Apfelrhapsodie

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Betrachtet werden zwei Aspekte der Liebe: der (auf die Ordnung der Transzendenz verweisende) platonische und der (im irdischen verhaftete, ‚unordentliche‘) sexuelle Anteil. Gepriesen wird die ‚himmlische‘ Liebe.
 
Von der Unordnung einer Tussi (unsauber in Küche und Körperhygiene, VG 1) über die gestörte Ordnung bei einem Ritual (Amtseinsetzung des Fabius Maximus, VG 2) und die Entstehung der Ordnung des Kosmos (Urknall, VG 3) gelangt das Gedicht zur harmonischen Ordnung des Himmels (Venusbahn, VG 4). Auf diese Ordnung weist die Liebe hin, die im Symbol des Apfels (der Aphrodite heilig, im Apfelstern sichtbar, VG 5) gepriesen wird. Die Liebe ist (im Gegensatz zur Sexualität, VG 6) nicht stillbar, ihr geben sich die Dichter hin (Sappho, VG 7) und sie vergeht nicht (wie das irdische Leben, VG 8). Kopfschüttelnd betrachtet das wir bei seiner Körperhygiene nun die Sexualität (VG 9): Sie wird die Liebe nie wieder / Dreist übertrumpfen.
 
 

APFELRHAPSODIE

 
Wir
aber ein Blick und untrüglich
Sehn wirs doch so einer Tussi an
Das
Spülbecken
in ihrer Küche

Obs einer
Stahlfixkur
jahrlang

5Entgegenfleckt und
mikrobiell
über

Die
Epidermis
bis unter die Achseln

Aufwärts und dann
ringsherumdünstend

 
Denn
Peanuts
die gibt es nicht!
Abdizieren

Musste selbst
Fabius Maximus

10Damals die sichere Diktatur nur
Weil eine SPITZMAUS
vielzitzig

 
Drauf pfiff und nun gar dieses Totalphänomen
Kosmos
ganz anders hätt sichs ja strukturiert

Wenn nur ein einziges
QUANT ENERGIE
sich

15Im Erstknall und nachtschön
 
Die
Himmelsrose

Sie gäb es dann gar nicht
Fünfblättrig den Ernst
Aufhellend des Erdenloses
 
20
Apfel
wangenrunder meiner

Göttin heilig um des Sternes
Wunder lass mich
Dich zerteilen
 
Ist
Liebe
doch nur als erleichtertes

25Fleisch ist sie stillbar nicht
Aber der Sternglanz
Den sie zurückleuchtet
 
Und nicht
magische Salbe

Über der Haut ihres Fährmanns
30Nein himmlischer Widerschein wars
Dem Sappho sich hingab
 
Denn Herz nur als munterer
Zu
vier Fünfteln
aus Wasser

Gemachter HOHLMUSKEL
35
Wie schnell rinnt das aus
und

 
Trübungseffekte bewirkend
Tropfts von der Dusche
Wenn
wir
erschöpfte Blicke

Kopfschüttelnd dann von den Armaturen
40Absenken auf dieses uns nie wieder
Dreist übertrumpfende
Quant Spitzmaus
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Rhapsode, ursprünglich ein griechischer Wandersänger, ist ein Synonym für den lyrischen Dichter. Die Themen einer Rhapsodie sind lose miteinander verbunden, sie können in flüchtigen und dennoch zusammenhängenden Gedanken gegeben sein. Im Zentrum dieser Rhapsodie steht der Apfel der Liebesgöttin Aphrodite.
 
v.1f: Beschrieben wird der Blick des Wir (lyrisches Ich + Leser) auf eine Frau, die als Tussi wahrgenommen und gewertet wird. Tussi (Kurzform von Thusnelda) ist ein Schimpfwort für Frauen, das Klischee eines oberflächlichen, eitlen Dummchens. Mit untrüglich bestätigt sich das Wir, dass sein Blick auf das Objekt Frau wahr ist. Das aber weist auf die Möglichkeit eines anderen Frauenbildes in den folgenden Versgruppen hin.
 
v.3: Die unsaubere Tussi ist durch das jahrlang schlecht gereinigte Spülbecken in ihrer Küche charakterisiert. Das Spülbecken steht symbolische für das Becken der Frau. Damit erweist sich das Sehn des wirs als sexualisierter Männerblick und die Frau als ‚reines‘ Sexualobjekt (im Gegensatz zur ‚unbefleckten‘ Jungfrau Maria).
 
v.4 Stahlfixkur: Reinigungsmittel für Edelstahlbecken
 
v.5 mikrobiell: mikroskopisch kleine Lebewesen
 
v.6 Epidermis: äußerste Schicht der Haut. Assoziativ verbunden wird hier die Oberfläche eines Spülbeckens mit der menschlichen Haut.
 
v.7 ringsherumdünstend: Als Quelle der Ausdünstungen kommen die ‚ungewaschenen‘ Achseln bzw. der Abfluß des Spülbeckens in Frage.
 
v.8 Peanuts: Erdnüsse. In der englischen (und seit einigen Jahren auch deutschen) Umgangssprache ein Ausdruck für Kleinigkeiten oder unbedeutende Geldsummen
 
v.9 Abdizieren: abdanken, Verzicht leisten
 
v.10 Fabius Maximus: Quintus Fabius Maximus, genannt Cunctator, „der Zögerer“ (allerdings im positiven Sinn) (* um 275 v. Chr.; † 203 v. Chr.), war ein Senator und Feldherr der römischen Republik, Konsul und zweimal Diktator. Fabius Maximus musste von einer ersten Diktatur (zwischen 221 und 219) wegen des Pfeifens einer Spitzmaus bei Amtsantritt abdizieren, weil dies als ominöses Vorzeichen galt.
 
v.12 vielzitzig: Im Gegensatz zu oben genannter Tussi haben Spitzmäuse mehr als zwei Zitzen.
 
v.13f Totalphänomen / Kosmos: Der Kosmos wird hier als zusammenhängendes Ganzes unter holistischem Gesichtspunkt betrachtet.
 
v.15f Wenn nur ein einziges QUANT ENERGIE sich / Im Erstknall: Nach dem Standardmodell der Physik müssten beim Urknall fast identische Mengen von Materie und Antimaterie entstanden sein,die sich umgehend gegenseitig in einem Energieblitz ausgelöscht hätten. Offenbar aber gab es aber mehr Materie/Energie als Antimaterie, sodass das heutige Universum entstehen konnte. In der Physik bezeichnet der Begriff QUANT ein Objekt, das durch einen Zustandswechsel, meist durch ENERGIE, erzeugt wird.
 
v.16 Himmelsrose: Poetische Bezeichnung für die 8-jährige geozentrische Bahn der Venus, die in ihrem Zentrum ein fünfblättrige Blüte zu zeigen scheint (wie ein Querschnitt durch einen Apfel (s. zu v.20ff)).
 
v.20ff: Der ‚angerufene‘ Apfel verweist auf die Göttin Aphrodite (lat. Venus), die zugleich die Gegenfigur zur Tussi (v.2) ist. Beim Querschnitt durch einen Apfel zeigt sich das Kerngehäuse als fünfzackiger Stern bzw. als fünfblättrige Blüte. Das Zerteilen des Apfels ist symbolisch für das Durchdringen der Realität zu sehen, in der sich ein transzendenter Kern zeigen kann.
 
v.24ff: Hier wird Liebe zunächst als rein sexuell (v.24f) vorgestellt, deren Befriedigung das Fleisch ‚erleichtert‘. Dann wird auf den göttlichen Ursprung der Liebe verwiesen (v.26f), durch den ihr tranzendenter Bezugspunkt zurückleuchtet.
 
v.28ff: Der mythologische Fährmann Phaon erhält seine jugendliche Schönheit von einer magischen Salbe, mit der Aphrodite ihn belohnte. Der Autor lehnt diese Magie ab und preist die Liebe der Dichterin Sappho zu Phaon als himmlische(n) Widerschein (als den Sternglanz / Den sie zurückleuchtet (v.26f)).
 
v.33: Muskeln und Herz des Menschen bestehen zu ca. 80% aus Wasser und das Hirn zu ca. 95%. Der Anteil des Wassers im menschlichen Körper nimmt im Lauf seines Lebens stetig ab.
 
v.35: Metapher für den nahenden Tod
 
v.36ff: Mit dem rinnenden Wasser (v.35) und dem Bild des unter der Dusche stehenden wir wird an die Körperpflege der ersten Versgruppe (v.6f) angeknüpft. Ebenso verweisen die Armaturen (v.39) auf das Spülbecken (v.3) zurück. Der sexualisierte Blick wird ebenfalls wieder aufgenommen: Allerdings richtet sich der ‚gesenkte‘ Blick diesmal auf den Phallus des Mannes (Quant Spitzmaus) und führt zu dem Gedanken, dass der transzendente Aspekt der Liebe überwiegt (so wie in der dritten Versgruppe die Materie die Antimaterie überwog (s. zu v.15f)), sodass – im Bewusstsein der Transzendenz – der sexuelle Aspekt den Menschen nie wieder / Dreist übertrumpf(en) wird (v.40f).