Null und eins

Überblickskommentar:

Das Gedicht besteht aus zwei Teilen (VG 1+2 und VG 3+4), die symmetrisch auf einander bezogen sind. In den ersten beiden Versgruppen (Teil I) wird eine frühe mythisch-religiöse Weltsicht gezeigt: Die unerfahrbaren Bereiche (VG 1) werden von Priestern erklärt (VG 2). In der Versgruppe 3 wird das rational-wissenschaftlich Weltbild in Bezug auf die menschliche Bindungsfähigkeit entfaltet. Die vierte Versgruppe weitet dies auf die Liebe zur Transzendenz aus: Gott kann nicht rational, sondern nur mit Hilfe der Mystik, der Entleerung vom Weltlichen erreicht werden. Heute ist das Gedicht der Ort für die Begegnung. Dementsprechend ist die Achse des Gedichtes (zwischen den Versen 9 und 10) die Leere.

Null und eins


 
Weit draußen
, so meinte man
zur
Zeit des Kolumbus
,
beginne das Meer zu kochen

und die Schiffe, hieß es,
5blieben im zähen Salz
stecken.
Das Unbeschreibliche

 
rückgebunden

an seine deutende Beschreibung
wie bei den Priestern. Damals
 
10
wusste man noch nicht
,
dass man via
Testosteronspiegel

die Dopaminproduktion steuern kann,
um durch Ausschüttungen von Oxytocin
und Vasopressin den Geliebten
15bindungswillig zu machen.
 
Aber
leer muss es sein
,
das Blatt,
wenn Gott darauf schreiben soll.
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Die Null ist hier als Synonym für die (mystische) Leere zu verstehen (vgl. dazu auch zu v.16ff). Die Kleinschreibung von eins zeigt, dass eins adverbial zu verstehen ist (im Gegensatz zur Eins als Zahl) im Sinne von ‚Alles ist eins‘. In diesem Sinne kann der Titel auch als binärer Code gelesen werden (0, 1), der die Welt in Information verwandelt.

v.1 Weit draußen: Gemeint ist hier sowohl das Weit-Entfernte als auch das jenseits der Grenze liegende Unbekannte, Das Unbeschreibliche (v.6).

v.2 Zeit des Kolumbus: Aufgerufen wird die Zeitenwende, in der das Mittelalter an die Neuzeit grenzt, das Zeitalter der Entdeckungen, insbesondere der Portugiesen und Spanier. Kolumbus ist der bekannteste Entdecker, der Portugiese Heinrich der Seefahrer, der für die Umrundung des Kap Nuns steht (vgl. zu v.3ff), ist weniger bekannt.

v.3ff beginne das Meer …/ … im Salz / stecken: 1416 wurde von den Portugiesen das Kap Nun, das wegen seiner steilen Felsen im Meer und seinen vorgelagerten, gefährlichen Untiefen sehr gefürchtet war, umrundet. Bis dahin glaubte man, dort begänne eine glühende Zone, in der es für Menschen zu heiß sei (beginne das Meer zu kochen (v.3)), und südlich des Kap Nun beginne das Mar Tenebroso (port.: Meer der Finsternis), das zu flach und zu gefährlich für die Schifffahrt sei und wo das Wasser zu einer eingedickten Masse gerinne (Schiffe, hieß es, / blieben im zähen Salz / stecken (v.4ff) (Vgl. Wikipedia ‚Kap Nun‘). Mit der Schiffsmetapher wird auf das ‚Schiff des Lebens‘ angespielt, das im zähen Diesseits stecken bleiben kann.

v.6 Das Unbeschreibliche: Gemeint ist hier die Transzendenz. Gleichzeitig hört man auch die Schlussverse aus ‚Faust II‘: Das Unbeschreibliche, / Hier ist’s getan; (v.12108f), mit denen die Erlösung und Auferstehung des Faust vom Chorus mysticus besungen wird.

v.7ff rückgebunden / … Priestern: Damals war die Religion die Institution, die die Transzendenz, Das Unbeschreibliche, beschreibend zu deuten und es damit fassbar zu machen versuchte. Religion (von lat. religio: gewissenhafte Berücksichtigung) ist nicht verwandt mit lat. religo: zurück-, anbinden.

v.9f Damals / wusste man noch nicht: Die Formulierung weist darauf hin, dass man heute ‚weiß‘ im Gegensatz zu damals, als man ‚glaubte‘. Impliziert ist die Polarität von Rationalität und Religiosität.

v.11ff Testosteronspiegel: Testosteron, Dopamin, Oxytocin und Vasopressin sind Hormone (biochemische Botenstoffe). Die vier genannten Hormone stehen alle mit der Bindungsfähigkeit im Zusammenhang: Testosteron als (vorwiegend) männliches Sexualhormon, Dopamin als ‚Glückshormon‘, Oxytocin als ‚Kuschelhormon‘ und Vaspopressin. In der Moderne übernimmt die Rationalität die Aufgabe, die Liebe zu erklären. So glaubt z.B. die Biochemie mit ihren Erkenntnissen zur Wirkung der Hormone, eine wissenschaftliche Basis für die Bindungswilligkeit gefunden zu haben.

v.16ff: Mit der Vorstellung, dass ‚das Blatt leer sein muss‘, damit Gott einströmen kann, übernimmt der Dichter die Funktion, die früher die Seher und Priester inne hatten (vgl. dazu v.7ff). Sowohl in der buddhistischen als auch in der Tradition der Mystiker dienen alle Übungen dazu, einen Zustand der Leere, des Nichts zu erreichen, um die (transzendente) Erleuchtung zu erfahren. Das Aber (v.16) verweist darauf, dass die in der vorhergehenden Versgruppe beschriebene Bindungwilligkeit unzulänglich ist: Um die geliebte Transzendenz (Gott) zu erreichen ist das Gedicht als Ort des Ereignisses notwendig.
 
 
Aspekte der Form:
 
Die spiegelbildliche Form des Gedichtes zeigt sich nicht nur im Inhalt (vgl. den Überblickskommentar), sondern auch im Aufbau:
6 / 3 // 6 / 3 Verse. Während die ersten drei Versgruppe durch Enjambement verbunden (‚rückgebunden‘) sind, ist die letzte Versgruppe auch als poetologische Pointe zu verstehen und syntaktisch isoliert.
 
v.9f: Die Mittelachsee bildet die Leere.