Zurück in die Ferne

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Das lyrische Ich hat den Wunsch, eine ursprüngliche Transzendenznähe zurückzuerlangen, von der sich die Moderne – u.a. durch Wissenschaft und Technik (Fernsehen) – entfernt hat. Zentrales Motiv ist das Auge und seine Verbindung zur Sonne.
 
Die erste Versgruppe, die lauter Fernseh-Sendungen zitiert, reduziert die im Gedichttitel genannte Ferne (ein Sehnsuchtsmotiv) auf das Fern(-)Sehen der Moderne als ein Surrogat dieser Sehnsucht. Dagegen gestellt wird in der 2. VG der Blick der Antike auf die Sonne, das Feuer als Urelement. Das menschliche Auge als wahrnehmendes Organ wird in der 3. VG thematisiert. Die 4. VG schließt mit der Rückkehr in die Antike an die 2. VG an und zeigt Hoffnung, die mit dem Aufgang des ‚heilstiftenden‘ Helios, der Sonne verbunden ist. In der 5. VG wird das Bild des Lebensschiffes mit dem Wunsch des lyrischen Ichs verknüpft, zu seinem transzendenten Ursprung, dem Licht, zurückzugelangen. Dabei steht das Auge pars pro toto für den ganzen Menschen. Das Verlangen, den Ursprung zur erreichen, zeigt sich in der transzendenzfernen Moderne (VG 6 und 7) an den Wissenschaftlern des CERN, die versuchen, zu den Elementarteilchen vorzudringen. Ein Bild für die Aufhebung dieser Transzendenzferne stellt die Lacerta (Eidechse) aus der Naturlehre des Physiologus dar (VG 8). Die letzte VG kehrt zu den Fernseh-Sendungen zurück: Das moderne Auge weidet sich an Krimis und Brutaltäten bis zur Blindheit (‚Grauer bzw. Grüner Star‘).
 
 

ZURÜCK IN DIE FERNE

 
Und werden wir gleich mal zuerst

Den Notruf Aktzeichen XY
Ob endlich das
Sparten-CERN

TV-total-Expeditions
lügen

5ins Tierreich diese Bestechungs-
Sportschau für
drastisch getrübte

Glaskörper denn jenes
 
Auge das einst
Kündend den
Akrigentinern
glühte

10
Weltenlaterne

Mit
Schöpfungsurfeuerlicht
reine

 
AUSSTÜLPUNG ists des Gehirns
mit
Sicht-

Rändern
gallertigen Kern

Umzitternd der Sehnsuchtskräfte
15Auf den
Objektwirrwarr
richtet

 
Und lässt
Lilybäum
an jede Flagge

Taghelles Hoffnungsglück heften
Wenn beim Erwachen des Helios
Sie aufsteigt am Kai in Karthago
 
20
Segel klar

Für die Sonne Leinen los
Mit dem Wind dort wo Lichtformen
Wohnen bringt mir das Auge hin offenbar
 
Genprogrammierte Fernsichtnostalgik

25Die ja auch via
SUPERPROTONSYNCHOTRON

Schafft sie sich high tech hoch-
Optimierte Ausblicke
 
Auf
absolut Inkommensurables

Fromm vorm ergatterten Guckloch

30Im
PLANCKSCHEN SCHLAGBAUM

Lacerta gen Osten
falls halb

 
Blind sie noch einen Mauerspalt trifft
Bei Anbruch der Nacht um zu reiner Schau
Das Lichtgestirn zu empfangen
35Früh wenn es
aufersteht heilstiftend

 
Über die
Hafenkante
dort
Ziehen sich
graugrüne Stare

Criminal Minds
rein bis Horror-

Ultra-HD
Kommissar Save

40(Der aus dem
Benetton-Block
)

Mit
Show-down-Hochwasser-

Hosen uns
wollschockt

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel spielt an auf den Film „Zurück in die Zukunft“ (Originaltitel: Back to the Future), eine Science-Fiction-Filmkomödie des Regisseurs Robert Zemeckis (1985), in dem es um eine Zeitreise geht. Auch das Gedicht reist durch verschiedene Zeiten (Gegenwart: Fernsehen und Teilchenphysik; Mittelalter: Physiologus; Antike: Sizilien; eine ‚ferne‘ Zeit, in der dem Auge noch ein Blick auf Transzendentes möglich war).
 
v.1ff: Die ganze erste Versgruppe spielt auf TV-Sendungen an: Notruf (v.2) Hafenkante (v.36) ist eine Krimiserie des ZDF / Aktenzeichen XY (v.2) ist eine Fernsehreihe im ZDF, in der es um die Aufklärung von Verbrechen geht / TV-total (v.4) eine von Stefan Raab moderierte Fernsehshow auf ProSieben / Expeditionen … ins Tierreich (v.4f) ein Naturfilmreihe des NDR / Sportschau (v.6) eine Sportsendung der ARD. Die Versgruppe reduziert damit die im Gedichttitel genannte Ferne (ein Sehnsuchtsmotiv) auf das Fern(-)Sehen der Moderne (ein Surrogat der Sehnsucht).
 
v.3 Sparten-CERN: Zusammensetzung aus Sparten-TV und dem Kernforschungszentrum CERN in der Schweiz (vgl. zu v.25ff)
 
v.4ff lügen … / … Bestechungs- / … drastisch getrübte: Kritik an den mit hohen Einschaltquoten verbundenen TV-Sendungen
 
v.6f drastisch getrübte / Glaskörper: Einerseits der gewölbte gläserne Bildschirm der älteren TV-Geräte, andererseits Überleitung zum in der folgenden Versgruppe genannten Auge (mit der Augenkrankheit ‚Grauer Star‘ (vgl. zu v.37))
 
v.9 Akrigentiner: Bewohner der sizialischen Stadt Agrigent (gr. Akragas), Geburtsort des griechischen Philosophen Empedokles (* um 495 v. Chr.; † um 435 v. Chr.)
 
v.10 Weltenlaterne: Die Sonne als Ursprung des Lichtes wird parallelisiert mit dem Auge als Wahrnehmungsorgan für die Welt. So auch Goethe in dem Gedicht „Wär nicht das Auge sonnenhaft“.
 
v.11 Schöpfungsurfeuerlicht: Synonym für die Sonne. Neben der 4-Elementetheorie des Empedokles wird auf die Schöpfungsvorstellung Heraklits angespielt, in der einzig das Feuer das Urelement der Welt ist.
 
v.12 AUSSTÜLPUNG ists des Gehirns: Bei Wirbeltieren entwickelt sich das Auge durch eine Ausstülpung der Zellen, die später das Gehirn bilden.
 
v.12f mit Sicht- / Rändern: die Netzhaut
 
v.13f gallertigen Kern / Umzitternd: den Glaskörper des Auges
 
v.14f der Sehnsuchtskräfte / Auf den Objektwirrwarr richtet: Der ‚Kern‘ des Auges versucht ’sehnsüchtig‘ im Chaos der Objekte eine Ordnung zu finden.
 
v.16ff Lilybäum: Marsala auf Sizilien wurde 397 v. Chr. unter dem Namen ‚Lilybaion‘ von den Karthagern als Festung gegründet. Sie galt als uneinnehmbar und wurde mehrfach belagert, so etwa im Ersten Punischen Krieg von den Römern. Eine morgens am Kai in Karthago gehisste Flagge, die Hilfe gegen die Belagerung versprach, wäre von Lilybäum aus zu sehen gewesen.
 
v.20ff: Die dieser Versgruppe zu Grunde liegende Metapher der Schifffahrt (Segel klar (v.20), Leinen los (v.21), Mit dem Wind segeln (v.22)) zeigt dem Auge einen Weg in die Transzendenz (Für die Sonne (v.21), wo Lichtformen / Wohnen (v.22f). Die Sonne als Ursprung des Lichtes ist in der platonischen Philosophie Schöpferin allen Lebens und aller Ideen (der Lichtformen). Goethes Gedicht „Wär nicht das Auge sonnenhaft“ knüpft daran an. Die Sonne wird mehrfach im Gedicht genannt: Weltenlaterne (v.10), Schöpfungsurfeuerlicht (v.11), Helios (v.18), Sonne (v.21) und Lichtgestirn (v.34). Die Stellung von offenbar am Schluss der Versgruppe erinnert daran, dass auch Christus als ‚Lichtform‘ in der Welt erscheint.
 
v.24 Genprogrammierte Fernsichtnostalgik: moderne Formulierung für den Gedanken, dass das Auge ’sonnenhaft‘ ist
 
v.25 SUPERPROTONSYNCHOTRON: Gemeint ist ein Teilchenbeschleuniger für Protonen (z.B. der LHC im CERN), mit dem dem menschlichen Auge ein high tech ‚hochoptimierter Ausblick‘ in die subatomare Welt möglich wird. Dieser Ausblick steht im Gegensatz zum Blick auf die ferne Sonne, die uns mit einem ständigen Strom von Protonen und Elektronen versorgt.
 
v.28 absolut Inkommensurables: Dem Inkommensurablen fehlt das gemeinsame Maß. Die Ausblicke in die subatomare Welt (Quantenphysik) sind mit den Theorien klassischen Physik nicht erklärbar. Übertragen auf die Transzendenz kann man sagen, dass die Transzendenz für die realistische Weltanschauung nicht fassbar ist.
 
v.29 Fromm vorm ergatterten Guckloch: Gemeint sind die wissenschaftsgläubigen Forscher am CERN, die um Zeit an den Beobachtungspositionen am Synchroton kämpfen müssen.
 
v.30 PLANCKENSCHEN SCHLAGBAUM: Die Planck-Einheiten (z.B. Gravitationskonstante, Lichtgeschwindigkeit, Plancksches Wirkungsquantum), die minimale Grenzen (einen ‚Schlagbaum‘ für z.B. für Länge und Zeit) markieren, bis zu denen wir Ursache und Wirkung unterscheiden können, das heißt hinter denen die bisher bekannten physikalischen Gesetze nicht mehr anwendbar sind.
 
v.31ff Lacerta gen Osten … Das Lichtgestirn zu empfangen: Lacerta ist die lat. Bezeichnung für die Eidechse. Zitiert wird die Parabel ‚Von der Sonnen-Echse‘ aus dem „Physiologus“, einer frühchristlichen Naturlehre, in der Pflanzen, Steine und Tiere beschrieben und allegorisch auf das Heilsgeschehen hin gedeutet werden. Die alternde, blind werdende Eidechse sucht sich einen gegen Osten geöffneten Mauerspalt, um in die aufgehende Sonne zu blicken und so von ihrer Blindheit geheilt zu werden. So soll der Mensch in die aufgehende Sonne Christus (Lichtgestirn v.34) schauen, um von der Finsternis in seinem Herzen geheilt zu werden.
 
v.35 aufersteht heilstiftend: Durch die Wahl von aufersteht statt des üblichen ‚aufgehen‘ bei der Sonne wird deutlich auf Christus verwiesen.
 
v.36 Hafenkante: zur TV-Sendung „Notruf Hafenkante“ vgl. zu v.1ff
 
v.37 graugrüne Stare: Mit der Anspielung auf die Augenkrankheiten ‚Grauer bzw. Grüner Star‘ wird das Motiv der Blindheit aus der Eidechsen-Parabel (v.31ff) auf die Menge der Fernsehzuschauer übertragen. Damit werden die Zuschauer als Transzendenz-fern charakterisiert.
 
v.38 Criminal Minds: US-amerikanische Fernsehserie auf SAT1
 
v.39 Ultra-HD: digitales High-Definition-Video-Format, das etwa der vierfachen HDTV-Auflösung entspricht
 
v.39 Kommissar Save: Lat.: commissare = „entsenden“, „beauftragen“ und engl. save = „retten“ verweist darauf, dass hinter dem Fernsehkonsum eine Sehnsucht nach Erlösung (bzw. dem Retter, Christus) steht. Zugleich wird auf den Fluss Save auf dem Balkan angespielt (s. zu v.41).
 
v.40 Benetton-Block: Benetton ist ein italienisches Textil- und Modeunternehmen. Das Unternehmen stellt auch Schreibblöcke mit dem typischen Design her.
 
v.41f Show-down-Hochwasser- / Hosen: Angespielt wird auf das Hochwasser der Save 2014 (vgl. zu v.39) und auf die biblische Sintflut. Diese Untergangsvision wird durch den Begriff Show-down in die Moderne transferiert. Die Hosen verweisen auf den Mode- und Textilbereich (Benetton). Die Hochwasser-Hosen verweisen ebenfalls auf die Hauptfigur Alex in St. Kubrick Film „Clockwork Orange“ (vgl auch zu v.42).
 
v.42 wollschockt: Abwandlung des im Roman „Clockwork Orange“ benutzten Begriffs ‚tollschocken‘ für ‚Gewalt anwenden‘. Die Nutzung schockierender Bilder für Werbezwecke durch die Firma Benetton scheint eine Sensation hervorrufen zu wollen, durch die die moderne Transzendenz-Ferne unfühlbar gemacht werden soll. ‚Wolle‘ verweist auf Schaf als Lamm Gottes.