Seelenverkäufer

Überblickskommentar:

Dem Gedicht liegt eine mehrschichtige Schiffsmetapher zu Grunde, die auf den transzendenten Bereich, auf das Lebensschiff des Einzelnen, auf den ökologischen Zustand der heutigen Kultur und auf das Gedicht als Schiff selbst zu beziehen ist. Dabei stellt der Titel den Zusammenhang von Schiff und Seele her, einerseits verkaufen in der heutigen Konsumwelt die Menschen ihre Seelen, andererseits dient das Gedicht als Fähre dazu, die Seelen aus der Transzendenzferne von windstille zu windstille zu retten. Dieser poetologischen Funktion, mit der das Gedicht endet, wird zu Beginn eine Kommunikationsform der Konsumwelt entgegengestellt: das Werbeplakat.

Das lyrische Ich redet einen Plakatkleber an, der in einem Bahnhof ein Plakat für die Show „No Panic“ der Blue Man Group auf eine Reklamewand pappt. Es assoziiert zu dem Show-Titel den Reim „Titanic“ und denkt an die heutige Konsumwelt als megakopie der Titanic, deren Untergang das Vertrauen in die Technik ehemals in Frage gestellt hat. Als Beispiel für den möglichen Untergang der heutigen Kultur wird der Great Pacific Garbage Patch, der Müllstrudel im Nordpazifik angeführt. Eingeschoben ist in den Versen 8-16 eine Reflexion über die heutigen Menschen, die nach Resten einer versunkenen Religion spähen, wie die Menschen in den Rettungsbooten der Titanic auf das Treibgut schauten und auf die rettende Küstenlinie hofften. In diesen Einschub ist in den Versen 10-14 die Betrachtung von Küstenlinien nach dem Mathematiker Mandelbrot eingefügt, die einen Zusammenhang zwischen dem Ganzen und seinen Teilen herstellt (Zur Deutung s. unten zu v. 10ff).
Mit Vers 20 kehrt das lyrische Ich wieder zum Plakatkleber zurück, der in seinem orangenen Overall eine Leiter hinaufsteigt. Der Aufstieg wird zur Himmelleiter und kosmisch zum Entstehen und Vergehen eines Roten Riesen erweitert, das seinen Höhepunkt in dem Lichtpunkt findet, der für Anfang und Ende einer eschatologisch verstandenen Zeit steht (v.30-33).
Mit der zweiten Hälfte des Verses 33 wendet sich das lyrische Ich wieder an den Plakatkleber, den ein Zusammenhang zwischen Immanenz und Transzendenz nicht interessiert. Das lyrische Ich nimmt die Schiffsmetapher des Anfangs wieder auf, jetzt aber wird die Odyssee als kultureller Hintergrund evoziert: Die heutige Warenwelt wird mit der Charybdis verglichen (v.36-40), gegen die der Autor und sein Gedicht sich wenden. Das Gedicht selbst versteht sich als Bannspruch in einer transzendenzfernen Zeit, als Fähre, die mit Rückbesinnung auf die Tradition (Treibgut) von windstille zu windstille übersetzt (v.41-51).

Seelenverkäufer


 
Was
Sie
hier unten
großsegelgroß
über die bahnhofswand
pappen

Drei schwarzermannriesenschatten
plus subtitletranquillizer

NO PANIC

Denn
in wahrheit
seien sie
blue
und das blue bloß fake
ruft es

5Schreits nicht nach
kindischer abzählreimprophetie

Und einem
schwesterschiff das als megakopie
heißts
noch immer

Wer spricht von eisbergen da allerorts
leck an leck

In den
psychokontainern
schon tun

Sich die menschen krumm
und spähn

10
Wenn wir irgendeinen
bekannten

Ausschnitt aus einer küstenlinie
Detaillierter anschaun so offenbart er uns
Das gleiche maß an krümmungen
Wie die küstenlinie selbst
15
Bis ans ende der welt
nach den schönern scherben

Eines entsorgten heiligtums zwischen den
Neunundzwanzigtausend
kinderkuntergeburtstagsbunten
entchen
Schildkrötlein und den schaumbadbibern
im spirituellen mehrwert

Des
Great Pacific Garbage Patch

20
und da

Strecken Sie sich
halsbrecherischst
immer höher auf Ihrer
himmelsleiter hinaufwärts

Bis ich
nicht mehr den sterneffekt Ihrer augen
Bis ich kaum mehr die mondblässe Ihres gesichts
Bis nur noch das grellorange Ihres
overalls
immer feuriger
25
Aufstrahlend als Roter Riese
voll rund im
zenit

Und wenn
sehen Sie mich noch ganz zufällig einer ohne die
D&G-brille
jetzt
Ja da plötzlich
zirpt
ein archaischer nerv
ihm
noch einmal so was wie
Stammhirnreflex
auf religiöse symbolik
à la Sodom oder Belsazar
oder
Wenn Sie das besser begreifen
diese
vorausfackelnde faust
eines
30Lichtpunkts
Ausdehnungslos
nach art einer mathematischen singularität
Der demnächst
an der rampe von zeit und raum
wieder mal sein

Show off oder down
aber genug der

Was auch soll Ihnen das kosmischen exkursionen
35Denn
zutiefst irdisch
hier unsre
Charybdis
domestiziert
und
Himmlischer hermeneutik eisern abhold

Dafür
gestopft platzevoll
mit verkaufsoffenem sonntag

Heran schon geben Sie
obacht
jetzt

Rauscht sie aus ihrer höhle um aus den hundert
40Schlünden sich
schwall um schwall
zu erbrechen

Und einzig
dies letzte verlässliche blau
Ausbleichend
wie reminiszenzen aus kindertagen
Das ich nietfest noch heut um den hintern trage
Apotropäisch
vielleicht hilfts
45Gegen den ansturm gedreht
Und
gebläht zum klabauterfanal
in der
sturzsee

Ansonsten zur not noch so
logbuchbannsprüche

Blattreste
verwackelt synchronisiert

Mit ausfahrten von
Pharos von Ostia und dem Piräus

50
Treibgut und wracks bis heut
unterwegs

Von
windstille
zu windstille

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Seelenverkäufer wurde ursprünglich ein Sklavenhändler genannt, später wurde der Begriff auch auf ein nichtseetüchtiges Schiff, das Sklaven beförderte, übertragen. Der Begriff muss auch auf die heutige Konsumwelt bezogen werden, in der wir die Sklaven des Marktes sind und in der die Menschen ihre Seelen verkaufen.

v.1 Sie: Angeredet wird ein Plakatkleber. Der hier begonnene Satz wird nach den Einschüben in v.2-4 mit v.5 fortgesetzt.

v.1 hier unten: Hinweis auf das Diesseits als Immanenz (in der traditionellen Topologie, die Transzendenz ist dann folgerichtig ‚oben‘ anzusiedeln); das Szene spielt auf einem Bahnhof, so dass das Diesseits als Durchgangsstadium angesehen werden kann.

v.1 großsegelgroß: Als Großsegel es wird das Segel bezeichnet, das am Großmast eines Segelschiffes befestigt ist. Die Wiederholung des Adjektivs groß lässt sich als Hinweis auf die Aufgeblähtheit der Immanenz verstehen. Zugleich ist die hier und bereits im Titel angesprochene Schiffsmetapher auch als Chiffre für den transzendenten Bereich (z.B. die Kirche als Schiff), für das Lebensschiff des Individuums oder als Chiffre für die gegenwärtige Kultur (‚Untergang des Abendlandes‘) zu deuten.

v.1 pappen: Durch die Nutzung eines pejorativen Verbs (statt ‚anbringen‘ oder ‚ankleben‘) wird der Gegenstand selbst, das Plakat, abgewertet.

v.2 Drei schwarzermannriesenschatten: Auf der konkreten Ebene sind auf einem Plakat der ‚Blue Man Group‘, das ihr Programm ‚NO PANIC‘ ankündigt, drei Männer in schwarzer Kleidung mit blauen Gesichtern und Händen zu sehen. Sowohl im Kinderspiel ‚Wer fürchtet sich vorm Schwarzen Mann‘ als auch in der Gestalt des Teufels als ‚Schwarzer Mann‘ wird die Dimension existentieller Bedrohung deutlich. Dies wird auch durch ‚Riese‘ und ‚Schatten‘ unterstrichen.

v.2 plus subtitletranquillizer: ‚mit Untertitelberuhigungsmittel‘: Dem modernen Menschen werden Sedativa (in Form von Werbung) verabreicht, damit er die existentielle Bedrohung nicht wahrnimmt.

v.3 NO PANIC: s. zu v.2 Drei schwarzermannriesenschatten. Der Untergang des Schiffes Titanic hat sich dem kollektiven Bewusstsein unter anderem durch den Reim ‚Keine Panik auf der Titanic‘ eingeprägt. Ursprünglich wurde der Untergang als Paradigma für die Gefährdung des Menschen durch die Technik verstanden, inzwischen ist daraus aber ein Mythos (s. den Film ‚Titanic‘) geworden, der den Untergang ästhetisiert und verharmlost.

v.4 in wahrheit: Die Formulierung erinnert an das Präfationsgebet (Eingangswort, Vorgebet ) in der katholischen Messe: ‚In Wahrheit ist es würdig und recht, dir, Vater im Himmel, zu danken‘.

v.4 blue: Durch die Antinomie, dass ‚sie‘ (i.e. die Blue Man Group) in Wahrheit blau seien und dass das Blau nur ein Fake, eine Täuschung sei, wird auf der realen Ebene auf die unauflösbare Vermischung von Realität und Fiktion in der Werbung hingewiesen. Auf der übertragenen Ebene, auf der Blau traditionell die Transzendenz und damit die Wahrheit repräsentiert, wird durch den Konjunktiv seien die ontologische Ebene evoziert: Die Wahrheit ist das Sein.

v.4 ruft es: Die Phrase ist sowohl auf das Vorhergehende als auch auf das Folgende zu beziehen.

v.5 kindischer abzählreimprophetie: Der Reim, nach dem die Zeile NO PANIC schreit, ist natürlich ‚Titanic’ (vgl. zu v.3). Der Untergang der Titanic wurde als Menetekel für den Bedrohung der Menschheit durch die Technik interpretiert, dies ist eine negative Prophetie. Damit werden die kindlichen Abzählreime (‚Ene mene mu und raus bist Du‘) verknüpft, die auf spielerischer Ebene das Auswählen aus einer Gemeinschaft darstellen, das für das Funktionieren des Spiels notwendig ist.

v.6 schwesterschiff … als megakopie: Gemeint ist die ‚in einem gemeinsamen Boot sitzende Menschheit auf diesem Planeten’ (vgl. zu v.1 und zu v.3).

v.6 das … noch immer: Der Nebensatz kann mit v.16ff (zwischen den) fortgesetzt werden; zu ergänzen wäre dann am Ende von v.19 z.b. ‚dümpelt’. Der Satz hieße dann in etwa: ‚Das Schwesterschiff, das als Kopie zwischen Entchen und Bibern im Müllstrudel dümpelt, …’.

v.7: Das Abschmelzen (‚Lecken’, leck an leck) des arktischen Eises wird parallelisiert mit den Eisbergen, die der Titanic zum Verhängnis werden. Als Beispiel für solch katastrophale Lecks kann auch das lange nicht abdichtbare Leck der Ölplattform Deep Horizon (auch ein ‚prophetischer Name’!) im Golf von Mexico dienen.

v.8 psychokontainer
: Angespielt wird auf genormte Behälter zum Gütertransport, die Container. In Schiffscontainern wurden häufiger auch Menschen geschmuggelt (vgl. den Titel). Zugleich ist auch an die Container zu denken, in denen die Mitspieler der Reality-Shows wie ‚Big Brother’ untergebracht sind. Wörtlich genommen wäre ein ‚Psychokontainer’ der Körper, in dem die Psyche transportiert wird.

v.8f schon tun / Sich die Menschen krumm: Auf den Seelenverkäufern wurden die Menschen eng eingepfercht, sie mussten sich krümmen. Das Verb ‚tun’ verweist hier darauf, das sich der Mensch durch Arbeit verbiegen muss (bereits biblischen Ursprungs in der Verfluchung Adams: ‚Im Schweiße …‘).

v.9 und spähn: Der Satz wird mit v.15 Bis ans ende der welt nach den schönern scherben … (vgl. zu 15f) fortgesetzt.

v.10ff: Der Passage liegen die Untersuchungen von Benoît Mandelbrot über Fraktale zu Grunde. Er entdeckte u.a., dass Küstenlängen Ähnlichkeiten zu sich selbstähnlichen Kurven aufweisen. Das Phänomen lässt sich auf zwei Weisen auffassen: 1) Wenn die Menschen die Natur Detaillierter (v.12) anschauen würden, würde ihnen in der Immanenz die Transzendenz offenbart (v.12) werden. Das Erstaunen über die mathematische Beschreibung Mandelbrots entspricht dem Erstaunen des religiösen Menschen vor der kosmischen Harmonie. 2) Wenn die heutigen Menschen Teilbereiche der Immanenz genauer betrachten, finden sie nichts als die Immanenz wieder. Sie finden das gleiche Maß an Krümmung, wie bei sich selbst (Skaleninvarianz). Hier wäre offenbart ironisch zu verstehen.

v.15 Ende der Welt: Der Begriff kann als Raumbegriff (bis an den Horizont), religiös (bis zum Jüngsten Gericht) und ökologisch (bis zum Ruin durch die Technik/den Kapitalismus) verstanden werden.

v.15f nach den schönern scherben / Eines entsorgten heiligtums: Man kann die Religion als das ‚Heiligtum’ verstehen, das seit der Aufklärung ‚entsorgt’ worden ist. Die ‚Scherben’ wären dann die religiösen Überbleibsel, die allerdings im Vergleich mit den transzendenzlosen Konsumartikeln (s.v.27f) ‚schöner’ sind.

v.17f: Ein chinesisches Frachtschiff geriet am 10. Januar 1992 auf dem Weg von Hongkong nach Tacoma in einen schweren Sturm. Im Nordpazifik verlor es dabei drei Container. Es wurden etwa 29.000 Kunststofftiere ins Meer gespült: gelbe Enten, grüne Frösche, blaue Schildkröten und rote Biber (vgl. Wikipedia ‚Friendly Floatees‘).

v.17 kinderkuntergeburtstagsbunten: Neologismus, der in seiner Monstrosität zur Charakterisierung der Obszönität der Warenwelt (Adorno) dient. Die Diminutive in entchen und Schildkrötlein und der Bezug auf die naive Kinderperspektive (Kindergeburtstag, Kinderbad mit Plastikfigürchen) verniedlichen den im folgenden beschriebenen Müllstrudel und mystifizieren den Warencharakter (im Sinne von Marx).

v.18 im spirituellen mehrwert: Der ‚Mehrwert‘ (als Marx‘scher Fachbegriff) verweist auf die Sphäre der Ökonomie. Dazu im Gegensatz steht die Sphäre des ‚Spirituellen‘. Dadurch entsteht eine Paradoxie, die im Kontext der Badefiguren nur ironisch aufgefasst werden kann und den ruinösen Charakter der Warenproduktion überlagert.

v.19 Great Pacific Garbage Patch: Plastikmüll in den Ozeanen ist ein internationales Umweltproblem. Plastikteile und deren Zersetzungsprodukte sammeln sich insbesondere in einigen Strömungswirbeln an und führen zu einer erheblichen Verdichtung in manchen Meeresregionen. Dem Nordpazifikwirbel hat dieses Phänomen den Beinamen Great Pacific Garbage Patch (deutsch: Großer Pazifikmüllfleck) eingebracht. Das Phänomen wurde 1997 erstmals beschrieben.

v.20 und da: Mit und da wird der Beginn einer Epiphanie eingeleitet, die im Folgenden als Prozess (v.21-30, vgl. zu v.22ff) dargestellt wird.

v.21 halsbrecherischst: Das Adverb bezieht sich nicht nur auf die Haltung des Plakatklebers auf seiner Leiter, sondern muss auch als Verweis auf den eine ökologische Katastrophe verursachenden Kapitalismus verstanden werden.

v.21 himmelsleiter hinaufwärts: Die Jakobsleiter oder Himmelsleiter ist ein Auf- und Abstieg zwischen Erde und Himmel, den Jakob laut der biblischen Erzählung in Gen 28,11 in einer Traumvision erblickt. Die Bewegung symbolisiert hier sowohl den Weg in die ökologische Katastrophe (eingekleidet in das Bild eines kosmischen Untergangs, vgl. zu v.22ff) als auch eine positiven Gegenbewegung, die Annäherung an die Transzendenz.

v.22ff: Die vier Verse zeigen eine sich steigernde Leuchtkraft (Stern, Mond, Roter Riese), eine sich weitende Wahrnehmung der Person (Augen, Gesicht, Person (Overall)) und eine zunehmende Farbkraft (Sternenlicht, Mondlicht, Explosion eines Roten Riesen als Supernova), während das lyrische Ich in den parallel gebauten Versanfängen abnimmt bzw. in v.24f ganz verschwindet.

v.24 overalls: Das Hinaufsteigen und die sich weitenden Wahrnehmung zeigen sich auch in einer wörtlichen Übersetzung des Kleidungsstücks: ‚Über Allem’ bzw. ‚ Über dem All’.

v.25 Aufstrahlend als Roter Riese: Ein Roter Riese ist ein Stern von großer Ausdehnung, ein Himmelskörper hoher Leuchtkraft, der, wenn er eine bestimmte Masse besitzt, zu einer Supernova wird. Eine Supernova kann sich zu einem Neutronenstern entwickeln, aus dem dann ein Schwarzes Loch entsteht. Auf diese Entwicklung spielen die v.25ff an.

v.25 Zenit: Am Himmel der höchste Punkt, aber auch der höchste Punkt einer Entwicklungskurve, von dem aus es nur noch bergab geht.

v.26 Und wenn … jetzt: Parallel zu v.20 und da und fortgesetzt mit v.27 Ja da.

v.26 sehen … D&G-brille: Das lyrische Ich stellt sich dem Plakatkleber gegenüber als jemand dar, der nicht der aktuellen Mode (dem Konsumterror) unterworfen ist, es trägt keine Dolce & Gabbana-Sonnenbrille. Das lyrische Ich setzt sich ungeschützt dem Licht, der Transzendenz aus.

v.27f zirpt … / … auf: Das Zirpen verweist auf die Grille als antikes Symbol für den Dichter. Der Dichter ist prädestiniert, die verlorene Verbindung zur Transzendenz wieder herzustellen (vgl. zu v.41 und v.48ff).

v.27f archaischer nerv … / Stammhirnreflex
: Der Hirnstamm (auch Stammhirn) ist der stammesgeschichtlich älteste, ein archischer Teil des Gehirns. Er verarbeitet eingehende Sinneseindrücke und ausgehende motorische Informationen und ist zudem für elementare und reflexartige Steuermechanismen zuständig.

v.27 ihm: Es gibt zwei Möglichkeiten das Personalpronomen zu beziehen: Einerseits auf den Plakatkleber andererseits auf den Roten Riesen. Im ersten Fall würde der Plakatkleber am Rande seines Bewusstseins (ganz zufällig v.26) wahrnehmen, dass unsere Kultur auf einen Untergang (à la Sodom v.28) zusteuert. Im zweiten Fall wäre der Rote Riese ein Symbol für die Kulturentwicklung, an deren Ende noch einmal ihre ursprünglich religiöse Herkunft aufblitzt (wie der Heliumblitz bei der Entwicklung eines Roten Riesen zum Neutronenstern).

v.28 à la Sodom oder Belsazar: Die stehende Formel für Verworfenheit und Untergang (‚Sodom und Gomorrha‘, Gen. 21) wird hier aufgebrochen und um die Gotteslästerung des babylonischen Königs Belsazar (Dan. 5,1) erweitert, dem durch ein ‚Menetekel‘ sein Untergang prophezeit wird.

v.29 Wenn Sie das besser begreifen: Der moderne Mensch begreift die Mythen nicht mehr, er glaubt an die Naturwissenschaft.

v.29f vorausfackelnde faust eines / Lichtpunkts: Überlagerung einer Untergangsvision mit einem Neuanfang: Einerseits wird das Explodieren eines Roten Riesen und das Erscheinen einer Supernova als Fackel und Lichtpunkt bezeichnet, andererseits ist auch an die Sternerscheinung zu Christi Geburt zu denken und damit an den Neubeginn einer eschatologischen Zeit. Auf Letzteres weist auch vorausfackelnde hin, während die faust eher in die Untergangsvision gehört.

v.31: In der Mathematik ist ein Punkt definitionsgemäß Ausdehnungslos. Eine singularität bezeichnet in der Mathematik einen Punkt, an dem ein mathematisches Objekt nicht definiert ist (z.B. die Funktion □(1/x) , die für alle natürlichen Zahlen definiert ist, bis auf die 0, durch die nicht geteilt werden darf. Hier wäre die 0 die Singularität). Die sich im Stern von Bethlehem offenbarende Transzendenz kann man nach art einer mathematischen singularität begreifen: Die ‚Elemente der Immanenz’ sind definiert, die erscheinende Transzendenz ist definitionslos.

v.32 an der rampe von zeit und raum: Die rampe gehört zum Setting, zum Bereich, in dem das Gedicht spielt, i.e. dem Bahnhof. Der Bereich, in dem ein Lichtpunkt wie eine Supernova aufscheint, ist ebenfalls eine ‚Rampe’, eine kosmische Grenze, weil in dem dann entstehenden Schwarzen Loch Raum und Zeit verschwinden. Übertragen ist z.B. an die durch den Stern von Bethlehem beginnende und mit dem Jüngsten Gericht endende Zeit zu denken.

v.33 Show off oder down: ‚to show off‘ wird übersetzt mit ‚eine Schau abziehen, angeben’, ein ’showdown‘ ist eine ‚entscheidende Machtprobe’. Das Erscheinen der Transzendenz wird hier ironisch eingeordnet und mit dem Vokabular der Sinnangebote der heutigen Zeit beschrieben.

v.33f aber genug der / … kosmischen exkursionen: Eingeschoben in den Satz ist die Phrase Was auch soll Ihnen das als Hinweis auf die moderne Haltung gegenüber der Transzendenz.

v.35 zutiefst irdisch: Vgl. zu v.1 hier unten.

v.35 Charybdis
: In Homers Odyssee haust das Ungeheuer Skylla auf dem größeren der beiden sich gegenüberstehenden Felsen einer Meerenge und das Ungeheuer Charybdis unterhalb des kleineren Felsens. Charybdis saugt dreimal am Tag das Meerwasser ein, um es danach brüllend wieder auszustoßen. Durch die Irrfahrten des Odysseus ist die Charybdis mit der Schiffsmetapher verbunden (vgl. zu v.1 großsegelgroß) und im folgenden (v.35-40) wird sie als etwas dargestellt, das als Konsumwelt das Lebensschiff des Einzelnen (bzw. der gesamten Kultur/Gegenwart) bedroht.

v.35 domestiziert
: Die Formulierung ist ironisch zu verstehen und suggeriert, dass wir das Ungeheuer Charybdis gezähmt und zu einem Haustier gemacht hätten.

v.36 Hermeneutik: Die Hermeneutik ist eine Theorie über das Verstehen. Beim Verstehen verwendet der Mensch Symbole. Er ist in eine Welt von Zeichen und in eine Gemeinschaft eingebunden, die eine gemeinsame Sprache benutzt. Nicht nur in Texte, sondern in alle menschlichen Schöpfungen ist Sinn eingegangen, den herauszulesen eine hermeneutische Aufgabe ist. Der heutige Mensch ist einer auf das Transzendente zielende Auslegung der Welt eisern abhold. Mit ‚eisern’ wird auf das ‚Eiserne Zeitalter’ angespielt, das durch Götterferne charakterisiert ist.

v.37: An die Stelle des Transzendenzbezuges (Dafür) ist die heutige Konsumwelt getreten. Der ‚verkaufsoffene Sonntag’ ersetzt den sonntäglichen Gottesdienstbesuch.

v.37 gestopft platzevoll: Das Vollsaugen der Charybdis mit Wasser steht hier metaphorisch für das Überangebot von Waren in ‚unserer schönen neuen Welt’.

v.38 obacht: korrespondiert phonetisch und semantisch mit abhold (v.36): Während abhold eine Abwärtsbewegung weg von Huld und Gnade darstellt, zeigt obacht die achtsame Hinwendung nach oben.

v.40 schwall um schwall: Die Formulierung lässt an die Beschwörungsformel in Goethes ‚Zauberlehrling‘ denken: ‚Walle! walle / … / und mit reichem, vollem Schwalle / zu dem Bade sich ergieße.‘ Den ‚Zauberlehrling‘ kann man auch als visionäre Kritik an der sich verselbständigenden Technik lesen.

v.41: Der hier begonnene Teilsatz wird mit v.44f fortgesetzt: Und einzig dies … blau / … / … vielleicht hilfts / Gegen den ansturm. Auf der konkreten Ebene ist eine blaue Nietenjeans gemeint. Zur übertragenen Bedeutung von blau vgl. zu v.4 blue. Der Transzendenzbezug wird damit indirekt als ‚einzigartig‘, ‚verlässlich‘ und als ‚letztes‘ Bleibendes charakterisiert. blau ist zugleich die traditionelle Farbe der Tinte, sodass sich auch hier ein poetologischer Bezug ergibt (vgl. zu v. 27f zirpt und v.48ff).

v.42 ausbleichend … kindertagen: Übertragen ist das Nachlassen des Transzendenzbezuges gemeint, das dem Verblassen der Erinnerung an die Kindheit des Einzelnen bzw. an das Frühstadium der Kultur entspricht.

v.44 apotropäisch: (griechisch „abwehrend“) nennt man Handlungen, die Dämonen austreiben oder Unheil abwenden sollen. Apotropäische Handlungen basieren auf Geisterglauben, es sind Riten, die vielfach kulturell wie religiös überformt wurden. Die apotropäische Geste ist hier ‚das Drehen des Hinterns gegen den Ansturm (der Warenwelt)‘.

v.46 gebläht zum klabauterfanal: Der Klabautermann ist im seemännischen Aberglauben ein Schiffsgeist oder Kobold, der – meist unsichtbar – den Kapitän bei Gefahren warnt. Zeigt er sich, so ist dies ein schlechtes Zeichen. Ein Fanal hat die übertragene Bedeutung eines Aufmerksamkeit erregenden Zeichens, das ein bedeutungsschweres oder symbolträchtiges Ereignis ankündigt. Auf der poetologischen Ebene entspricht das klabauterfanal dem Gedicht, das den Leser vor dem Transzendenzverlust warnt. Segel werden durch den Wind gebläht, der Wind ist hier das Pneuma, das das Gedicht beseelt bzw. konstituiert.

v.46 sturzsee: Eine sturzsee ist eine heftige Wasserwelle, eine Woge, die sich über Untiefen oder der Reling eines Schiffes überschlägt („bricht“). Die Missbilligung der Warenwelt zeigt sich auch im Vokabular, das der Fäkalsphäre nahesteht: hintern (v.43), gebläht (v.46), -anal (v.46) und (f)urz (v.46).

v.47 logbuchbannsprüche: Ein Logbuch ist eine in der Seefahrt übliche Form der Aufzeichnung täglicher Ereignisse und Vorgänge. Es ist verbindlich, also nicht freiwillig, zu führen. bannsprüche dienen der Abwehr von Dämonen und Geistern. Auf der poetologische Ebene ist das Gedicht ein Bannspruch (vgl. zu v.44 und v.46).

v.48 Blattreste: ‚Blatt‘ knüpft an das Logbuch an; dass hier nur noch von Resten die Rede ist, zeigt, dass der Autor sich mit seinen Gedichten in einer schwindenden Tradition sieht, die im Folgenden nachgezeichnet wird.

v.48 verwackelt synchronisiert: Der Autor synchronisiert die Jetztzeit mit der Tradition und ist sich dabei der notwendigen Unschärfe (verwackelt) bewusst.

v.49: Mit den drei stellvertretend für untergegangene Kulturen stehenden Häfen (Pharos = Hellenismus, Ostia = römische Antike und Piräus = griechische Antike) benennt der Autor Ausgangspunkte seiner eigenen literarischen Position.

v.50: Im Meer des abendländischen Bewusstseins schwimmen die Reste der Tradition (v.49) als Treibgut und wracks bis heut. Im Gegensatz dazu steht das Wrack der Titanic und das Treibgut des Great Pacific Garbage Patchs.

v.51: Die Jetztzeit wird als Windstille, als transzendenzferne Zeit, bezeichnet; das Gedicht dient als Fähre zwischen solchen Zeiten.
 
 
Aspekte der Form:

v.2 schwarzermannriesenschatten: Versinnbildlichung der Bedrohung (s. zu v.2) durch ein Begriffsungetüm.

v.7: Die durch den Einschub Wer spricht von eisbergen zerstörte Syntax versinnbildlicht, wie die Eisberge das Schiff aufschlitzen.

v.19f: Die Brechung des Verses schafft eine Lücke, die den Müllstrudel veranschaulicht.

v.30 Lichtpunkts: Der ‚Lichtpunkt’ wird durch die grafische Darstellung (einziges Wort im Vers und Zentrierung) als singuläres Ereignis veranschaulicht (vgl. auch zu v.29f).