Zu lange zu nah

Überblickskommentar:

Das Gedicht nutzt den antiken Prometheus-Mythos. Zeus hatte nach einem Opferbetrug den von Prometheus geschaffenen Menschen das Feuer verweigert. Prometheus holt daraufhin mit einem Narthexstengel die Glut vom Sonnenwagen und bringt so den Menschen das Feuer zurück. Zeus bestraft Prometheus dafür, indem er ihn am Kaukasus an einen Felsen schmieden und täglich dessen Leber von einem Adler anfressen lässt. Die erste Versgruppe bezieht sich auf den Feuerdiebstahl, die zweite auf das Schmieden an einen Felsen und die dritte auf den Adler.
Das lyrische Ich, der Dichter, ist mit Prometheus identifiziert, Zeus mit der Transzendenz. Der Raub des Feuers ist mit dem Schreibvorgang parallelisiert, und während im Mythos Prometheus von Zeus gequält wird, leidet das lyrische Ich hier gleichzeitig unter der Trennung von der Transzendenz und lebt dennoch weiter in der brennend glühenden Verbindung zu ihr.
Im Gegensatz dazu steht z.B. die Goethe’sche Verwendung des Mythos im Gedicht „Prometheus“: Hier feiert das lyrische Ich den neugeschaffenen aufgeklärten Menschen, die Trennung von der Transzendenz.

Zu lange zu nah


 
und
dein argloses Aug

das
unsre Tage besonnte

schon hats den
Narthexstengel
bemerkt
der mit
krummem Mark

heimlich ihm Funken
entfremdet
für
ach
verbotenen Brand

 
Stein nun sein Blick

Fels an den
hündische Reue
mich
kettet
während
ein Funkensprung
frei
durch die
Hand-

linien sich bis in die Blutbahn fraß
und das
Herz
mir und gierig die Leber angreift
 
und selbst die
Vögel des Himmels

Adler
wie sie
von Träumen schwer

herziehen noch immer vom
Ida
gewaltigen Flugs
und des
Padus
trostreiche Schwäne

auch sie mit den
fühlenden Federn

werden
vergeblich mir Kühlung fächeln

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Der Titel legt nahe, dass die Transzendenz der heutigen Menschheit schon zu lange nicht mehr nah ist, dem lyrischen Ich aber zu nah kam, so dass sie ihn so entzündet hat, dass er immer noch glüht. Diese Grundfigur ist auch in Hölderlins Hymne „Patmos“ zu finden, die beginnt mit „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott“ und dessen letzte Versgruppe mit „Zu lang, zu lang schon“ beginnt. In dem Gedicht thematisiert Hölderlin gleichzeitig die Verbindung zur und die Trennung von der Transzendenz mit der Hoffnung auf deren Wiederkehr. Hier ist der Titel eine adverbiale Bestimmung zu der syntaktischen Einheit eines einzigen Satzes, aus der das ganze Gedicht besteht.

v.1 dein argloses Aug: Gemeint ist das Auge des Zeus bzw. allgemeiner die Transzendenz, die auch in christlicher Tradition mit dem sehenden Auge identifiziert wird. arglos suggeriert, dass Zeus den Diebstahl des Feuers durch Prometheus nicht vorhergesehen habe.

v.2 unsere Tage besonnte: Die Metapher weist darauf hin, dass die Menschheit früher im Lichte (‚Sonne‘) der Transzendenz lebte. Daraus lässt sich schließen, das wir heute Transzendenz-los leben, in einer ‚Nacht‘.

v.3 Narthexstengel: i.e. Riesenfenchel. Im antiken Griechenland wurde der Riesenfenchel Narthex genannt. Prometheus benutzt ihn, um den Menschen das Feuer zu bringen. Man kann den Riesenfenchel auch als einen Hinweis auf das Schreibwerkzeugs des Dichters sehen.

v.4 mit krummen Mark: Das leicht entzündliche Mark des Riesenfenchels schwelt langsam und verbrennt, ohne die Rinde des Stängels völlig zu zerstören. Das Mark kam in der Antike als Zunder zum Einsatz und diente zum Transport von Glut. Das krummen ist auf die ‚krummen Wege‘, den Diebstahl, des Prometheus zu beziehen, der Stängel des Fenchels und damit auch das Mark ist eigentlich gerade. ‚krumm‘ kann auch poetologisch verstanden werden: Die Transzendenz kann mit unserer Sprache nicht ‚gerade‘, nicht rational erfasst werden kann.

v.5 entfremdet: Nahe läge hier das Verb ‚entwendet‘. Dass hier stattdessen entfremdet steht, weist auf der übertragenen Ebene darauf hin, dass im Prozess des Sich-Lösens aus einer hierarchischen Beziehung einerseits eine Emanzipation liegt, andererseits aber auch diese Individuierung Verlust und Ungeborgenheit für das Ich bedeutet.

v.6 verbotenen Brand: Die von Zeus verbotene Nutzung des Feuers wird hier uminterpretiert: Dem heutigen aufgeklärten Menschen scheint sich eine Annäherung an die nicht-rationale Dimension der Transzendenz zu verbieten.

v.7: Nach dem Raub des Feuers ist das Auge der Transzendenz nicht mehr arglos (v.1), es ist ‚versteinert‘. Gleichzeitig wird angespielt auf den ‚versteinernden‘ Blick der Medusa, der hier den Schrecken der Transzendenz verdeutlicht.

v.8 hündische: Das Adjektiv offenbart eine hierarchische Struktur zwischen Herr und Hund (Transzendenz und lyrisches Ich). Der Begriff spielt zugleich auf die antiken Kyniker (von kynismós = Hundigkeit) an. Das oberste Ziel der Kyniker war das Streben nach Autarkie. Zu dieser Überlagerung zweier gegensätzlicher Bestrebungen vgl. auch zu v.5.

v.8 mich: Das lyrische Ich wird hier erstmals im Objektpronomen deutlich, es spricht als Prometheus.

v.9 während: Die Konjunktion scheint zunächst temporal gemeint zu sein, ist aber eher adversativ zu verstehen: Das lyrische Ich hält – obwohl die Verbindung zur Transzendenz schmerzlich ist (v.11) – trotzdem am Erbe des Prometheus fest (v.9f). Gegen das temporale Verständnis spricht die Ordnung der Tempora im Gedicht: Die wesentlichen Verben (bemerkt (v.2), entfremdet (v.4) und kettet (v.6)) stehen im Präsens, wohingegen fraß (v.10) im Präteritum steht.

v.9 frei: Zwei mögliche Auffassungen: 1) Während das lyrische Ich an die Transzendenz gebunden ist (mich kettet), ist die Transzendenz frei. 2) Durch die Hand-lung des Prometheus ist ‚Freisein‘ (Individuierung) möglich geworden, wird aber als Transzendenzlosigkeit schmerzlich erfahren.

v.9f Hand-/linien: So wie durch die Hand des Prometheus den Menschen das Feuer gebracht wurde, so bringt die Hand des Dichters dem Leser die Transzendenz. Die linien spielen poetologisch auf Schriftlinien an, sind aber auch als Traditionslinie von Prometheus zum lyrischen Ich zu verstehen.

v.10 Herz: Im Prometheus-Mythos ist es nur die Leber (in der Antike der Sitz der Gefühle), die angegriffen wird. Im modernen Verständnis ist Sitz der Gefühle und Zentrum des Menschen das Herz.

v.12 Vögel des Himmels: In der Tradition Boten der Transzendenz (z.B. die antike Vogelschau oder die christlichen Taube)

v.13 Adler: Der Adler ist Symbol der Herrschaft des Zeus; er frisst an Prometheus´ Leber. Hier steht der Plural, weil nicht das Herrschaftssymbol gemeint ist, sondern die Funktion als Boten der Transzendenz.

v.13 von Träumen schwer: Den Boten der Transzendenz ist das Nicht-Rationale, das die Rationalität Überschreitende zugeordnet.

v.14 Ida: Gebirge im Westen der heutigen Türkei. Hier wurde der Hirte Ganymed von Zeus (in Adlergestalt) entführt und zum Olymp gebracht.

v.15 Padus: antiker Name für den Fluss Po. In der antiken Mythologie ist der Padus auch der Eridanus, der Fluss am Ende der Welt. Phaeton stürzte mit dem Sonnenwagen in den Eridanus.

v.15 trostreiche Schwäne: Gemeint ist der Singschwan (Cygnus cygnus) – im Gegensatz zum nicht singenden Höckerschwan -, der in der Antike ein Symbol für den Dichter war. Phaetons Freund Kyknos war über dessen Tod untröstlich und wanderte unentwegt am Ufer des Eridanus entlang. Schließlich wurde er in Gestalt des Schwans an den Himmel versetzt. Mit dem Adjektiv wird der Dichtung eine Trost spendende Kraft zugeschrieben, die über die Trennung von der Transzendenz hinweghelfen kann.

v.16 fühlenden Federn: Übereinander gelagert werden die Vogelfedern (Adler und Schwäne) und die Feder des Dichters. Alle werden als ‚mit-fühlend‘ gekennzeichnet. Damit wird das Fühlen als kognitive Funktion dem Bereich der bloßen Ratio übergeordnet.

v.17 vergeblich mir Kühlung fächeln: Die Trennung von der Transzendenz empfindet das lyrische Ich als so schmerzreich, dass kein Heilmittel dagegen hilft. Andererseits glüht der Dichter so durch den Funkensprung (v.9), dass keine Abmilderung möglich sein wird.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus einem einzigen Satz, zu dem auch der Titel gehört.

Das Gedicht nähert sich auch in der Metrik seiner antiken Folie: Es nutzt vorwiegend das daktylische Versmaß (-uu).