Zistrosen

Überblickskommentar:

Das lyrische Ich empfindet beim Aufblitzen von Zistrosen im Licht (Versgruppe 1) eine fragile, über die Sinne vermittelte Verbindung zur Transzendenz (Vg 2). Da die Sinne ungeeignet sind, müssen sie negiert werden (Vg 3), damit die äußere Welt vergeht (Vg 4). Denn die Welt ist gemäß Eckehart nur Stückwerk (v.17, v.22), in der die Transzendenz sinnlich nicht erreichbar ist (Vg 5). Erreichbar könnte sie über die Mathematik (den Geist) sein (Vg 6); das lyrische Ich erwägt, ob die Transzendenz im Gedicht erscheinen könnte (Vg 7) und schließt mit dem Wunsch, dass ihm damit das wahre Leben eingehaucht werden möge (Vg 8).

Zistrosen


 
wie
ein
Zittern im Licht
Zistrosen
zu kurz, um gewesen zu sein
,
und
schon gestillt
, blassrosa,
im fraglosen Blütenblatt
Tagtraum

 
5
eines halben Schattens

du, ich,

wenn es war,

wenn ein
unzeitig
offener Lichtbogen

 
wundrandgenau

10auf die
Bruchstelle
traf:
Und weggerissen die fünf
Grinde
von ihrem
Stumpf

 
verdunstet
im
Zucken des Lids
Trug
der
Ozeane
, zerschmelzen die Berge
15und
grell orangerot
, bis über die Venusbahn riesig, Sonne, ein
Todesstern, fackelt ringsum das Firmament ab –
Stücke

 
sind Raum und Zeit, sagt
Eckehart

 
(
niemals

rühr ich an deine Lippen,
20niemals
trifft mich dein Antlitz ins Herz)
 
Stücke. Doch Gott ist Eins.
 
Und meinte den
Gott als Zahl
,
versichern die Mathematiker,
25gedacht als
Achse des Imaginären

zwischen dem Nichts und der Nabe des Seins –
 
und ist doch in
Wirklichkeit
,
fürcht ich, ein trostreich
ersonnener Donner
30zum Blitz der Zistrosen.
 
Einmal
in diesem Licht
sprich mir deinen Atem ins Haar,
einmal,
dass es mich gibt
,
tritt hinter dem Schatten hervor.
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Die Zistrosen (Cistus) bilden eine Pflanzengattung in der Familie der Zistrosengewächse (Cistaceae). Der Name weist auf die bei der Initiationszeremonie im Kult des Bacchus (Dionysus) verwendete cista mystica (mystische Kiste) hin.

v.1: Die Leerstelle zu Beginn des ersten Verses versinnbildlicht einen mystischen Moment, der im Gedicht erhofft / beschrieben wird.

v.1 wie ein Zittern im Licht: Die Zistrose ist hier der Gegenstand, in dem die Begegnung der Immanzenz mit der Transzendenz zum Ereignis werden könnte. Durch den Vergleich wird auf die Flüchtigkeit, das Blitzartige dieser Begegnung hingewiesen. Dieser Gedanke erinnert an Rilkes „Der Schutzengel“ (v.21f): „und von den Rosen: von Ereignissen, / die flammend sich in deinem Blick vollziehen“.

v.2: Das Ereignis der Begenung von Transzendenz und Immanenz ist nicht in die lineare Zeitstruktur einzubetten.

v.3 schon gestillt: Der mystische Moment wird als sowohl zufriedenstellend als auch lautlos beschrieben.

v.4 im fraglosen Blütenblatt: Die geöffnete Blüte kommuniziert mit der Transzendenz ohne die rationale Dimension von Frage und Antwort. Das ‚Blatt‘ weist auch auf die poetologische Dimension des Gedichtes (vgl. dazu zu v.25f und v.27ff).

v.4 Tagtraum: Das lyrischen Ich resümiert so der ersten Verse.

v.5 eines halben Schattens: Am Schatten ist die Lichtquelle erkennbar. Zugleich weist das ‚halb‘ daraufhin, dass die Transzendenz nicht vollständig erscheint bzw. nur unvollständig wahrgenommen werden konnte.

v.6: Hier wird eine Liebesbeziehung zwischen Transzendenz und lyrischem Ich angedeutet.

v.7: Die Begegnung ist fraglich und ihr Ort in der immanten Zeitstruktur zweifelhaft (vgl. zu v.2).

v.8 unzeitig: Nicht etwa ‚zur falschen Zeit‘, sondern ‚außerhalb der Zeit‘

v.8 offener Lichtbogen: Der Lichtbogen erinnert an den Regenbogen als christliches Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen, zwischen der Transzendenz und der Immanenz. Das ‚offen‘ kann als Einladung in die Zeitlosigkeit verstanden werden.

v.9: Das lyrische Ich empfindet die Abwesenheit der Transzendenz als Wunde, die nur durch die mystische Erfahrung geschlossen werden kann.

v.10 Bruchstelle: Der Bruch zwischen Transzendenz und Immanenz, unter dem das lyrische Ich leidet

v.11f fünf / Grinde: Grind ist die verkrustete Bedeckung einer Wunde. Bei den ‚fünf Grinden‘ kann man an die fünf Wunden Christi denken, die den Erlösungsvorgang offen halten. Gleichzeitig werden die fünf Sinne evoziert. Sie werden in der Mystik als Tore zur Immanenz gedacht, die geschlossen werden müssen (‚entfernt‘), um eine mystische Erfahrung machen zu können. Möglich wären auch die fünf Blütenblätter der Zistrose, nach deren Entfernung der Stempel, das Zentrum (die Nabe) der Blüte freisteht.

v.12 Stumpf: Möglicherweise ist das Holz gemeint, an dem Christus gekreuzigt wurde, und das ohne ihn ein ‚Baumstumpf‘ wäre.

v.13ff: In dieser Versgruppe wird das astronomisches Endszenario unseres Sonnensystem (vgl zu v.15f grell orangerot…) beschrieben. Es wird eine naturwissenschaftliche Vision (transzendenzlos) und nicht die apokalyptischen Untergangsvision (transzendenzfundiert) dargestellt.

v.13 Zucken des Lids: Parallelkonstruktion zu Zittern im Licht (v.1). Mit dem Schließen des Augenlids (hier stellvertretend für die Negierung der fünf Sinne (vgl. zu v.11f)) könnte das Ereignis – die Begegnung von Transzendenz und Immanenz – wahrgenommen werden. Der Wichtigkeit des Auges entspricht die Zentralstellung der Sonne.

v.13f Trug / der Ozeane: Metapher für die trügerische Sinneswahrnehmung: Nicht nur die Ozeane, auch die im folgenden genannten Berge und die Sonne sind Trug.

v.15f grell orangerot … / Todesstern: Heute ist die Sonne ca. 4,6 Millarden Jahre alt. Bei einem Sonnenalter von 11,7 bis 12,3 Milliarden Jahren erreicht die Sonne eine Leuchtkraft von 2300 L☉ und einen Radius von 166 R☉. Das entspricht etwa dem Radius der Umlaufbahn der Venus. Dann ist alles Leben auf der Erde vernichtet (die Ozeane sind verdunstet und die Berge geschmolzen).

v.16ff Stücke / sind Raum und Zeit … /…/ Stücke. Doch Gott ist Eins: Das Zitat entstammt einer Predigt des Meister Eckehart: „Nichts hindert die Seele so sehr an der Erkenntnis Gottes wie Zeit und Raum. Zeit und Raum sind Stücke, Gott aber ist Eines. Soll daher die Seele Gott erkennen, so muss sie ihn erkennen oberhalb von Zeit und Raum; denn Gott ist weder dies noch das, wie diese (irdischen) mannigfaltigen Dinge (es sind): denn Gott ist Eines.“ (Meister Eckehart. Zitiert nach Quint 1979, Pr. 36).

v.17 Eckehart: Eckhart von Hochheim (bekannt als Meister Eckhart, auch Eckehart; * um 1260, † ca. 1328) war ein einflussreicher spätmittelalterlicher Theologe, Mystiker und Philosoph.

v.18ff (niemals /…/niemals / … ins Herz): Zunächst wird die Unmöglichkeit der Begegnung zwischen dem du und dem ich (v.6) konstatiert: Ein Kuss kommt nicht zustande, die ‚amour fou‘ ereignet sich nicht. Zugleich ist aber zu bedenken, dass in der mystischen Erfahrung es gerade das Nichts (das niemals, das Negieren der Zeit) ist, dass den Übergang in die Transzendenz ermöglicht.

v.23 Gott als Zahl: Gemeint ist die Eins (v.22) nicht nur als mathematische Zahl, sondern in ihrer Sonderstellung unter den Zahlen: Die Eins bedeutet auch Einheit, Unteilbarkeit, Ganzheit, Unendlichkeit, die nicht zählbar ist; Symbol des einen Gottes, seiner Einzigartigkeit (Dtn 6,4).

v.25f Achse des Imaginären / zwischen dem Nichts und der Nabe des Seins: Achse ist parallelisierbar zu Lichtbogen (v.8). Beide verbinden zwei Pole, hier das Nichts und die Nabe des Seins. Die Nabe des Seins verweist auf die Transzendenz, auf Gott. Der andere Pol, das Nichts, ist dann in der Immanenz anzusiedeln, ist aber zugleich die in der mystischen Erfahrung des Nichts angestrebte Möglichkeit einer Gotteserfahrung (vgl. zu v.11f). ‚Imaginär‘ ist hier nicht, wie im alltäglichen Sprachgebrauch, als ’scheinhaft, unwirklich, fiktiv, unwahr‘ zu lesen, sondern eher in der von ‚Imago‘ abgeleiteten Bedeutung als ‚bildhaft‘: der Zugang zur Transzendenz kann nur über Bilder und Symbole, über das Gedicht, erfolgen. Das Gedicht wäre damit die Achse des Imaginären.

v.27ff: Im Gegensatz zum Tagtraum (v.4), also der ersehnten Begegnung von Immanenz und Transzendenz, wird hier auf Wirklichkeit rekurriert: eine Wirklichkeit, in der das lyrische Ich ‚fürchtet‘, mit seinem Gedicht über die Zistrosen (‚dem trostreich ersonnenen Donner‘) die Transzendenz nicht erreichen zu können. Dadurch aber, dass das lyrische Ich auf den Blitz der Zistrosen mit dem Donner ‚antwortet‘, wird die Figur des Dichters parallelisiert mit dem Schöpfergott.

v.31ff: Die abschließende Versgruppe zeigt den Wunsch des lyrischen Ichs, eine ‚wirkliche‘ Begegnung mit der Transzendenz zu erleben. Sie steht im Gegensatz zur eingeklammerten Versgruppe (v.18ff), die von der Unmöglichkeit solcher Begegnung spricht. Die Bilder korrespondieren miteinander: (niemals (v.18, 20) – Einmal (v.31, 33); rühr ich an deine Lippen (v.19) – sprich mir deinen Atem (v.32); trifft mich dein Anlitz (v.21) – tritt hinter dem Schatten hervor (v.34); ins Herz (v.21) – ins Haar (v.32)).

v.33 dass es mich gibt: Erwartet wird zunächst die Formulierung ‚Dass es Dich gibt‘, also der Nachweis der Existenz Gottes durch sein Erscheinen (‚Nur das, was ich sehe, existiert wirklich!‘). Hier aber geht es dem Dichter um die Existenz des ‚wahren‘ Ichs: dieses Ich gewinnt Leben nur durch den Atem der Transzendenz, ein deutlicher Hinweis auf den biblischen Schöpfungsvorgang.

Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht aus 8 Vierer-Gruppen, in die die beiden Verse mit dem Eckehart-Zitat eingeschoben sind. Die Versgruppe 5 zeigt mit der Einklammerung die Fragilität einer Begegnung mit der Transzendenz (vgl. zu v.18ff).

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