet, die Schwere im Gedicht aufzuheben und die Transzendenz zu gebären.- In der zweiten Versgruppe wird in dem Staubwirbel der biblische Anklang wieder aufgenommen und das Gedicht dient als Lockvogel, mit dessen Hilfe die Transzendenz einfangen werden kann (gelingt) bzw. nicht (Vergebens). Die contradictio in adverbo (Vergebens gelingt) scheint die mystische Möglichkeit zu eröffnen, sich in dem Paradox der Transzendenz zu nähern .- Die dritte Versgruppe erörtert die Möglichkeit des Eindringens der Transzendenz ins Hirn, an der Schnittstelle von Energie und Fasern kann sich Transzendenz ereignen.- Die Kursiva fordern ein poetologisches Programm für das Gedicht: es möge fruchtbar und leicht sein und die Stellung des lyrischen Ichs zwischen Immanenz und Transzendenz ‚authentisch‘ abbilden.
 
 

IM REVIER

 
Felswände überprägt

Scharfgratig mit Riesenrippen
Sandboden hoch-
Wogend in voluminösen
5Weichteilen von Wanderdünen
 
Lass Schweres sich wölben −

 
Weit offen die Lockvogelvoliere

Dass glitzernde
Staubwirbel

Wenn sie hereinwehen
10Ihre Beringung dass sie
Vergebens gelingt
 
Flieg ohne Gewicht −

 
Blickfangende Bilder

Und Energiefluss zuweilen
15
Hinter der Blut-Hirn-Schranke

Mit Glück integriert er senkrecht
Entflammbare Fasern
 
Sei Nacht und dasselbe

Wandellose Licht wie ich!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel Im Revier gibt den Handlungsbereich des lyrischen Ich an. Indirekt bereitet er die Vorstellung einer Jagd des lyrischen Ich vor: Das Wild wäre die Transzendenz. Die Herkunft des Wortes Revier aus dem mittelniederländischen riviere oder altfranzösischen rivière für die ‚Ufergegend‘ oder den ‚Küstenabschnitt‘ verweist auf die Stellung des Gedichtes im Übergangsbereich zwischen Transzendenz und Immanenz.
 
v.1ff: Die Versgruppe zeigt ein Bild der Evolution der Erde: Von Gebirgen, die von der Eiszeit geschliffen worden sind (Riesenrippen), über Sandboden, der durch Erosion entsteht, bis zu den Wüsten mit Wanderdünen. ‚überprägt‘ wird dieses Bild durch Anspielung auf die biblische Erschaffung Evas (rippe). Die auffallende W-Alliteration (v.4f) und die verwendete Begrifflichkeit (hoch-/Wogend in voluminösen / Weichteilen) wecken Assoziationen an weibliche Körperformen.
 
v.6: Der Vers zieht aus den Bildern der ersten Versgruppe ein Fazit: Die Undringlichkeit der Materie (Schweres) wird in einen Entstehungsprozess aufgelöst, der in die Vorstellung eines gewölbten Leibes, einer Schwangerschaft mündet. Der Vers lässt sich als Aufforderung lesen, die Transzendenz (im Gedicht) hervorzubringen.
 
v.7ff: Entfaltet wird das Bild einer Jagd mit Lockvögeln: Die Staubwirbel stehen für die anzulockende Beute, die beringt werden soll. Die Lockvogelvoliere kann als Gedicht verstanden werden, das Weit offen für dass Wehen des Geistes (Pneuma, hereinwehen) und für dieTranszendenz (glitzernde Staubwirbel) ist. Die Vergebens gelingde Beringung ist ein Versuch. die Transzendenz einzufangen. Die ‚contradictio in adverbo‘ (Vergebens gelingt) lässt sich dreifach auslegen: Entweder das Einfangen misslingt, oder es gelingt, oder es gelingt im mystischen Sinne gerade in der contradictio.
 
v.8 Staubwirbel: Die Staubwirbel erinnern an die Staubsäule (nachts Feuersäule), mit der der Herr den Weg ins Gelobte Land weist (2.Moses 13).
 
v.12: Während in der ersten Kursiva Schweres fruchtbar gemacht werden soll, werden in der zweiten für das Gedicht Flügel erbeten.
 
v.13ff: Man könnte wie in der spirituellen Tradition den Menschen als Verbindung von Körper, Geist und Seele auffassen. Dabei würden hier die Fasern der Ebene des Körperlichen, der Energiefluss der des Geistigen und die Bilder der des Seelischen entsprechen. Nur zuweilen und Mit Glück gelingt dem Menschen die Verbindung zur Transzendenz. Blickfangende Bilder knüpfen an die die Transzendenz einfangende Lockvogelvoliere. senkrecht / Entflammbare Fasern evozieren die in Versgruppe Zwei beschworenen Staubwirbel, die nachts zur Feuersäule werden.
 
v.15 Hinter der Blut-Hirn-Schranke: Die Blut-Hirn-Schranke ist die selektierende physiologische Barriere zwischen den Flüssigkeitsräumen des Blutkreislaufs und des Zentralnervensystems. Hier kann sie als Schnittstelle zwischen Materie und Geist verstanden werden. Zugleich kann sie als Metapher für das Verhältnis zwischen Immanenz und Transzendenz gesehen werden.
 
v.18f: Das lyrische Ich bittet darum, dass sein Gedicht die in ihm vorhandenen Gegensätze von Nacht (Immanenz) und Wandellosem Licht (Transzendenz) zusammenfügt. Eine andere Möglichkeit ist, dass das Gedicht in einem mystischen Verständnis selber zum Leser spricht und die Gegensätze von Finsternis und Helligkeit in der Wandellosigkeit zeitlos werden.