Alang Alang

Überblickskommentar:

Die Realebene schildert einen Messtrupp, der in Südostasien verbrannte Erde vermisst, um Klima- und Vegetationsschäden festzustellen und zu protokollieren. Die erste Versgruppe zeigt ein erotisches Begehren des Aufzeichnenden einem Vermessungsingenieur gegenüber. Die zweite Versgruppe behandelt die mathematische Darstellung der Klimakonsequenzen und verknüpft sie mit der griechischen Philosophie. In der dritten Versgruppe wünscht sich der Aufzeichnende in eine andere mythische Dimension, nach Australien. In der vierten Versgruppe wird er in unsere durch Klimaverschmutzung bedrohte Gegenwart zurückgerufen: er muss Messergebnisse in ein Koordinatensystem eintragen (fünfte Versgruppe und Vers 25).
Auf der übertragenen Ebene sieht sich das lyrische Ich als Dichter, der die Aufgabe hat, die Entwicklungen der modernen Welt zu protokollieren und die Orte, an denen die Transzendenz in mythischer Zeit anwesend war, in ein Gedicht zu transformieren. Dabei wird die Zuneigung des Aufzeichnenden mit der Suche nach der Transzendenz parallelisiert, Platons Ideenlehre und das Höhlengleichnis dienen als strukturelles Muster, und die Mythen der Aborigines verweisen auf eine ehemals heile Beziehung zur Transzendenz. Die Klimaverschmutzung symbolisiert die heutige Transzendenzferne, die Mathematik dient als Metapher für das Ideelle.
Mitangeregt wurde das Gedicht durch einen Artikel im Spektrum der Wissenschaft 02/2004 („Brennende Regenwälder“ F. Siegert).
 

Alang Alang

Two point eighty four
ruft
Ngatumia
Alang Alang
unnahbar
über die
Bohrprobe
gebeugt

während
vom Nacken her über die weiche Haut
auf den Wirbeln
Schweiß bis zwischen die goldbraunen Schulterblätter
5aufglänzt als
lichtzitternder Pfeil

 
aber natürlich ist jetzt
die
Brandfläche

mit dem Durchschnittswert zu multiplizieren
und
dazu addiert
man ich weiß schon den Kohlenstoff aus der Waldvegetation
doch
selbst Plato
konnte die Mathematik nicht
10klar unterscheiden heißt es von anderen Männern
 
oder der Traumzeit
ach Australien

Australien so nah und bloße Berührung

würde genügen ein
Fingerstrich
dass die Kontur selbst von Felsbildern
Känguru
oder
Waran
am
Mount Borradaile

15
Körper gewinnt
sie
sogleich
und auf heiliger Jagd
 
Two point eighty four
muss ich Echo sein

während die Hand
satellitengestützt

dieselbe Hand
im reinsten Regelmaß eines
Geländegitters

da waren die
Atemschutzmasken
in
Singapur

20und die
Qualmschwaden
über ganz
Kalimantan

da sind die
Brettwurzeln
hier und
gierigen Pionierpflanzen

 
ein jedes
maßstabgetreu
transformiert in einen
allseits
verbundenen
– den
zweihundertdreißigsten
jetzt –

Punkt für die
Eindringtiefe
des Feuers im Torf
 
25und
ihn als Treffer markiert

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Alang-Alang ist eine Grasart, die in Indonesien als heilig gilt.

v.1 Two point eighty four: wie sich in v.24 (vgl. auch v.16) zeigt, geht es um die Eindringtiefe des Feuers im Torf, also 2,84 Meter. In Indonesien wird von Kleinbauern die Brandrodung genutzt, um Felder anzulegen und mit der Asche zu düngen. Aber auch Firmen haben die Brandrodung als Methode entdeckt, um schnelles Geld zu verdienen. Diese Brandrodungen führen dazu, dass auch Feuer in ausgetrockneten Torfmoorwäldern auftreten, die eine mächtige Torfschicht von durchschnittlich drei Meter Dicke haben. Wenn das Feuer 2,84 Meter eindringt, ist also fast die ganze Torfschicht verbrannt. Der monatelang schwelende Torf führt zu erheblichen gesundheitlichen Belastungen (vgl. dazu zu v.20).

v.1 Ngatumia: Eigenname, dem asiatischen Sprachraum entstammend

v.2 unnahbar
: Das Adverb verdeutlicht, dass das lyrische Ich einen Wunsch nach Nähe zu Ngatumia verspürt, diesen aber nicht realisieren darf. Anscheinend befürchtet es eine Zurückweisung.

v.2 Bohrprobe: Die technische Methode, mit der die Eindringtiefe des Feuers im Torf festgestellt wird. Gleichzeitig aber auch das Eindringen der Technik in die ehemals als heilig aufgefasste ‚Mutter Erde’.

v.2 gebeugt: Einerseits konzentriert eine Sache untersuchen, andererseits aber auch eine Gebärde der Demut

v.3f: Die von Erotik geprägte Wahrnehmung des nackten Oberkörpers Ngatumias

v.5: Die Schweißlinie auf den Wirbeln wird vom lyrischen Ich als Pfeil Amors empfunden, der – noch zitternd – sein Ziel traf und es entflammt hat. Dies ist natürlich eine Projektion, denn eigentlich geht das erotische Begehren vom lyrischen Ich aus (vgl. zu v.2 unnahbar).

v.6 aber natürlich ist jetzt: Das lyrische Ich ruft sich aus seinen Phantasien in den Arbeitszusammenhang zurück: Um die Kohlendioxydfreisetzung durch die Brandrodung bestimmen zu können, müssen die im Folgenden genannten mathematischen Operationen vollzogen werden.

v.6f Brandfläche … multiplizieren: Der Durchschnittswert der Bohrproben muss mit der Brandfläche multipliziert werden, um die Menge der für das Klima schädlichen CO2-Freisetzung zu ermitteln.

v.8 dazu addiert: Die Brandrodungen der Regenwälder haben einen doppelten Effekt. Einerseits wird der in ihnen gespeicherte Kohlenstoff zu CO2 verbrannt und gelangt in die Atmosphäre (s. zu v.6f), andererseits gehen gigantischen Waldflächen als aktive Kohlenstoffspeicher (Kohlenstoff aus der Waldvegetation) verloren und müssen also für eine Klimabilanz hinzuaddiert werden.

v.9f selbst Plato … / … Männern: Das lyrische Ich wird sich bewusst, dass es die Liebe (Str. 1) mit der Mathematik (Str. 2) vermischt; aber es beruhigt sich damit, dass selbst Plato diese nicht sauber getrennt habe. Dabei könnte man an das Symposion denken, in dem Plato eine stufenweise Höherentwicklung von der körperlichen Liebe bis hin zur geistigen (Idee, Mathematik) diskutiert. Das lyrische Ich kennt Plato anscheinend nur vom ‚Hörensagen’ (heißt es (v.10)) und hält deswegen die platonischen Stufen der Entwicklung für nicht klar unterschieden.

v.11 oder der Traumzeit: Syntaktisch zu ergänzen ist ein „von“, es handelt sich um eine weiteres präpositionales Objekt (zu von den anderen Männern). Für das lyrische Ich ist die Traumzeit eine Zeit, die nicht rein rational bestimmt ist, sondern in der der Zugang zur Transzendenz offen ist. Auch für Plato war die Mathematik eine geheime Wissenschaft, die die Idee als eigentliche Wirklichkeit offenbarte. Traumzeit (engl. Dreamtime) ist der zentrale Begriff der Mythologie der australischen Aborigines, dessen Übersetzung allerdings irreführend ist. Die Traumzeit-Legenden handeln von der universellen, raum- und zeitlosen Welt, aus der die reale Gegenwart in einem unablässigen Schöpfungsprozess hervorgeht, um ihrerseits wiederum die Traumzeit mit neuen geschichtlichen Vorgängen zu „füllen“. Die Traumzeit erklärt damit, wie alles entstand und begründet die ungeschriebenen Gesetze, nach denen die Aborigines leben. Die Ereignisse der Traumzeit manifestieren sich nach ihrem Glauben in geografischen Landmarken, auf ‚Traumpfaden’, wie Felsen, Quellen und Bergen.

v.11 ach Australien: Über die Verbindung mit Traumzeit („dreamtime“ s.o. zu v.11) assoziert das lyrische Ich die Heimat der Aborigines und fühlt Sehnsucht und Bedauern.

v.12 Australien so nah und bloße Berührung
: Australien ist von Indonesien aus zwar schnell erreichbar, aber dennoch für das lyrische Ich (wie in Str. 1 Ngatumia) nicht zugänglich. Der moderne Tourismus macht heute alle Regionen der Welt schnell zugänglich, zerstört aber durch seine Rücksichtslosigkeit (bloße Berührung) Natur und gewachsene Kultur. Auf einer weiteren Ebene wird im folgenden der Strophe dem Dichter die Kraft zugesprochen, durch bloße Berührung Ideen (Kontur v.13) Gestalt (Körper v.15) werden zu lassen.

v.13 Fingerstrich … Felsbildern: Das lyrische Ich stellt sich vor, die Kontur der Höhlenmalerei mit dem Finger nachzuzeichnen und damit die Tiere zu beleben. Auf der übertragenen Ebene erschafft der Dichter (mit seinem Schreibwerkzeug Finger und Strich) hier das Gedicht als den Ort, an dem die Ideen Gestalt annehmen. Im Hintergrund steht das Höhlengleichnis Platos, das die Konturen von Gegenständen auf einer Felswand nur als Abbilder der eigentlichen Wirklichkeit (der Ideen) interpretiert.

v.14 Känguru: Ein Großes Känguru kommt in den Mythen der Traumzeit der Aborigines in Australien vor. Es ist ein Mythos der Schöpfungsgeschichte. Nach R. Lewis gibt es das große Känguru, das, als die „Great Flood“ (Sintflut) kam, dafür sorgte, dass die „animal people“ (die Tierleute) das Wasser zurückhielten. Als das große Känguru dies erreicht hatte, spie es alle Worte aus, die die Menschen auf der Erde sprechen. Damit wurde das große Känguru zum Schöpfer aller Töne, der Laute und Sprachen.

v.14 Waran: Aus der Vorzeit stammende große Echse, die auch auf den australischen Felsenbildern erscheint.

v.14 Mount Borradaile: Berg im nördlichen Australien, südlich des Kakadu-Nationalparks. Dort sind auch Felsenbilder der Aborigines gefunden worden. Der Berg war in der Mythologie der Aborigines Teil der ‚Traumpfade’ und galt damit als heiliger Ort.

v.15 Körper gewinnt: Gestaltwerdung der Idee (vgl. zu v.13). Dieser Übergang vom realen Bereich in den ideellen wird hier durch den Satzbau verdeutlicht: Es werden zwei Sätze ineinander geschoben (Körper gewinnt gehört sowohl zu dem mit dass (v.13) eingeleiteten Konsekutivsatz als auch zum damit beginnenden Hauptsatz), wobei der zweite umgestellt ist (‚Und auf heiliger Jagd gewinnt sie sogleich Körper’) bzw. in v.15 mit muss ich Echo sein vervollständigt wird.

v.15 sogleich: Die oben angesprochene Dimension der Traumzeit (vgl. zu v. 11) bringt das lyrische Ich dazu, die zeitliche Distanz zwischen den Kunstproduktionen der Aborigines und seinen eigenen aufzuheben. Beide Schöpfungsvorgänge werden als heilige Jagd angesehen.

v.16 muss ich Echo sein: Auf der Realebene muss das lyrische Ich den Zuruf Ngatumias aufzeichnen. Auf der poetologischen Ebene versteht sich das lyrische Ich als ‚Echoraum’ der inzwischen unzugänglichen Transzendenz. Zu denken ist auch an ‚Echo’ als Figur der griechischen Mythologie.

v.17 satellitengestützt: Die für die wissenschaftliche Weiterverarbeitung nötige Lokalisierung der Bohrproben erfolgt mit Hilfe des GPS-Systems. Auf der poetologischen Ebene wird die Hand des Dichters durch einen extraterrestrischen Bereich (der Transzendenz) gestützt. Damit werden der mythische Bereich (Echo) und der technisch avancierteste Bereich (‚Satellit’) im Schöpfungsprozess in einen Überlagerungszustand gebracht. Dieser Überlagerungszustand, der schon in der Traumzeit der Aborigines beginnt und der auch dieses Gedicht bestimmt, lässt an die Grundlagen der Quantentheorie denken.

v.18 dieselbe Hand: Die Wiederholung des Begriffs Hand zeigt den Unterschied zwischen der wissenschaftlichen und der poetologischen Hand und hebt ihn in dieselbe sogleich wieder auf.

v.18 im reinsten … Geländegitters: Bei der Positionsbestimmung durch das GPS-System wird ein geodätischen Netz benutzt (Geländegitters). Poetologisch kann das Versmaß als das die Syntax strukturierende Gitter verstanden werden.

v.19 Atemschutzmasken: In den Versen 19 – 20 werden die Auswirkungen der Brandrodungen im indonesischen Raum auf Mensch und Pflanzen beschrieben. So führte im südostasiatischen Raum 1997 eine riesige Rauchwolke infolge zahlreicher Feuer in Kalimantan zu gesundheitlichen Problemen in Singapur und mehreren Nachbarländern Indonesiens. Auf der übertragenen Ebene ist der Atem als Pneuma, als göttlicher Geist im Menschen zu verstehen, der vor der ‚Verschmutzung’ der Umwelt (sowohl der konkreten als auch der geistigen) geschützt werden muss.

v.19 Singapur: Etymologisch bedeutet der Name ‚Löwenstadt’, nähme man den deutschen Wortklang, könnte man ‚Singe pur’ mithören und hätte wieder ein Anspielung auf die poetologische Ebene.

v.20 Qualmschwaden: In der christlichen Überlieferung zeigt der Rauch immer ein Opfer an. Hier zeigt die Veränderung zu Qualm und die Ausweitung durch Schwaden das Opfer eines großen Teils der Natur an.

v.20 Kalimantan: s. zu v.19 Atemschutzmasken

v.21 Brettwurzeln: Brettwurzeln sind bis zu zehn Meter hohe, sternförmig angeordnete, meist rippenartige Wurzeln. Sie verleihen den hohen Bäumen im tropischen Regenwald besondere Standfestigkeit.

v.21 gierigen Pionierpflanzen: Als Pionierpflanze wird eine Pflanzenart bezeichnet, die besondere Anpassungen an die Besiedlung neuer, noch vegetationsfreier Habitate, z.B. Flächen nach großen Bränden, besitzt. Das Adjektiv ‚gierig’ bezieht sich nicht nur auf die schnelle Ausbreitung dieser Pflanzen, sondern natürlich auch auf die Absicht der Menschen, mit einer Brandrodung schnelles Geld zu verdienen (vgl. dazu zu v.1).

v.22 ein jedes: zu ergänzen ist ‚Messergebnis’

v.22ff maßstabgetreu … / … / Punkt: Auf der konkreten Ebene wird die Eintragung der Messergebnisse in eine Koordinatensystem beschrieben. Auf der poetologischen Eben ist der Vorgang der Umwandlung realer und geistiger Prozesse in Sprache, ins Gedicht, gemeint. Im Hintergrund scheint die Transsubstantiation auf, die Wandlung von Brot in den Leib Christi; die Rolle des Priesters käme dann dem Dichter zu. Dies entspräche der lyrischen Tradition (z.B. bei George, Rilke oder Hölderlin).

v.22 allseits: Sieht man den Punkt als Synonym für das Gedicht (vgl. zu v.22ff) an, so verbindet es einerseits die Realität mit der Transzendenz andererseits, dem ‚All’.

v.23 zweihundertdreißigsten: Im Rahmen des verborgenen poetologischen Bezugsystem verweist die Zahl 230 auf den 23. Vers, in dem sie steht.

v.24 Eindringtiefe … Torf
: Zur Realebene vgl. zu v.1. Auf der übertragenen Ebene ist das Feuer hier auch ein Zeichen für die Transzendenz, die in die Realität dringt. Als Symbol dafür kann der Dornbusch im Alten Testament verstanden werden: Aus ihm spricht Gott zu Moses, er brennt, ohne sich zu verzehren (vgl. die Feuerresistenz der Savannenvegetation).

v.25 ihn als Treffer markiert: ihn meint den Punkt (v.24), d.h. das Gedicht. Zugleich wird mit Treffer das Bild lichtzitternder Pfeil (v.5). wieder aufgenommen. Im Gedicht, wenn es trifft – also gelungen ist-, markiert der Dichter einen Ort der Transzendenz punktgenau so wie auf den Traumpfaden der Aborigines (v.11) das Heilige in geographischen Landmarken verortet ist.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht besteht eigentlich aus fünf Versgruppen zu je 5 Versen. Die 5. Versgruppe ist aber zerbrochen: Vers 21 wird an die 4. Versgruppe gezogen und der 25. Vers ist abgesetzt. Damit wird die Aufmerksamkeit auf die poetologische Ebene des Gedichtes gelenkt. Die Transformation der Welt ins Gedicht umfasst den Punkt, an dem das Gedicht zu sich selbst gelangt (zweihundertdreißig im Vers 23) und markiert es dann als gelungen (Treffer).

v.12f Australien / Australien: Figur der Anadiplosis (z.B. bei Hölderlin häufig genutzt)

Schreibe einen Kommentar