Spätmond

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Wunsch des lyrischen Ich über die sensorische und über die intelligible Wahrnehmung hinaus zu einer Erleuchtung zu gelangen.
 
Durch die Wahrnehmung einer Pappelgruppe werden über das rein Rezeptive des Auges hinaus neuronale Prozesse im Hirn angestoßen (VG 1), das Ich wird sich seiner selbst und seiner sensorischen Wahrnehmung bewusst (Kursiva). In der normalen Wahrnehmungswelt treten Auffälligkeiten auf, Risse, die den Intellekt herausfordern, einen Zeitenwechsel vorauszuahnen (VG 2), das Ich wird sich seines Geistes bewusst (Kursiva). Es hofft auf eine Bereinigung und Erhellung der Bereiche (VG 3), die ihm die Verbindung zur Transzendenz ermöglichen würden (Kursiva).
 
 
 

SPÄTMOND

 
Altpappelpopulationen

Fortschreitender
Hiebsreife

Wirkstoff
Dass Energie sich erzeugt
5Hinter dem
Netzhaut-Schaltkreis

 
Wach jetzt die Augen −

 
Wahrnehmungswelt der ein
Riss in den
Isolatoren

Auffälligkeiten
10Zieht er ihr ein Temperaturwechsel in der
Zukunft des Winds

 
Wach jetzt die
Stirnsicht −

 
Polzonen
die dunkel
Mit
Abraum
mit
Genfluss

15Dass Reifegrade
Ob sie sich runden
Dunkel die Polzonen
 
Wach
nun auch

Du auf −
Scheitellicht!

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der das Licht nur von der Sonne empfangende Mond symbolisiert die Transzendenzferne der Gegenwart, die als Spätzeit empfunden wird.
 
v.1 Altpappelpopulationen: Dass das lyrische Ich hier von der Wahrnehmung einer Pappel-Population getroffen wird, evoziert auch eine Beziehung zum Boddhi-Baum des Buddhismus, der Pappelfeige. Die über den Klang der Wortkombination ausgelösten Assoziationen kann man auf das Thema der Versgruppe, das Auge, beziehen: Es klingt die Pupille und die Papille (der Blinde Fleck im Auge) an.
 
v.2 Hiebsreife: Der Ausdruck Hiebsreife bezeichnet in der Forstwirtschaft den Beginn der Holzernte.
 
v.5 Netzhaut-Schaltkreis: Bereits auf der Retina (Netzhaut) existieren Schaltkreise, die z.B. das Wahrnehmen von Bewegungen oder das Farbsehen ermöglichen.
 
v.6: Die hier angesprochene Wahrnehmung entspricht in Platons Auffassung der Welt der Sinne (mundus sensibilis).
 
v.8 Isolatoren: Isolatoren in einem energetischen System dienen dazu, den Energiefluss zu regulieren und Einflüsse von außen zu unterdrücken.
 
v.11 Zukunft des Winds: Der Wind ist das traditionelle Bild für das Pneuma, die Transzendenz.
 
v.12 Stirnsicht: Gemeint ist hier der ‚mundus intelligibilis‘, der Bereich des Immerseienden, der der Vernunft zugänglich ist. In der buddhistischen Chakren-Lehre wird die Stirnsicht als sechstes Chakra, als ‚Drittes Auge‘ beschrieben.
 
v.13 Polzonen: Dem Makrokosmos Erde mit seinen beiden Polen entspricht der Mikrokosmos Mensch (vgl. Signaturenlehre), aus kosmischer Sicht ist der Kreis die Gestalt der Vollendung, die aus menschlicher Sicht in der Moderne noch im Dunkel liegt. Der Chiasmus weist als Formprinzip daraufhin, dass alles mit allem in Verbindung steht; eine Erkenntnis, die durch die moderne Quantentheorie bestätigt wird.
Anderseits können die dunklen Polzonen auch auf den modernen Menschen, der die Verbindung zur Transzendenz durch Abraum und Genfluss verloren hat, verweisen: sie können als das siebte Chakra, das Kronenchakra, das Scheitellicht verstanden werden, dessen Öffnung sich das lyrische Ich wünscht.
 
v.14 Abraum: Als Abraum werden im Tagebau die das Nutzmineral überdeckenden Gesteinsschichten bezeichnet.
 
v.14 Genfluss: Genfluss bezeichnet in der Evolutionsbiologie den Austausch genetischen Materials zwischen zwei Populationen.
 
v.18f Wach … / Du auf: Anspielung auf das von Bach vertonte Kirchenlied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“, insbesondere auch v.3: „Wach auf du Stadt Jerusalem“.
 
v.19 Scheitellicht: Das Kronen-Chakra der buddhistischen Lehre. Das lyrische Ich wünscht sich den Zustand der Erleuchtung, der zur kosmischen Einheit führt.