Küchenlied

Überblickskommentar
 
Grundgedanke: Gesang als Ruf der Transzendenz
 
Ausgehend vom Musikhören und Mitsingen beim Kochen und dem Hantieren mit einem japanischen Küchenmesser (VG 1) spekuliert das lyrische Ich über ein urzeitliches Messer und dessen Verbindung zur Enstehung der Syntax (VG 2). Der Nachtigallengesang, den ein Cro-Magnon-Mensch hörte (VG 3), wird verglichen mit dem Balzgesang eines Zebrafinken (VG 4). Das lyrische Ich konstatiert, dass in Vorzeiten alle Dinge noch von der Transzendenz sangen (beseelt waren), und wünscht, auch noch so singen zu können (VG 5). Es möchte im Lärm der Gegenwart einen Ruf der Transzendenz hören (VG 6). Durch so einen Ruf (Gesänge der Pygmäen im Kongo) ist der Musikforscher Sarno angezogen worden (VG 7). Dieser Ruf wird in den Veden als „tat tvam asi“ (‚Das bist Du‘) wiedergegeben (VG 8). Aus dem Song „Monsun o koete“ der Band Tokio Hotel wird in ironischer Absicht ein vergleichbarer Ruf zitiert: „und im heulenden Sturm / hör ich deine Stimme“ (v.36f). Dies führt zurück zum Musikhören beim Braten von Frühlingszwiebeln in der Küche (VG 9).
 
 

KÜCHENLIED

 
Musik? Immer! Und mitsingen!
Gerad bei den Routinen des Kochüblichen jetzt
Mit traditionell echt aus der
Tosa-Region
diesem

Unserem Top-Haiku-Kurouchi-Urmesser
5Die rau wild zerfurcht und sichtbar
Beweiskräftig schwört der Hersteller auf jeder
Mattschwarzklinge sich wiederfindet
 
Zumal der
Polylith
sprich Objektstein

Subjektsgriff plus lederne
10Kopula das war als Kombination
Der urerste MATERIALE SATZ doch beim
 
Arbeiten ob er dem Jetzttyp ähnlich
Selber auch sang so ein
CRO-MAGNON

Da er ja immerhin schon die gleiche
15Nachtigall hörte wie wir und für gewöhnlich
 
Ein
Zierzebrafink
wenn er sein stilles

Weibchen umsingt schon dem steigt
Der
DOPAMINPEGEL
kehlhoch

Und nun gar so ein wildes
 
20
Vorzeitdunkel
da sang Wesen

Aus allen Dingen das noch
Den Sänger umschlang so würd
Auch ich jetzt singen wenn fast vergessen
 
Doch irgendein Tiefen-Akkord
25
Down town
sich verirrt

Und aus der Wut des Verkehrs
Plötzlich ein Ruf das Ohr
 
Aufschließt nicht anders als jenem
Ba-aka-Sarno aus Jersey

30Urwaldgeraune vom Kongo
Nachtgrüne Töne
 
Geheimnisvoll eindeutig wie
Wo Götter noch wohnen
Veda-Gemurmel

35
Metrenummauert
tat tvam asi

 
Arekuru
toppú no naka
Kimi no koe ga kikoete kuru
Was wir natürlich gerade
Jetzt wo die Frühzwiebeln in unserer
40Rechteckigen
Tamagoyaki-Pfanne

Vulkanische
Phatte-Beats
brutzeln
Voll triumphal hochfahren
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel nennt den Ort, an dem das Gedicht beginnt und endet. Er spielt über die Assonanz auf die Gattung „Kirchenlied“ an.
 
v.3ff: Tosa-Region … / Mattschwarzklinge: In der japanischen Region Tosa werden nach einer alten Tradition Haiku-Kurouchi-Messer mit matt-schwarzer Schmiedepatina auf dem Klingenblatt hergestellt.
 
v.8ff: Polylith … /… MATERIALE SATZ: Angspielt wird auf eine Passage aus Peter Sloterdijks „Sphären III – Schäume“ S.373-374, in der Sloterdijk darstellt, dass die primitive Syntax auf die Hantierung mit Stielwerkzeugen zurückzuführen sei, die aus Griff (Subjekt), Stein (Objekt) und verbindendem Leder (Kopula) zusammengesetzt sind. Dieser „Polylith“ sei „der erste materiale Satz“. Unter „Polylith“ versteht er ein aus mehreren prähistorischen Materialien zusammengesetztes Objekt.
 
v.13: CRO-MAGNON: Der erste homo sapiens der letzten Kaltzeit (40.000 – 12.000 v.Ch.)
 
v.16: Zierzebrafink: Der australische Zebrafink ist ein in Deutschland sehr beliebter Ziervogel.
 
v.18: DOPAMINPEGEL: Dopamin ist ein körpereigener Botenstoff, der im Volksmund als Glückshormon bezeichnet wird.
 
v.19ff: wildes / Vorzeitdunkel … /Auch ich jetzt singen: Es klingen die Verse Eichendorffs an: “ Schläft ein Lied in allen Dingen / die da träumen fort und fort, / und die Welt hebt an zu singen, / triffst du nur das Zauberwort.“ Hier bzw. in der Spätromantik gibt es die Vorstellung, dass allle Wesen aus einer chaotischen Vorzeit hervorgegangen sind und dass dieser gemeinsame Ursprung in der Poesie wiedererweckt wird.
 
v.25: Down town: Anglizismus, der für die chaotisch brodelnde, verkehrsreiche Innenstadt steht. In der Gegenwart wird durch sie der Ruf der Transzendenz, der Tiefen-Akkord, überdeckt. Der Anglizismus spielt auch an auf Petula Clarks Lied „Downtown“.
 
v.29: Ba-aka-Sarno aus Jersey: Louis Sarno (* 1954 in Newark, New Jersey) ist ein US-amerikanischer Musikforscher. Er erforschte die aussterbenden Gesänge der BaAka-Pygmäen in den Regenwäldern des Kongobeckens. Die BaAka kommen als musikalische Wunderkinder zur Welt, mit ihrem Gesang können sie verwundete Seelen heilen. Die Musik der BaAka ist älter als die Pyramiden, sie ist für Sarno einer der kostbarsten Schätze der Menschheit.
 
v.34f: Veda-Gemurmel / … tat tvam asi: Tat Tvam Asi (Sanskrit: „Das bist Du“, oder „Du bist das“) ist eine der großen Verkündigungen der Veden. Die Veden sind eine Sammlung religiöser Texte im Hinduismus. Den Kern der Veden bilden „gehörte“ Gesänge, also Offenbarungen.
 
v.35: Metrenummauert: im Gegensatz zur Prosa des alltäglichen Sprechens in Versform gebaut
 
v.36f: Arekuru … / … kuru: Jap. „Und im heulenden Sturm / hör ich deine Stimme“, zwei Zeilen aus dem populären Song „Monsun o koete“ der Gruppe Tokio Hotel.
 
v.40: Tamagoyaki-Pfanne: Rechteckige Pfanne, die in Japan zur Herstellung einer Art gerollten Omlettes gebraucht wird.
 
v.41: Phatte-Beats: ‚phatt‘: Jugendsprache für ‚hervorragend, fett‘; ‚Beat‘ steht für den Taktschlag des Schlagzeugers; zusammen also: ‚fette Taktschläge‘. Mit dem musikalischen Slang wird das Vulkanische Spritzen und Knistern der bratenden Frühzwiebeln beschrieben.
 
 
Aspekte der Form:

Reimschema: a/b/a/b/a/b/a // c/b/d/c // e/d/f/e // g/f/h/g // (i)j/(k)h/(i)l/(k)j // m/l/n/m // o/n/p/o // q/p/r/q // s/t/s/t/s/t/s.

Dies Reimschema gilt für alle zweiseitigen Gedichte dieses Zyklus‘.
Es fällt auf, dass die Eingangs- und die Schlussstrophe, die die Jetztzeit charakterisieren, nur Assonanzen zeigen. Die Strophen 2-4 und 6-9, die die Verknüpfung des Gedichthemas mit der Tradition, der Philosophie, der Wissenschaft u.ä. behandeln, haben ihrerseits ein miteinander verknüpftes Schema mit unreinen Reimen. Die 5., mittlere Strophe, in der das lyrische Ich sein Sehnsucht nach der verlorenen Transzendenz besingt, ist durch ihre unreinen Endreime mit der vorher- bzw. folgenden Strophe verbunden, hat aber in ihrem Inneren verborgene reine Binnenreime, die so die Harmonie mit der Transzendenz symbolisieren.