Coda

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Fleischkonsum in Mythos und Moderne
 
Versgruppe 1 schildert den Kauf eines Burgers in einem Fastfood-Drive-in. Dieser Fleischkonsum wird mit dem ungewöhnlichen Fleischfressen der Pferde des Diomedes parallelisiert (Vg.2). Das übliche Pferdefutter Heu ist in der 3. VG durch das Monet-Bild „Der Heuhaufen“ dargestellt. Vor diesem Bild hatte Kandinsky sein mystisches Erlebnis, das ihn zur nicht-gegenständlichen Malerei führte. Diese Loslösung vom Gegenständlichen, vom Materiellen, dieses Ende, das auch die biblische Apokalypse prophezeit, wird für die moderne Konsumwelt erwartet (4.VG). Mit dem Philomela-Mythos (VG 5), in dem das Fleischfressen ebenfalls eine Rolle spielt (s. zu v.20), wird die Aufgabe des Dichters, die Verbindung zur Transzendenz zu erhalten, thematisiert. Wenn diese nicht gelingt, erstarrt die Kehle, die Zunge wird verspeist und das Jüngste Gericht droht (VG 6). Aus Angst vor dieser Apokalypse versuchen sich Forscher an der Wiederbelebung von Rattenherzen (VG 7) oder verlassen sich auf die scheinbar unbegrenzte Größe des menschlichen Hirns (VG 8), um in der Information zu überdauern. So getröstet geht es auf das nächste Straßenfest mit dem obligaten Fleischkonsum (VG 9), allerdings mit einer versteckten Warnung vor der Sünde.
 
 

CODA

 
One pound ground beef

Hoch wie der
Eisberg-

Salat und vielfache Schichten
Amerika-Käse

5Und alles mit
Links

Rechts muss uns wieder zum nächsten
Drive-in
manövrieren
 
So dass der
Wahrsager
kaum irrte

Von wegen der Stärke
fleischfressender

10Pferde mit denen der
Weltlauf

Gula
sich ausgaloppiert

 
Ergänzend
Kandinsky
dem wiederum

Vor metaphorischen Heuhaufen
Mystice
aufging

15
Aus ists
mit dieser blumigen

 
Letztwelt aus Plastik und Alu-Schrott
Die
siebenschlündig
sich reinschlingt

Ihr Ende aus Einweg-
Zornschalen to go

 
20
Philomela

Wirst getötet ehe noch der Mai
Herum flöte fort wenn du nicht flötest bleibt
Mir ach der Frühling stumm und die
Kehle

 
Beginnend in Prag muss mit erstarrter
25Nachtigallzunge dem Schlemmerleib
Gottes Gericht ankündigen
Diskret à la GALLERY-Carte
 
Aufs Herz
setzt sterbensverzagt

Da mancher von Ratten weil gründlich
30Silicagelgetrocknet schon
Voll REHYDRIERT sichs am dritten Tag
 
Doch
BRAIN-TRUSTER
die hoffen aufs Hirn und dass es

Mit immerhin 100 Billionen
Fackeln den Sternen selber sich noch
35Andienen könnt auf dem
Milchstraßen

 
Fest
wo wir
selig beschwingt
Rind pfundweise roh
Geschmort gegrillt
Gesotten gebraten an Kopf-
40Salat grünknackig wie
Blätter vom
Kapok-

Baum beidhändig uns reinschieben
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Coda in der Musik: der separate Schlussteil eines Musikstückes
 
v.1: d.h.: Ein Pfund Rinderhack
 
v.2 Eisberg-: Die Trennung des Eisberg-Salats suggeriert den Untergang der Titanic und ihr Sinken auf den ground.
 
v.4: Der Vers kann auch als ironischer Kommentar zu aus den USA übernommenen Verhaltensweisen gelesen werden.
 
v.5f Links / Rechts: Rechte Hand am Lenkrad, in der linken Hand den Burger
 
v.7ff: Die Verbindung zwischen der 1. und 2. Versgruppe erfolgt über die PS (Pferdestärke) des Autos im Drive-in.
 
v.8 Wahrsager: Gemeint ist das delphische Orakel, das dem Herakles weissagt, dass er die zehn, ihm von Eurytheus auferlegten Aufgaben erfüllen müsse, um unsterblich zu werden. Hier geht es um die 8. Aufgabe: die Pferde des Diomedes.
 
v.9f fleischfressender / Pferde: Die Pferde des Diomedes erhielten ihre Stärke dadurch, dass dieser ihnen in die Stadt kommende Fremde zum Fraß vorwarf.
 
v.10f Weltlauf / … sich ausgaloppiert: Hingewiesen wird auf die Apokalypse, z.B. auch auf den Dürer-Stich ‚Die apokalyptischen Reiter‘ (Off. 6, 1-8) (s. auch zu v.17ff).
 
v.11 Gula: Die Todsünde der Völlerei
 
v.12ff Kandinsky … / Vor metaphorischen Heuhaufen: Der Heuhaufen als Pferdefutter verknüpft die Versgruppen 2 und 3. Auf einer Ausstellung 1896 sah Kandinsky Monets Bild „Der Heuhaufen“ und ärgerte sich, weil er den Gegenstand erst durch die Bildunterschrift erkannte. Dadurch hatte er eine Erleuchtung: ‚Gegenständliche Malerei ist diskreditiert‘. Das lyrische Ich scheint hier mit dem Ausdruck Mystice und dem folgendem Aus ists die Ablehnung des Gegenstandes in der Malerei zu einer Ablehnung des Materiellen überhaupt auszuweiten.
 
v.13 Mystice: Der Ausdruck ‚Mystik‘ bezeichnet ein Strömung, in der Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer göttlichen oder absoluten Wirklichkeit sowie die Bemühungen (u.a. durch Ausschaltung der Sinneswahrnehmungen), eine solche Erfahrung zu erreichen, zusammengefasst werden.
 
v.14 Aus ists: Aus ists nicht nur mit der gegenständlichen Malerei sondern, wie die nächste, auf die Apokalypse verweisende Versgruppe zeigt, Aus wirds bald auch mit der Plastik, Alu- und Einweg-Kultur der Gegenwart, der Letztwelt, sein.
 
v.17 siebenschlündig: Der siebenköpfige Drache der Letztwelt (v.16), der Apokalypse (Off. 12,3)
 
v.19 Zornschalen to go: Die Zornschalen der Apokalypse (Off. 15,7), hier als Einweg-‚Coffee to go‘ aus unserer Kultur des Untergangs
 
v.20 Philomela: In der griechischen Mythologie die Schwester der mit Tereus verheirateten Prokne. Sie wird von Tereus vergewaltigt und, um sie zum Schweigen zu bringen, schneidet er ihr die Zunge heraus. Nachdem Prokne davon erfahren hat, bringen die Schwestern den Sohn des Tereus um und lassen ihn das Fleisch essen. Als Tereus das bemerkt, verfolgt er die Schwestern. Bevor er sie erreicht, verwandelt Zeus die drei in Vögel: den Wiedehopf, die Schwalbe und die Nachtigall (vgl. v.25).
 
v.20ff: In dieser Versgruppe nutzt das lyrische Ich den Mythos als Quelle der Inspiration. Philomela als singende Nachtigall ist Sinnbild der Muse. Solange der Mythos lebendig ist (Mai), besteht Hoffnung auf Wiederkehr (Frühling). Wenn aber der Mythos – wie es in der Gegenwart droht – stirbt, reißt die Verbindung zur Transzendenz ab und es beginnt die Zeit der Apokalypse.
 
v.24ff: Wenn der Mythos gestorben ist, muss das lyrische Ich (mit seiner Kehle und erstarrter / Nachtigallzunge) das Gottes Gericht ankündigen. Prag als Ort der Ankündigung verweist auf die Schlussszene des Don Giovanni, in der der erstarrte Komtur Don Giovanni von einem Schlemmermahl in die Unterwelt zieht. Auf die Sünde Gula (vgl. v.11) wird auch durch das Prager Café „Gott Gallery“, das Karel Gott (der „Goldenen Stimme“) gehörte, verwiesen. Dort stand u.a. ein Gericht „Nachtigallzungen“ auf der GALLERY-Carte (http://www.mz-web.de/kultur/tschechien-karel-gott-zeigt-selbstgemalte-fantasien-8994932).
 
v.28ff: An das Gottes Gericht und die anschließende Wiederauferstehung des Fleisches knüpft die moderne Wissenschaft z.B in einem Experiment zur Entwicklung einer Konservierungsmethode mit Wiederbelebung an. Kunihiro Seki und Masato Toyoshima von der Kanagawa-Universitat haben Rattenherzen zunächst »eingezuckert«, dann auf Silicagel getrocknet und schließlich in Fluorkohlenwasserstoff unter Luftabschluss aufbewahrt. Nach zehntägiger Lagerung bei Kühlschranktemperatur wurden die Herzen problemlos REHYDRIERT und wiederbelebt (https://application.wiley-vch.de/books/sample/352732738X_c01.pdf, S.5f). Auf die Auferstehung Christi wird dagegen mit der Zeitangabe am dritten Tag verwiesen (im Gegensatz zu den 10 Tagen der Rattenherzen).
 
v.32ff: BRAIN-TRUSTER ist abgeleitet vom ‚Brain-Trust‘, der Denkfabrik. Die modernen Wissenschaftler vertrauen (to trust) auf die Fähigkeit des Gehirns (mit seinen immerhin 100 Billionen Synapsen) den Kosmos (Milchstraßen) zu erhellen (Fackeln) und den individuellen Tod durch das ’sich andienende‘ Bewusstsein, die Information, selig beschwingt überwinden zu können.
 
v.35 Milchstraßen-: Das Milchstraßensystem besteht aus etwa 100 bis 300 Milliarden Sternen. Damit ist die Sternenmenge kleiner als die Synapsenanzahl des Hirns.
 
v.36ff: Mit dieser Versgruppe wird an das Anfangsbild des fleischfressenden Autofahrers angeknüpft: Diesmal wird allerdings auf einem Straßenfest gefeiert, das als moderner Ersatz der religösen Dimension fungiert (selig beschwingt).
 
v.41f Blätter vom Kapok- / Baum beidhändig uns reinschieben: Die Laubblätter des Kapokbaums sind handförmig gefingert. In der Mythologie der Maya stellt ein Kapokbaum den Weltenbaum dar, ähnlich der Weltenesche in der nordischen Mythologie. Der der modernen Konsumhaltung entsprechende Begriff reinschieben zeigt die Schändung des mythischen Erbes, der Weltesche. Angespielt wird auch auf die Ursünde, den Griff nach der Frucht vom Baum der Erkenntnis.