Am Schwarzmeerrand

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Das lyrische Ich wünscht sich das Gelingen eines Gedichtes, um von der Transzendenz eine Antwort zu erhalten (Resonanz).
 
Die erste VG umschreibt die Entstehung des Lebens von der Materie bis zum Individuum. Als Individuiertes ist es in der Gefahr, die Verbindung zur Transzendenz zu verlieren. In der zweiten VG wird die Aufgabe des Dichters deutlich, sich mit dem Gedicht aus der Immanenz an die Transzendenz zu wenden. Die dritte VG schildert den Wunsch, einmal mit dem Gedicht die zeitlose Transzendenz erreichen zu können. Der Wunsch, die Transzendenz zu erreichen, wird in den Kursiva am Beispiel des Helden Sthenelos (s. zu V.6) geschildert.
 
 

AM SCHWARZMEERRAND

 
Materie
klumpen

Grünschleim spiralig
Nach oben strebend
Gezogen – in
Zuwachszonen

5Von je Unterscheidbarem
 
Nur diesen von allen Tagen!

 
Und im Verlustsystem

Zerrissenen Winds
Mundgefühl
Staub-

10Säule – sich aufhebend
Im
Helligkeitsabfall

 
Auf dieses Schiff einen Blick!
 
Einmal jedoch
ein
Hörraum

Einmal die Resonanz
15
Blühsüchtigen Lichtsinns

Einmal Erkennungsstruktur
wie
Zeit sich entziffert
 
Für ewig ohne zu klagen
Persephone kehr ich zurück –
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel nennt den Ort, an dem der Held Sthenelos begraben ist (s. dazu zu v.6). Gleichzeitig beschreibt er mit -rand einen Übergangsbereich, vom Land aufs -meer-, aus dem Schwarz- ins Licht: aus der Immanenz in die Transzendenz.
 
v.1ff: Umschrieben wird die Entstehung des Lebens von der Materie bis zum Individuum (je Unterscheidbarem v.5). Das Leben entwickelt sich hin zum Licht (v.3), wird aber auch von diesem Nach oben … / Gezogen. Aber durch die Individuierung ist die Einheit mit der Transzendenz gefährdet.
 
v.1 Materieklumpen: In der Astronomie werden Zusammenballungen von Partikeln (aus denen Sterne entstehen können) Materieklumpen genannt.
 
v.4 Zuwachszonen: Im Querschnitt durch einen Baum werden Jahresringe sichtbar. Die helleren Zonen in den Jahresringen werden Zuwachszone (aus relativ lockerem Gewebe) genannt.
 
v.6: Mit v.12 und v.18f ergibt sich ein antikes Narrativ: Es spricht der gefallene Held Sthenelos, der am Ufer des Schwarzen Meeres begraben liegt. Als die Argonauten an seinem Grab vorbeisegeln, bittet er die Göttin der Unterwelt, Persephone, für einen Tag an die Oberwelt zurückkehren zu dürfen, um das Schiff Argo zu bewundern. Dies entspricht dem Wunsch des lyrischen Ich, für einen Moment aus der Immanenz in die Transzendenz blicken zu dürfen (vgl. zu v.13ff).
 
v.7f: Die Immanenz wird als System gekennzeichnet, in dem die Beziehung zur Transzendenz (‚Wind‘ als Pneuma) ‚zerrissen‘ ist.
 
v.9 Mundgefühl: Der Begriff verweist auf die poetologische Ebene: Wunsch des lyrischen Ich (und Aufgabe des Dichters) ist, mit der Sprache (Mund-) die Verbindung zur Transzendenz wieder fühlbar zu machen.
 
v.9f Staub- / Säule − sich aufhebend: In kosmischen Nebeln sind Staubsäulen Geburtsstätten neuer Sterne (vgl. auch zu v.1). Angespielt wird auch auf die Wolken- bzw. Feuersäule, die dem jüdischen Volk beim Auszug aus Ägypten ins Gelobte Land den Weg weist (2. Mos. 13,21). Ebenso ‚erhebt‘ der Dichter seine Stimme, um den Weg zur Transzendenz zu weisen. Zugleich wird an die biblische Vorstellung erinnert, dass der Mensch aus Staub ist und wieder zu Staub werden wird. Mit dem Tod (‚Aufhebung‘ des Mensch-Seins) wird die Möglichkeit, in die Transzendenz einzugehen, geschaffen.
 
v.11 Im Helligkeitsabfall: Mit Helligkeitsabfall wird auf das schwindende Licht (Transzendenz) verwiesen (s. auch zu v.7f).
 
v.13ff: Der in dieser Versgruppe dargestellte Gedankengang erinnert an Hölderlins Gedicht „An die Parzen“, in dem das Gelingen eines vollendeten Gedichtes mit dem Tod und mit der Vorstellung „Einmal / Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht“ verbunden wird.
 
v.13f: Das lyrische Ich wünscht sich ein gelingendes Gedicht (Hörraum), in dem die Transzendenz antwortet (Resonanz).
 
v.15 Blühsüchtigen Lichtsinns: Lichtsinn ist in der Biologie die Fähigkeit von Organismen, auf Licht zu reagieren. Hier ist der Wunsch des lyrischen Ich gemeint, sein Gedicht zur Vollendung zu bringen.
 
v.16f: In diesem gelungenem Gedicht (Erkennungsstruktur) soll die lineare Zeit aufgehoben (entziffert) werden, sodass die zeitlose Transzendenz eintritt. Die dritte Wiederholung des Einmal betont den magischen Charakter des Gedichtes.