Flash or Fly

Überblickskommentar:
 
Auf der Realebene ärgert sich ein Szenetyp, der gern im Rampenlicht gestanden hätte, darüber, dass er im Blitzlicht der Fotografen (flash v.4) im falschen Moment die Augen geschlossen hat. Da ihn dies schmerzt, versucht er, den anderen Szenemitgliedern durch seinen bunt schillernden Aufzug zu imponieren. Übertragen beklagt das lyrische Ich, dass es im Gerede der Welt (orakelgewisper und spuksphinxfragen v.6) den Zugang zur Transzendenz verloren hat, obwohl dieser noch möglich gewesen wäre (Ein glücksstern … sich zu mir neigt v.3). Dies verletzt das lyrische Ich, es versucht mit Hilfe des Gedichtes (Argusfasan v.16) einen schwachen Abglanz der Transzendenz (flackerlicht v.12) für das moderne Publikum (loser-workshop v.11) festzuhalten. Es tröstet sich damit (v.20ff), dass die ‚flugimpotente‘ Gegenwart sub specie aeternitatis nur metaphorisch zu nehmen ist.

Flash or Fly


 
Ich tatsächlich hab ich
schon wieder klar peinliche zwei
Zehntelsekunden
zu spät hat mein aug dieses
hochgetunte

Ein glücksstern
seht her wie er sich zu mir neigt

Szene-gen-high
in den flash gefunkt

 
5
Irreparabel
das
innenohr
abgelenkt
Von
orakelgewisper und spuksphinxfragen

Und also der
rampenauftrumpf wieder verratzt

Selbstsubjektivierten lidschlags

 
Schmerzbrunnenweit
ach nun das pupillenrund
10
Nacht stürzt herein
durchschlägt

Endzeitwuchtschwer
den spiegel-
Grund
zu einer wunde wo der brand anfängt

 
In dessen
flackerlicht
sieh da
ich spanne

Plötzlich den
loser-workshop
zwei sekunden
15
Backstagetalentaufmerksamkeitsmanagement

Mit dem
Argusfasan
bionotorisch
der
hundbunte

Argusianus argus L.
hochglanzpaillettenhahn

 
Der
zyklopische heißluftnummern
erfindend
Hat er sich
intraspezifisch mehr von henne zu henne

20Und mehr
flugimpotenz
selektiert doch
ich erwähns

Nur weil man sagt
dass gene

Nichts als metaphern sind
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Mit Flash ist der Blitz des Fotographen gemeint, aber auch der Gedankenblitz und das Aufblitzen der Transzendenz, hier verläuft die Bewegung von oben nach unten. Fly impliziert die gegenläufige Bewegung von unten nach oben, hier den Versuch, sich der Transzendenz zu nähern.

v.1 Ich tatsächlich hab ich: Die syntaktische Spitzenstellung des Ich und die Wiederholung machen deutlich, dass der Redende als Prototyp der modernen narzisstischen Eventkultur eingeführt wird. Der dreifache grammatische Ansatz (Ich … hab ich …/ … hat mein aug) versinnbildlicht das im v.2 beschriebene zu späte Reagieren für das wichtige Blitzlichtbild auf dem Party-Event.

v.1f schon wieder klar peinliche zwei / Zehntelsekunden zu spät hat mein aug: Das Ich empfindet sich auf Grund seiner Verspätung als Verlierer (peinliche). Dass das Ich nicht das richtige Gesicht zum richtigen Zeitpunkt präsentiert hat, ist bereits öfters geschehen (schon wieder) und typisch für es (klar). Das ‚Auge‘ ist das konstituierende Symbol des Gedichts: 1) ist es Symbol für die Prominenz (‚Alle Augen richten sich auf dich‘), 2) ist es Symbol für die Transzendenz (‚Das Auge Gottes‘) und 3) ist es Symbol für die Wahrnehmung der Transzendenz (vgl. v.9-12).

v.2 hochgetunte: ‚Tuning‘ meint hier die Verbesserung des optischen Designs (vulgo: ‚aufbrezeln‘) für die Partyszene.

v.3: Der Einschub zeigt im Gegensatz zum Vorherigen die Wunschvorstellung des Ich: Es wird vom Glück umstrahlt; alle sehen es; es ist auserwählt (zu mir). Verdeckt dahinter liegt das Bild vom Stern von Bethlehem als Zeichen für die Ankunft des Heilands. Die Einrückung lässt sich auch als Wechsel der Perspektive, als Kommentar des lyrischen Ich als Dichter lesen.

v.4 Szene-gen-high: Die obligatorische Begrüßungsformel der Partygänger ‚Hi‘, gleichklingend wie high, suggeriert auch, dass alle ‚auf Droge‘ sind. Die Formel dient der Konstituierung der Szene, so wie biologisch das Gen für den Menschen konstitutiv ist.

v.4 in den flash gefunkt: Das in das Blitzlicht gehaltene Gesicht übermittelt (‚funkt‘) idealerweise die Botschaft high und ‚in‘ zu sein.

v.5 Irreparabel: Die Ausrichtung auf die inneren Stimmen (vgl. zu v.5 innenohr und v.6) ist nicht aufzuheben.

v.5 innenohr: Das Innenohr ist ein Teil des Ohres. Es besteht aus der Hörschnecke und dem Gleichgewichtsorgan. Das innenohr ist hier auch als ‚inneres Ohr‘, als Ort des Hörens auf das Selbst, zu verstehen. Dabei wird das Gleichgewicht durch innere Stimmen (vgl. zu v.6) gestört.

v.6 orakelgewisper und spuksphinxfragen: Orakel, Spuk und Sphinx zeigen, dass das Ich (in der Welt orientierungs- und zentrumlos) Einflüsterungen und Scheinantworten ausgeliefert ist.

v.7 rampenauftrumpf wieder verratzt: Zusammensetzung aus Auftritt an der Rampe und dabei auftrumpfen. verratzt drückt umgangssprachlich das Misslingen dieses Auftritts aus.

v.8 Selbstsubjektivierten lidschlags: Das Auge ist im Moment des Fotografierens geschlossen (vgl. zu v.1 und v.1f), der Lidschlag verhindert die gelungene Aufnahme, das Subjekt wirkt narzisstisch auf sich selbst zentriert.

v.9 Schmerzbrunnenweit … pupillenrund: Übereinandergelegt sind Brunnen- und Pupillenöffnung. Das Bild des Brunnens verbindet den Abstieg ins Unbewusste des Subjekts mit dem Element, das lebensnotwendig ist, mit dem Wasser. Schmerzvoll ist der Verlust des Zugangs zu diesem existentiellen Element. Schmerzvoll ist aber auch für das Auge das Blitzlicht, das blendet und die Pupille verengt, die sich danach aber wieder weiten muss, um Orientierung zu ermöglichen.

v.10 Nacht stürzt herein: Die Dunkelheit ist hier auch symbolisch als Hinweis auf die fehlende Transzendenz zu verstehen.

v.10ff durchschlägt / … den spiegel- / Grund: Die Dunkelheit durchbricht die sich selbst spiegelnde narzisstische Gegenwart.

v.11 Endzeitwuchtschwer: Nach der Zerschlagung der Gegenwart durch die Nacht wird der Blick auf eine ‚Endzeit‘ frei, in die die Transzendenz wieder eintreten kann. Dies erinnert an Hölderlins Vorstellungen von der Rückkehr der Götter. Die ‚Wucht‘ und die ‚Schwere‘ weisen genauso wie vorher das ‚Stürzen‘ (v.10) und das ‚Durchschlagen‘ (v.10) auf das Gewaltsame des Vorgangs.

v.12 zu einer wunde wo der brand anfängt: So wie das Blitzlicht und die sich anschließende Dunkelheit im Individuum eine brennende, sich nicht schließenden Wunde verursachen, die auf das Fehlen der Transzendenz verweist, so wird im gesellschaftlichen Bereich die Endzeit durch den Weltenbrand charakterisiert.

v.13 flackerlicht: Das durch die Wundbrand empfundene flackerlicht ähnelt dem Kerzenlicht und nimmt den Flash des Blitzlichts in verwandelter, abgeschwächter Form auf.

v.13 ich spanne: Das Verb kann hier im Sinne von ‚etwas spannend machen‘ oder von ‚etwas zusammen spannen‘ gebraucht sein. Es könnte auch in der Bedeutung von ‚sehen‘ (wie sie noch im ‚Spanner‘ mitwirkt) gebraucht sein.

v.14 loser-workshop: Die Verlierer, denen es nicht gelungen ist, im Blitzlicht gut auszusehen und die daher daran arbeiten müssen, bei der nächsten Gelegenheit entdeckt zu werden (vgl. zu v.15).

v.15: Die nicht im Rampenlicht Stehenden (Backstage) wollen durch ihr talent aufmerksamkeit erregen und müssen deswegen (in einem workshop) das Selbst-management verbessern: so z.B. für DSDS (‚Deutschland sucht den Superstar‘). Der Terminus aufmerksamkeitsmanagement könnte der Untersuchung des Kreativitätsdispositivs von A. Reckwitz entstammen (A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Berlin 2012 (stw 1995)). Reckwitz betrachtet auf verschiedenen Feldern der Gesellschaft das sich gegen Ende des 20.Jhs durchsetzende Kreativitätsdispositiv, das durch vier Faktoren bestimmt ist: den Kunstproduzenten (im kommentierten Gedicht: das lyrische Ich), das Kunstobjekt (der argusfasan), das Publikum (der loser-workshop) und dessen soziale Strukturierung (das aufmerksamkeitsmanagement). Er bemerkt: ‚im bürgerlichen Kunstfeld stellt sich das Aufmerksamkeitsmanagement des Publikums als zentrales Koordinationsproblem des Sozialen dar‘ (Reckwitz a.o.O. S.331). ‚Das Erringen und Gewähren von Aufmerksamkeit wird … in einer Gesellschaft, die auf ästhetisch Neues setzt, zum kulturellen Kampffeld‘ (Reckwitz a.o.O. S.333).

v.16 Argusfasan: Der Name des Fasans stammt von den Augenflecken der Armfedern: Argus ist in der griechischen Mythologie ein vieläugiger Zyklop. Aufgrund seiner verlängerten Armfedern kann der Fasan schlecht fliegen. In der Paarungszeit verteidigt das Männchen eine offene Stelle am Waldboden als Bühne für die Balz und stößt laute, klagende Rufe aus. Auf der übertragenen Ebene steht der Argusfasan für das Gedicht. Das verbindende Symbol ist das Auge, durch das die Transzendenz eindringen könnte (vgl. zu v.1f), ebenso wie das Gedicht die Transzendenz aufnehmen kann.

v.16 bionotorisch: wörtlich: ‚in der Biologie bekannt‘. ‚Notorisch‘ ist verwandt mit ‚notieren‘ und verweist damit auf die poetologische Ebene, auf das Gedicht.

v.16 hundbunte: Angespielt ist auf die Redensart ‚Bekannt wie ein bunter Hund‘, darauf verweist auch das vorangehende notorisch. Damit wird auf den Bekanntheitsgrad der Prominenz verwiesen und an den Aufputz von Szenegängern erinnert.

v.17 Argusianus argus L(innaei): korrekte biologische Klassifikation des Argusfasans im Linnaeischen System. Die betonte Nutzung der Klassifikation verweist darauf, dass das Reale geistig geordnet werden muss.

v.17 hochglanzpaillettenhahn: Der Argusfasan gehört zur Ordnung der Hühnervögel. Die Pailletten auf Kleidern sind den Augen auf dem Gefieder des Fasans vergleichbar. Dieses Sich-Schmücken (vgl. hochgetunte v.2) der Aufmerksamkeit Heischenden ist – wenn man den Argusfasan als Symbol für das Gedicht versteht – ironischer Kommentar zum Aufputzen eines Gedichtes mit Reim und Versmaß.

v.18 zyklopische heißluftnummern: Zum Zyklopen vgl. zu v.16 Argusfasan. ‚Heiße Luft‘ ist redensartlich etwas Substanzloses, etwas Leeres. Damit erscheinen auch die Nummern, die auf der Balzbühne bzw. im Rampenlicht aufgeführt (bzw. geschoben) werden, oft als substanzlos. Dies kann wiederum als ironischer Kommentar zur heute gängigen Gebrauchslyrik verstanden werden.

v.19 intraspezifisch … von henne zu henne: Vererbungsgang innerhalb der Spezies (Art) von einer Generation zur nächsten

v.20 flugimpotenz: Die von dem Hahn nicht mehr benötigte Flugfähigkeit ist auf der übertragenen Ebene das Zeichen dafür, dass in der Moderne der Zugang zur Transzendenz immer schwieriger wird.

v.20f ich erwähns / Nur weil man sagt: Die Zustimmung des lyrischen Ich zur allgemeinen Meinung ist ironisch zu verstehen (vgl. zu v.21f).

v.21f dass gene / Nichts als metaphern sind: Dass die Gene des Fasans sich zur Flugunfähigkeit hin verändert haben, ist für den Fasan unerheblich, da er die Flugfähigkeit für seine Balz nicht mehr braucht. Auf der übertragenen Ebene könnte man sagen, dass der moderne Verlust des Transzendenzzugangs nur vordergründig ist (eine metapher), da die dahinter liegende Transzendenz zeitunabhängig ist.
 
 
Aspekte der Form:

Reimschema: a/b/a/b // x/c/x/c // x/d/x/d // a/b/x/b/a // a/b/x/b/a. Die scheinbaren nicht gereimten Verse (x) sind durch Binnenreime gebunden: Irreparabel / orakel… (v.5f), pupillenrund / Grund und wunde (v.9 + v.12), …talent / …management (v.15),…impotenz / erwähns (v.10).

v.4: Der Gedankenstrich am Ende des Verses lässt sich als Blitzlicht oder als Gedankenblitz interpretieren. Im Gegensatz dazu steht der Trennungsstrich (am Ende von Vers 11), der das Durchschlagen des Spiegels zeigt.