Wiegenlied für Vatnahverfi

Überblickskommentar:
 
Das Gedicht spielt mit dem Kinderlied „Schlaf, Kindlein, schlaf!“ (auch häufig „Schlaf, Kindchen, schlaf!“). Die Melodie des Wiegenliedes wurde von Johann Friedrich Reichardt 1781 komponiert und auch für „Maikäfer flieg“ verwendet. Laut Kommentar in Wikipedia beschreibt ‚das Lied, eine heile Welt und verspricht dem Kind einen ruhigen Schlaf, da in seiner Umwelt alles in Ordnung sei‘.
Laut Jared Diamond „Der Kollaps“ scheiterten die Wikinger auf Grönland, weil sie an ihren aus dem christlichen Raum stammenden Traditionen festhielten (neben anderen insbesondere die Viehhaltung (Kühe/Schafe)) und beim Klimawandel nicht klug genug waren, sich durch die von den Inuit genützten Nahrungsressourcen zu erhalten. Diamond charakterisiert die normannisch-grönländische Gesellschaft durch 5 Adjektive: gemeinschaftsbewusst, gewalttätig, hierarchisch, konservativ und eurozentriert.
Das lyrische Ich singt in der 1. Strophe ein Kind in den Schlaf und warnt davor, den christlichen Kultus unkritisch weiter zu führen. Die 2. Strophe fordert das Kind auf, seinen Traum zu wahren, ins Unbewusste hinabzusteigen und sich – wie die Inuits – der Natur anzupassen. Die 3. Strophe ist ein Weckruf, der auf der konkreten Ebene zum Bau eines Iglus auffordert, der übertragen aber dazu auffordert, die moderne Lebensweise zu dekonstruieren, so dass sie heilbringend erneuert werden kann. Die drei Strophen zeigen drei verschiedene Formen von Klugheit: Zurückhaltung / Hören auf Unbewusstes und Bezug zur Natur / Kontakt zur und Vertrauen auf die Transzendenz). Poetologisch versteht der Autor das Gedicht als Ort der Kritik und der Erneuerung eines Bundes mit der Transzendenz.
 
 
Anmerkungen des Autors:
 
Der Vatnahverfi-Distrikt gehörte zur Östlichen Wikinger-Siedlung auf Grönland; an fand dort auf dem Fußboden eines großen Hauses im größten Anwesen einen 25-jährigen Mann, der wohl Hungers gestorben war, und zwar, da unbeerdigt, als einer der letzten in dieser Gegend. Beide Wikinger-Siedlungen, die Westliche und die Östliche genannt, gingen im 13. und 14. Jahrhundert an den Unbilden des kälter werdenden arktischen Klimas zugrunde. Vieles spricht dafür, dass zum Untergang dieser Wikinger ein starres Beharren auf ihrer kulturellen christlich-abendländischen Identität nicht unwesentlich beitrug; denn die Inuit, die sich an die schwieriger werdenden Lebensbedingungen besser anpassen konnten, vermochten sehr wohl zu überleben.

Wiegenlied für Vatnahverfi


 
Schlaf Kindchen schlaf
Text und Melodie
Schnee fraß das Gras für
die Schaf

drum
schlaf nur fort
und sei klug

wenn der Vater draußen
das letzte Lamm

5jetzt schlachtet hör du nicht hin wie es schreit
und wenn Mutter die
Herzbrühe
reicht

rühr du mit dem
Mund
nicht daran

trüb ist sie wie Betrug

 
Träum Kindchen träum

10
Schnee
fraß für Boote die Bäum
drum
wahr deinen Traum
und sei klug

wenn
Rätseltiere der Tiefe
den Pfad

durch
Ozeangrauen und sternlosen Raum

dir weisen auf
heiliger Jagd

15dein Rumpf eine
Robbenhaut

Walrossrippen dein Bug
 
Erwach Kindchen erwach

das Feuer
im Herd fraß das Dach
drum rasch wach auf und sei klug
20den
Eisberg Welt
schrei ihn in Stücke
und bau

eine Hütte daraus die
warm dich umhüllt

rein wie vom Schneegeist
gefugt

rund
wie vom Lamm das Aug

als es den Himmel hielt
 
 
Stellenkommentar:

Titel: Vatnahverfi ist eine kleine Halbinsel in Grönland im Bereich der sogenannten Ostsiedlung der Wikinger.

v.1 Schlaf Kindchen schlaf: Anfangszeile des Kinderliedes (s. Überblickskommentar) ohne Interpunktion

v.2
: Die Schafe des Kinderliedes werden zitiert, aber in verfremdetem Kontext: Nicht die Schafe fressen das Gras, sondern der Schnee. Erster Hinweis auf die Veränderung des Klimas in Grönland.

v.3 schlaf nur fort: Dies ist hier ironisch gemeint: das schlafende Kind soll sich den Schlaf nicht stören lassen, die Gemeinschaft (s. Überblickskommentar) sorgt scheinbar für sein Wohlergehen. Das folgende sei klug aber zeigt, dass sich das Kind nicht auf die Gemeinschaft verlassen sollte, da diese ihren eigenen Untergang betreibt.

v.4f das letzte Lamm / jetzt schlachtet
: Hinweis auf die Zerstörung der Existenzgrundlage. Gleichzeitig ist die Opferung Christi als Lamm Gottes mit gemeint und damit das Festhalten der Wikinger an ihrer christlichen Kultur.

v.6 Herzbrühe: Die von der Mutter aus dem geschlachteten Lamm zubereitete Nahrung. Zugleich Anspielung auf das Herz Jesu und den im Abendmahl gereichten Wein als Verwandlung des vergossenen Blutes. Hier kann das Wort ‚Brühe‘ abwertend verstanden werden, dies zeigt das folgende trüb und Betrug in v.8.

v.7 Mund: erster Hinweis auf die poetologische Ebene des Gedichtes. S. auch V. 20 schrei.

v.8: Gemeint ist, dass jemandem eine Nahrung gereicht wird, die nicht lebenserhaltend ist. S. zu v.4f und den Überblickskommentar.

v.9 Träum Kindchen träum
: Veränderte Aufnahme der ersten Strophe des Kinderliedes. Das Motiv des Traums dient dort der Beruhigung des Kindes, hier ist der Traum das Mittel, in tiefere Schichten des Seins einzudringen.

v.10: In Analogie zu v.2 Hinweis auf die Klimaverschlechterung in Grönland. Im Gegensatz zu den Inuits bauten die Wikinger ihre Boote nicht aus Holz sondern aus Robbenhaut (v.15) und Walrossrippen (v.16). Die knappen Holzvorkommen wurden auch durch den Kirchenbau weiter reduziert.

v.11 wahr deinen Traum: Sowohl ‚nimm deinen Traum wahr‘ als auch ‚bewahre deinen Traum‘.

v.12 Rätseltiere der Tiefe
: Hinweis auf das Unbewusste, das sich im Traum ausdrückt. Für C.G Jung war der Fisch ein Symbol des Unbewussten. Ähnlich nutzt es Schiller auch in seiner Ballade „Der Taucher“ (Str. 19-22).

v.13 Ozeangrauen und sternlosen Raum: Das lyrische Ich als modernes Bewusstsein bewertet hier den ehemals mythisch gegliederten Raum als heute formlos (Ozeangrauen) und orientierungslos (sternlosen Raum).

v.14 heiliger Jagd: Für die Inuits war die Jagd nicht nur Nahrungsbeschaffung, sondern auch ritueller Vollzug heilbringender Handlungen, die die Bestände der Natur zu wahren wussten. Das lyrische Ich identifiziert sich mit den Inuits als eine die Welt nicht gefährdende Gemeinschaft.

v.15f: S. zu v.10

v.17 Erwach Kindchen erwach: Umkehrung der Funktion eines Wiegenliedes. Weckruf des lyrischen Ichs, sich kritisch mit unserer gewohnten Lebensweise auseinander zu setzen.

v.18: Hinweis auf die unterschiedlichen Bauweisen der Behausungen der Wikinger im Gegensatz zu denen der Inuits, aber auch ein Zeichen für den Untergang der Wikingerkultur.

v.20 Eisberg Welt
: Wie in v.13 wieder ein Blick des lyrischen Ichs auf die Gegenwart als kalt und areligiös.

v.20f schrei ihn in Stücke und bau / eine Hütte daraus
: Auf der konkreten Ebene ist der Bau eines Iglus gemeint. Auf der übertragenen Ebene soll der Schrei des Dichters die gegenwärtige Welt dekonstruieren, um sie im Gedicht als heilbringend erneuerte wieder zusammen zu setzen. Dies Zerstückeln und Neuzusammensetzen ist aus Mythen und Märchen als Topos der Wiedergeburt bekannt. Mit dem Ausdruck ‚Hütten bauen‘ wird auch angespielt auf die Bibelstelle Mattheus 17,4: „HERR, hier ist gut sein! Willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen“, in der den Jüngern die transzendente Natur Jesu offenbart wird.

v.21 warm dich umhüllt
: Aus den gefährdenden Elementen Feuer und Eis formt der Dichter ein lebenserhaltendes System, das Wärme und Reinheit (Schneegeist) spendet.

v.22 rein wie vom Schneegeist: Gemeint ist wahrscheinlich nicht „Heikki Luunta“, der Schneegeist der finnischen Mythologie, sondern eher der Logos der Gnosis bzw. der Heilige Geist des Christentums.

v.23f: Mit rund ist zunächst die Form des Iglus beschrieben. Gleichzeitig ist ‚Rund‘ aber auch ein Symbol der Vollendung (hier des Gedichtes) und der Vollkommenheit (hier der Zustand des Christentums in seiner Blütezeit). Christus als Lamm und das Auge Gottes sind zentrale, konstituierende Elemente, durch die der Bezug zur Transzendenz, zum Himmel gehalten wurde.
 
 
Aspekte der Form:

Das Reimschema hat für die Strophen jeweils eine leicht variierte Form: aabcddcb / aabcdcdb / aabcdbdc. Reine Reime gibt es nur in den beiden jeweiligen Versen, die das Kinderlied aufnehmen.

Die Strophen bestehen aus jeweils 3 Teilen, die treppenartige versetzt sind. Die ersten zwei Verse variieren jeweils das Kinderlied, die dritten Verse setzen (mit drum) eine Reflektion in Gang, die sich in den folgenden Versen fortsetzt und in eine Handlungsanweisung mündet.

v.17: Der Weckruf wird im Vergleich zu den parallelen Versen der beiden anderen Strophen durch eine metrische Erweiterung hervorgehoben: Der Vers besteht nicht mehr aus 4 Silben, sondern aus 6 und beginnt mit Auftakt.

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