Allzeit

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Das Jahresende (VG 1) wird parallelisiert mit dem Ende des Sonnensystems (VG 2), beide Zeit-Enden verweisen auf einen transzendenten Ursprung (VG 3), nach dem in den Kursiva vom lyrischen Ich gefragt wird.
 
 

ALLZEIT

 
Gelbbraun stockender
Stoffstrom mit dem sich
Ein Kernschmerz die
Spätholz

Aktivität reduziert in immer
5Engeren
Jahresschlingen

 
Fuß sag wie trugst du −

 
Hinschmelzend
indessen
Merkur
Und Venus errötend verglüht
Spielen sie mit der
Sonne

10Eiserner Kugel eis-
Ausblühendes Pollenkorn

 
Aug wie du erkanntest −

 
Denn
Raumzeiteröffnung
ist
Wo
Strahl sich mit Material

15Plötzlich als Gottespunkt präsentiert
Verdichtete Energie
die
Krone verlichtet

 
Sag
Herz
wie schlugst du

Bevor du entstandest?
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel kann als ‚jederzeit‘ oder als ‚Zeit des Weltalls‘ und somit auch als ‚Ursprungs der Zeit‘ gelesen werden.
 
v.3 Spätholz: Spätholz entsteht im Herbst beim Wachstum der Bäume. Es ist Gelbbraun und unterscheidet sich im Ton vom Frühholz. Beide Holze bilden zusammmen einen Jahresring. Im Frühjahr ist der Stoffstrom (Wasser und Mineralien) stärker als im Herbst. Die Aktivität ist reduziert, sie ’stockt‘ also.
 
v.5: Im Gegensatz zu den wachsenden Jahresringen der Bäume wird die Lebenszeit des Menschen geringer, sodass sich seine Jahresschlingen auf den Tod hin ‚verengen‘.
 
v.6: Die an den Fuß gerichtete Anrede du ist sowohl auf den Baum (VG 1) als auch auf den Menschen zu beziehen. Es wird die Frage nach der Tragfähigkeit aufgeworfen.
 
v.7 Hinschmelzend: Bezogen auf den in dieser Versgruppe geschilderten Vorgang des Verglühens der Sonne.
 
v.7 indessen: gehobener Begriff für ‚inzwischen‘. Der Zeitbegriff der ersten Versgruppe, in der das Wachstum eines Baumes in ‚Jahresringen‘ geschildert wird, wird ausgeweitet auf eine kosmische Zeit, in der die Sonne verglüht.
 
v.7ff Merkur / Und Venus … / … Spielen sie mit der Sonne / Eiserner Kugel: Die astrophysikalische Grundlage diese Bildes ist die Sonnenentwicklung: die Sonne wird in ca. 8 Millarden Jahren ihren Umfang über die Bahn des Merkur und der Venus ausweiten (dadurch ’schmelzen‘ bzw. ‚erröten‘ beide), bevor sie selbst verglüht. Das Endstadium der Sonne ist dann als eine ‚eiserne Kugel‘ gedacht. Das mythologische Bild der mit der Sonne spielenden Götter verweist einerseits auf eine Apoklypse – das Ende des Kosmos -, anderseits aber auch darauf, dass in der Liebe (der beiden Götter zueinander) sich Anfang und Ende zu einem Neuen zusammenschließen (Vgl. dazu auch zu v.10f).
 
v.10f eis- / Ausblühendes Pollenkorn: Ausblühen im Gegensatz zu ‚Verblühen‘ bezieht sich auf Anorganisches. Dringt Wasser in ein Bauwerk ein, löst es in mineralischen Baustoffen Salze heraus und diese kristallisieren an den Bauwerksoberfläche (Ausblühen). Das Pollenkorn verweist auf Organisches und knüpft damit an die erste Versgruppe an. Gleichzeitig werden die Jahrszeiten Winter (eis-), Frühling (Pollen), Sommer (blühendes) und Herbst (korn) zu einer Art Allzeit zusammengezogen.
 
v.12: Anknüpfend an das Sonnenbild der zweiten Versgruppe wird auf Goethes Gedicht „Wär nicht das Auge sonnenhaft“ angespielt, dem der Gedanke zu Grunde liegt, dass die Erkenntnis des Göttlichen auf einer Teilhabe am Transzendenten beruht. Im Alten Testament wird ‚Erkennen‘ mit ‚Zeugen‘ gleichgesetzt. Das ‚erkennende Auge‘ im Neuen Testament verwandelt den organischen Akt des Zeugens in den spirituellen Akt der Liebe (Vgl. Luk. 1,34: „Maria sagte zu dem Engel: Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“).
 
v.13 Raumzeiteröffnung: Die getrennten pysikalischen Größen Raum und Zeit werden von Einstein in der Relativitätstheorie als Raumzeit zusammengefasst: Damit öffnet sich eine neue Anschauung auf die Welt. Mit Eröffnung wird an den Beginn des Kosmos, die Enstehung von Raum und Zeit, angespielt. Gleichzeitig lässt sich die ‚Öffnung‘ von Raum und Zeit als Aufhebung, als Ende der beiden diesseitigen Größen interpretieren.
 
v.14f: Mit Strahl und Material, die sich gemeinsam ‚präsentieren‘, wird an die Äquivalenz von Energie und Materie in Einsteins bekannter Gleichung e=mc² erinnert. Einige Neurobiologen und Hirnforscher versuchen die biologische Grundlage der Spiritualität zu lokalisieren, finden sie im Frontlappen des Gehirns und nennen sie den Gottespunkt. Im Gedicht wird eine mystische Erfahrung der Vereinigung von Energie (Strahl) und Materie (Material) erzeugt, die zu einer ‚plötzlichen‘ Präsenz des Transzendenten, zu einem Gottespunkt führt.
 
v.16 Verdichtete Energie: Das Gedicht ist poetologisch gesehen Verdichtete Energie, der Ort, an dem die Transzendenz erscheint.
 
v.17: Neben der Baumkrone, die im Herbst ‚lichter‘ wird (Anknüpfung an VG 1), wird hier auf das Hirn als das den Menschen krönende Organ angespielt, in dem sich im Gottespunkt (vgl. zu v.14f) die Transzendenz als Licht offenbart. Gleichzeitig wird auf den Menschen als Krone der Schöpfung und damit auch auf Christus als das in der Welt erscheinende Licht verwiesen.
 
v.18f: Das lyrische Ich fragt sich hier (wie auch schon in den Versen 6 und 12) nach dem Ursprung des Seins. Als Zentrum allen Seins wird hier das Herz angesehen.