Planskizze

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Das poetologische Programm des lyrischen Ich verbindet die Planskizze einer Kathedrale mit dem Entwurf eines Gedichtes.
 
Der der Moderne entsprechende Blick eines Wissenschaftlers zeigt trotz aller Rationalität Flächen, die frei sind für das Eindringen der Transzendenz (VG 1). Als tragende Elemente sind sie wie ein Fels, auf dem ein Gebäude bzw. ein Gedicht errichtet werden kann (VG 2). Sowohl eine Kathedrale als auch das Gedicht schaffen Räume, in der die unwandelbare Transzendenz erfahrbar ist (VG 3). (Diesen Vergleich zwischen Kirchenfenster und Gedicht nutzt schon Goethe in „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“.) In den Kursiva wird das poetologische Programm des lyrischen Ich entworfen: Die Transzendenz sowohl tags zu denken (Verdacht) als auch nachts zu fühlen (blind bedrängt), solange bis sie sich dem lyrischen Ich zuwendet.
 
 

PLANSKIZZE

 
Teilobjekt-Blickmotorik

Durch Forschungsmaschinen: Wobei
Freiflächen

Ungläubig sich ergeben
5Für tragende Elemente
 
Süden
tags ein Verdacht

 
Gründungsfels
aber ist
In den
ariden
Gebieten
Der −
aufreißt

10Wo fahrig eine matter
Halm ihn berührt
 
Süden
nachts
blind bedrängt

 
Gleichmäßig
mittags Gewölbe
Und Stützkörper flutend
15Radfenster:
Die sind nun

Gelassen wie ihre Sonne
Licht ohne Lidschlag
 
Süden − ihn Tag und Nacht
Denken bis er mich denkt

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Planskizze als Entwurf einer Kathedrale bzw. eines Gedichtes
 
v.1f Teilobjekt-Blickmotorik / Durch Forschungsmaschinen: Charakterisiert wird durch diese Wort-Ungetüme, wie die Forschung ihren Blick auf die Realität richtet: Sie benutzt wissenschaftliche Instrumente, zerlegt die Realität in Teile und objektiviert sie.
 
v.2ff Wobei / … / … Elemente: Neben dem ‚eingeschränkten‘ wissenschaftlichen Blick ergeben sich Flächen, die frei für das Eindringen der Transzendenz sind. An diese Freiflächen glaubt die Wissenschaft nicht, für das lyrische Ich aber erweisen sie sich als tragende Elemente. Für den Dichter sind die Blätter die Freiflächen, auf die die Buchstaben als tragende Elemente geschrieben werden.
 
v.6: Aus der Sicht des lyrischen Ich wird Süden hier als Metapher für die Transzendenz benutzt. Sie bleibt am hellen Tage (der Rationalität) nur Verdacht (für die Forscher ein Aberglaube, für das lyrische Ich ein zu Erahnendes).
 
v.7ff Gründungsfels … / … / Der: Auch in den transzendenzfernen Gebieten (aride im Gegensatz zum transzendenz-nahen Süden) existiert ein ‚tragendes Element‘ für die Transzendenz (vergleichbar dem Gründungsmythos der katholischen Kirche, in dem Christus Petrus als Fels bestimmt, auf dem die Kirche errichtet werden soll).
 
v.8 ariden: ‚arid‘ lat.: trocken, dürr
 
v.9ff Der – aufreißt / … / … berührt: So wie Gras durch Fels wachsen kann (und ihn damit ‚aufreißt‚), so kann der Dichter mit seinem Schreibwerkzeug (Halm) – und also mit dem Gedicht – die Transzendenz ‚berühren‘. Dabei können fahrig (unkoodiniert) und matter (schwacher) als Bescheidenheitstopoi verstanden werden.
 
v.12: nachts, fern der Rationalität des Tages, wird das lyrische Ich (blind wie ein Seher) vom Süden, der Transzendenz, bedrängt.
 
v.13ff Gleichmäßig … / … / Radfenster: Beschrieben wird das stetige Eindringen des Lichtes durch Fenster einer Kirche. Die architektonischen Elemente Gewölbe, Stützkörper und Radfenster suggerieren das Bild einer Kathedrale.
 
v.15ff Die sind nun / … / Lidschlag: Durch die in die Wände eingelassenen Fenster dringt die Transzendenz (Sonne), ihr Licht ist wie das göttliche Auge unwandelbar (Gelassen und ohne Lidschlag). Die Augen griechischer Götterstatuen haben keine Lider.
 
v.19: Umrissen wird das poetologische Programm des lyrischen Ich: Die Transzendenz solange zu denken, bis sie sich dem lyrischen Ich zuwendet, vergleichbar dem Hegelschen Programm, das Absolute zu denken, bis man es ist.