Quappensprung

Überblickskommentar:
 
Die Versgruppen 1 und 2 schildern eine Eisenbahnfahrt und den mit der Technik verbundenen Begriff Materie; als wesentliche Eigenschaft der Materie wird der Drehimpuls angeführt, der selbst beim Untergang der Materie in Schwarzen Löchern noch wirksam ist. Die Versgruppe 3 knüpft mit der Wendung des Halswirbels an den Drehimpuls an, sie beschreibt die Abwendung des lyrischen Ichs vom Geistigen und die Anziehungskraft des Sexuellen und die damit verbundene Gefahr des Untergangs (Verwandtschaft von Eros und Thanatos). Die Versgruppen 4 und 5 zeigen am Beispiel des evolutionär erworbenen Verhaltens des Rotaugenlaubfrosches, dass es in der Natur eine Möglichkeit gibt, einem Untergang zu entgehen. Dies verweist auf einen holistischen Begriff von Natur, in dem die integrativ zusammenwirkenden Kräfte der Evolution der analytisch rationalen Vernunft des Mensch überlegen sind. Die Versgruppe 6 stellt diese Möglichkeit der Natur für das lyrische Ich und den Leser ironisch in Frage.
Die seit der Aufklärung herrschende Illusion, der Mensch könne die Natur durch Technik beherrschen, führt möglicherweise zum Untergang. Das Beispiel des Rotaugenlaubfrosches zeigt die Möglichkeit von der Natur zu lernen, dies wäre ein Quantensprung in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit.
 
Hintergrundidee: Kreislauf der Natur (Entstehen und Vergehen) und dessen Überwindung durch den Geist, jeweils bestimmt vom Bild eines drohenden Untergangs.

Quappensprung


 
Zwischen
Murnau und Starnberg am See

entlang der
Grabhügelkette
die sanft
schon die Eisenzeit deckt

zischt
heut noch
silbern
der
ICE

 
5Das
wundert mich
nicht
denn der
Drehimpuls
ist
wie die
Festkörperphysik
uns
versichert

eine Eigenschaft der Materie selbst
– wirksam sogar
am
Gravitationsschlund
ihrer Schwarzen Löcher
 
10
oder mein Halswirbel hier
wenn er sich –
klapp
das
Buch zu
ging da nicht
Putzi
das war doch Putzi mit diesen Pupillen
gradzu äthiopischer Nacht?! –
umsehen muss wieder einmal
15nach eines heißen Leibs Treibhauslust:
Schweiß
ganzkörperlicher Entzückung

Schweiß
sag ich euch der den Atem durchsalzt und zuletzt die
Hoden zur Erosion überredet
– –
 
Der
Rotaugenlaubfrosch
ei freilich
derRotaugenlaubfrosch
20oder doch
sein Embryo hat gelernt

wenn sacht die gebänderte
Katzenaugen-

(…niederfrequentes Rubato…)
-natter nahtKatzenaugennatter
 
von seinem
Bromelienblatt
bis zu
dreißig Prozent
vor seiner Zeit sprungzuschlüpfen
25
köpflings
der kleine
Gallertgraupel
hinab

in die
kühle Klarheit des Wassers

worin sich die
Lilien
spiegeln
 
Doch wer
ist schon ein
Rotaugenfrosch

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Konkret der in Versgruppe 5 geschilderte Sprung der Kaulquappe des Rotaugenlaubfrosches bei Gefahr ins Wasser. Übertragen ist der Begriff ‚Quantensprung’ aus der Physik mitzuhören. Hier ein Sprung aus der Materie in den geistigen Bereich.

v.1 Murnau … Starnberg am See: Die Kursbuchstecke 960 der Deutschen Bundesbahn führt von München über Starnberg (Kilometer 27,9), Tutzing (Kilometer 39,6) und Murnau (Kilometer 74,9) nach Garmisch-Partenkirchen. Sie wird allerdings nur von der S- und der Regionalbahn bedient (s. dazu zu v.4 zischt und ICE).

v.2 Grabhügelkette: Von der frühen Bronzezeit bis zur Eisenzeit gibt es Grabhügelfelder. Konkret dürften hier die noch aus der Bronzezeit stammenden Grabhügel bei Tutzing (Landkreis Starnberg) gemeint sein. Die Bezeichnung als ‚Kette’ ist nicht üblich, nimmt aber bereits die Form des ICE (v.4) und der Schlange (v.21f) vorweg.

v.3 schon die Eisenzeit deckt: Das schon verweist auf die Eisenzeit als frühen Beginn der Technik. Mit dieser Periode beginnt sich das Verhältnis zum Tod zu ändern.

v.4 zischt: Hier wird die Technik (ICE) mit der Natur (der Schlange v.21f) verbunden.

v.4 heut noch: Diese Angabe scheint den mit schon (v.3) begonnenen Zyklus zu beenden und deutet auf einen möglichen, zukünftigen Abschluss des Technischen Zeitalters hin.

v.4 silbern: Hinweis auf die Kälte der Technik

v.4 ICE: Der ICE ist vom Autor hier nicht nur des Reimes willen gesetzt worden, er ist auch schon die erste (verdeckte) Anspielung auf den Drehimpuls (v.6): Der Antrieb der ICEs basiert auf einem Drehstrom-Asynchronmotor.

v.5: Das lyrische Ich, das hier zum ersten Mal auftritt, gibt vor über die Entwicklung der Technik nicht erstaunt zu sein, die in v.6 folgende Begründung ist allerdings nur scheinbar logisch (s. dazu zu v.4 ICE und v.6 Drehimpuls). Mit dem hier gebrauchten Begriff ‚Wunder’ wird auf eine der Technik entgegengesetzte Dimension angespielt.

v.6 Drehimpuls: Der Drehimpuls ist in der Festkörperphysik eine Erhaltungsgröße. Er bleibt in einem geschlossenen physikalischen Systems unverändert, egal welche Kräfte und Wechselwirkungen zwischen den Bestandteilen des Systems wirken; dies gilt für den Drehimpuls bezüglich beliebiger Achsen.

v.7 Festkörperphysik: Die Festkörperphysik befasst sich mit der Physik von Materie im festen Aggregatzustand.

v.7 uns: i.e. dem lyrischen Ich und den Lesern, im weiteren Sinn aber auch allen Menschen

v.7 versichert: Der Begriff zielt auf die (scheinbare) Verlässlichkeit der Physik und damit der Materie.

v.8 eine Eigenschaft der Materie selbst: Auch in der Quantenphysik gibt es den Begriff des ‚Drehimpulses’ . Er gehört zu den messbaren Eigenschaften eines quantenmechanischen Systems. Beispiele für solche Observable sind der Ort eines Teilchens, sein Impuls oder sein Drehimpuls. Anders als in der Festkörperphysik gilt in der Quantenphysik die Heisenbergsche Unschärferelation, sodass das Prinzip der Kausalität (und damit die Verlässlichkeit) durch das Prinzip der Wahrscheinlichkeit ersetzt werden muss.

v.9 Gravitationsschlund: Der Begriff ist eine populärwissenschaftlich Metapher für das Gravitationsfeld eines Schwarzen Loches. Der Drehimpuls ist wirksam bei rotierenden Schwarzen Löchern.

v.10 oder mein Halswirbel hier: Das oder indiziert eine zunächst unlogisch erscheinende Anknüpfung an den Drehimpuls als Eigenschaft der Materie: Wie sich im folgenden zeigt, dreht sich auch der Halswirbel, allerdings nicht automatisch, sondern z.B. dann, wenn das sexuelle Begehren stimuliert wird (vgl. v.11ff). Halswirbel steht hier natürlich pars pro toto für ‚Kopf’ bzw. das lyrische Ich. Durch diese Sprachfigur wird das Ich entsubjektiviert, die Bewegung erfolgt scheinbar gegen seinen Willen, automatisch.

v.11ff: Die Unterbrechung des in v.10 begonnenen (und mit v.14 fortgesetzten) Satzes und der Einschub zwischen den beiden Gedankenstrichen (v.10 und v.13) verdeutlicht die plötzliche Drehung des Kopfes. Vgl. dazu auch den Einschub in v.22.

v.11 klapp das Buch zu: Das lyrische Ich kann nicht weiter zu lesen, sondern muss sich der Treibhauslust (v.15) hingeben. Hier wird ein Gegensatz von Geist und Körper vorbereitet, der in v.15ff (vgl. zu v.17) modifiziert wieder aufgenommen wird.

v.12 Putzi: Die Dopplung des Frauenkosenamens weist auf die beiden Augen und die geweiteten Pupillen der Frau hin und zeigt in Verbindung mit der folgenden ‚äthiopischen Nacht’ die sexuelle Bereitschaft. Dies wird auch durch die Alliteration von Putzi und Pupille verstärkt.

v.16 ganzkörperlicher Entzückung: Das Verb ‚entzücken’ stammt ursprünglich aus der Mystik und meint ‚in Ekstase bringen, kommen’. Später wird es auch auf die irdische Liebe übertragen. Durch die Verbindung mit ‚ganzkörperlich’ werden beide Ebenen (Geist und Materie) zusammengeführt.

v.17 Schweiß … der den Atem durchsalzt: Schweiß und Atem weisen auf den Gegensatz von Körper und Geist hin, das ’Durchsalzen’ zeigt aber auch ein holistische Konzept, dem die Durchdringung der Gegensätze zu Grunde liegt. Auf diese Durchdringung deutet auch der Einschub sag ich euch und das Verb überredet, das körperliche Vorgänge jeweils mit sprachlichen Ausdrücken verknüpft.

v.18 Hoden zur Erosion überredet: Statt der zu erwartenden ‚Eruption der Hoden’ steht hier Erosion, um den Zusammenhang von Sexualität und Tod zu verdeutlichen, die Sexualität führt zur Auflösung einer festen Form.

v.19: Rotaugenlaubfrosch: ‚Agalychnis callidryas‘ ist der bekannteste und namens gebende Vertreter der zentral- und südamerikanischen Rotaugenlaubfrösche. Die roten Augen stehen im Gegensatz zu den schwarzen Pupillen (v.12f).

v.19 ei freilich: Der Ausruf des lyrischen Ich knüpft auf der konkreten Ebene an die sexuelle Stimulation und den Zeugungsvorgang an. Er leitet zugleich einen Gegensatz zu Str. 1 und 2 ein.

v.20 sein Embryo hat gelernt: Die Embryonen des Rotaugenlaubfrosches reagieren auf bestimmte Erschütterungen, wie sie von Baumschlangen (z. B. Leptodeira annulata (vgl. zu v.21f)) verursacht werden, die wesentliche Fressfeinde des Laiches sind. In so einem Fall können mitunter alle Embryonen eines Geleges gleichzeitig aus der Gallerte gleiten und sich so der Schlange entziehen. Das lyrische Ich betont hier die im Laufe der Evolution erworbene Fähigkeit des Rotaugenlaubfrosches, sich tödlicher Gefahr zu entziehen. Einzelheiten zum vorzeitigen Schlüpfen des Rotaugenlaubfroschs siehe in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft (‚Frühgeburt bei Schlangenangriff‘ August 2005).

v.21f: Katzenaugen- / … –natter: ‚Leptodeira annulata‘, ein Natter, die in Südamerika beheimatet ist.

v.22 (…niederfrequentes Rubato…): ‚Rubato’ musikalische Vortragsbezeichnung von ital. „rubare“ = rauben, stehlen. Die von der Schlangenbewegung verursachte Frequenz wird mitten in den Schlangennamen eingeschoben, um das Anschleichen zu symbolisieren (vgl. auch zu v.11ff).

v.23 Bromelienblatt: Die Heimat der Bromeliengewächse ist Zentral- und Südamerika.

v.23f bis zu … / … schlüpfen: Zitat aus dem Artikel „Frühgeburt bei Schlangenangriff“ (s.o. zu v.20). Der Begriff ’sprungschlüpfen‘ ist eine Wortschöpfung des Autors, um die Plötzlichkeit des Vorgangs zu verdeutlichen.

v.25 köpflings: Der Gallertgraupel hat eigentlichen keinen Kopf. Dass das Adverb köpflings gewählt wird, weist darauf hin, dass hier wie im Folgenden die Sphäre des Geistigen gemeint ist.

v.25 köpflings … hinab: Der Vers erinnert an den Schluss von Hyperions Schicksalslied von Hölderlin: ‚Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings … / … ins Ungewisse hinab.‘ (v.18ff). Anders als die Menschen in Hölderlins Schicksalslied wird hier suggeriert, dass der Embryo des Frosches in der Lage sei, sein Schicksal zu beeinflussen.

v.25 Gallertgraupel: Die Metapher für ‚Embryo‘ steht im Gegensatz zur Materie der Festkörperphysik (Versgruppe 1 und 2), ist aber parallelisierbar der Form und Substanz des Spermas in Versgruppe 3.

v.26 kühle Klarheit des Wassers: Metapher für den geistigen Bereich und Gegensatz zu eines heißen Leibs Treibhauslust (v.15). Vgl. dazu auch Hölderlins ‚Hälfte des Lebens‘ v.7: ‚ins heilignüchterne Wasser‘.

v.27 Lilien: traditionelles Symbol für Reinheit und Unschuld. In der christlichen Ikonographie tritt der Engel der Verkündigung stets mit einer Lilie vor Maria. Die Lilie ist damit zugleich auch Vermittlungssymbol für den (Heiligen) Geist.

v.29 Rotaugenfrosch: Die Verkürzung der biologischen Bezeichnung dient zur Verstärkung der Ironie der Schlussversgruppe.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus 6 Versgruppen, die sich inhaltlich folgendermaßen zusammen fassen lassen: Versgruppe I und II (9 Verse: ICE mit dem Drehimpuls), Versgruppe III (9 Verse: Treibhauslust) und Versgruppe IV und V (9 Verse: Rotaugenlaubfrosch). Den ironischen Kommentar bilden die beiden Schlußverse (Versgruppe VI).