Rückkehr aus Vinland

Überblickskommentar:

In diesem Gedicht überlagern sich vier Dimensionen: Die Gegenwart, die Wikingerfahrt nach Vinland, das Leben Hölderlins und eine poetologische Ebene.
Das hier benutzte geschichtliche Modell ist die Fahrt der Wikinger nach Vinland und deren Rückkehr mit Weinreben und Weintrauben nach Grönland (vgl. dazu Jared Diamonds Buch „Kollaps“). In der Gegenwart, auf der konkreten Ebene beschreibt das Gedicht die Taxifahrt eines Urlaubers, der mit einem Rucksack voll eingesammelter Blätter sich zum Katasteramt fahren lässt, um es in Brand zu setzen: das lyrische Ich wird als ‚leicht verrückt’, als überraschend revolutionär charakterisiert. Damit wird die Verbindung zur Hölderlin-Dimension hergestellt, diese Dimension umfasst Hölderlins Reise nach Südfrankreich ebenso wie seine idealen Ausflüge nach Griechenland, seine Rückkehr nach Deutschland und den Versuch, in seiner Gegenwart die Götternähe wiederherzustellen. Das Scheitern dieses Versuchs führt in die Umnachtung (vgl. zu v.5 traurig froh). Für Hölderlin war Dionysos Beispiel für die Überwindung des Todes (vgl. dazu zu v.2 Efeu), im Rausch des Dionysos und im Wahn Hölderlins sind die getrennten Bereich Leben und Tod einander angenähert. Das lyrische Ich als Dichter knüpft an Hölderlins Versuch an, die Transzendenz-Ferne mit seinen Gedichten zu überwinden. Poetologisch versucht der Autor mit seinem Gedicht die Leben spendende Energie der Transzendenz im Gegenwärtigen aufzudecken und mit der Tradition zu verknüpfen.
 
 
Anmerkungen des Autors (AdA):

Vinland: Abschnitt der nordöstlichen Küste Amerikas, an dem Leif Eriksson um 1000 landete. Wie in den Island-Sagas berichtet, suchten es die Wikinger in mehreren Fahrten auf, versuchten sogar eine Zeitlang – angezogen von seinem milden, vergleichsweise südlichen Klima – es zu besiedeln, gaben diesen Versuch jedoch bald wieder auf.
Thorhall: In der „Geschichte von Erich dem Roten“ ein Skalde, der auf einer dieser Fahrten plötzlich verschwunden war. Als man ihn schließlich fand, „starrte er in die Luft, sperrte Augen Mund und Nase auf und kraulte und kratzte sich mit den Nägeln. Dabei schwatzte er vor sich hin“. Offenbar hatte er wilde Weintrauben entdeckt und von ihnen gegessen; u.a. mit Weintrauben samt Ranken beluden die Wikinger dann auch ihre Schiffe, wenn sie nach Grönland zurückfuhren. Im Übrigen bekannte sich Thorhall gegen das kürzlich eingeführte Christentum weiter zu seinem Namenspatron Thor, den er als seinen Schutz- und Trutzgott in seinen Gesängen verherrlichte. Noch vor seiner Heimfahrt kam er schließlich in Vinland um.

Rückkehr aus Vinland

Die Vinland Karte

Nachtgrün
aber glauben Sies oder nicht

rankt dort der
Efeu
noch immer die Rebe
Prachtblätter
hält sie bereit ein
Goldgeäder

wie Hände
aus Götterlegenden die
 
5ach
traurig froh
für Wein
hab ich sie
gelesen

in diesen Rucksack horchen Sie nur
wie es raschelt wenn ich ihn
fester fasse

denn die Traube von einst
dort wird sie nicht mehr reif

kein Thorhall mehr
Wortschaum
vor dem Mund der die
10Augen rollt irrend in heilger Wildnis
 
Hier
aber nun wo
eisstarre
Häuserblocks
an den Achskreuzen von
Einbahnpisten

Sie sehn es ja: winkelkonstant orientiert sind
auf den Tod
im gesetzlichen Raumgitter

 
15hier wo auf
tautozonalen Schneeflächen

jeder durch
reifblinde
Drehspiegelung
sich

angstklamm
nur mit sich selber zur Deckung bringt
in
unserer grönländischen Heimat
– hier
 
heut nacht noch werd ich an diese
Laubsammlung
hier
20
die Lunte legen
grad vorm Katasteramt
da sollen von Ranken und Reben die
Blätter

grünglühend
noch einmal die Augen aufschlagen
 
dass unterm
Pantherblick
plötzlichen Südens

unser
Flurname
dass er tief
sich
besinnt
25und im
Widerschein
jeder Schneekristall sich
 
hier anhalten bitte
achtfünfzig

danke der Rest ist für Sie
 
liest
als die Formel des
Chlorophylls

 
 
Stellenkommentar:

Titel: zu Vinland s. AdA. Die sogenannte Vinland Karte (s. Link zum Titel) ist angeblich eine Weltkarte des 15. Jahrhunderts, neu gezeichnet von einem Original aus dem 13. Jahrhundert. Sie ist gezeichnet mit schwarzer Tinte auf Tierhaut. Wenn sie echt wäre, wäre die Karte die erste bekannte Darstellung der nordamerikanischen Küste vor Kolumbus‘ Reise 1492. Im linken oberen Teil Inschrift: ‚Mit Gottes Willen, nach einer langen Reise von der Insel Grönland nach Süden durch das Eis segelnd zu den am weitesten entfernten übrigen Teilen des westlichen Ozeans, entdeckten die Gefährten Bjarni und Leif Erikssohn ein neues Land, äußerst fruchtbar und sogar mit Reben, eine Insel, die sie Vinland nannten‘. Die meisten Gelehrten und Wissenschaftler, die die Karte untersucht haben, kommen zu dem Schluss, dass die Karte eine Fälschung ist, die wahrscheinlich im 20. Jahrhundert auf alten Pergament gezeichnet wurde. (Wikipedia)

v.1 Nachtgrün: Bezogen auf die Farbe des Efeus, aber gleichzeitig Zeitangabe (die Taxifahrt findet in der Nacht statt, vgl. v.19). Im übertragenen Sinne wird auf einen Kulturuntergang, hier den Untergang der grönländischen Kultur, angespielt. Nachtgrün ist auch ein indirektes Hölderlin-Zitat aus der Ode „Der Neckar“ („aus grüner Nacht“ v.29).

v.1 aber glauben Sies oder nicht: Angeredet wird der Taxifahrer (wie auch in v.13 und v.26f), gleichzeitig aber auch der Leser. Mit glauben wird das Thema „Gottheit“ präludiert und werden die beiden Möglichkeiten, sich zur Religion zu verhalten, genannt.

v.2 Efeu: Wie Rebe bzw. Wein Attribute des Dionysos, der nicht nur ein Gott des Weins und Rausches war, sondern auch ein gestorbener und wieder auferstandener Gott, ein Gott der Überwindung des Todes bzw. Garant des ewigen Lebens.

v.3 Prachtblätter: i.e. Efeu- und Weinblätter, dann aber auch das Blatt Papier. Damit beginnt das poetologische Thema.

v.3 Goldgeäder: Überlagerung dreier Ebenen, der botanischen, religiösen und poetologischen. Poetologisch, weil den Adern auf Efeu- und Weinblatt die Verse auf dem Papierblatt verglichen werden können.

v.4 wie Hände: direkter Vergleich der Blattform des Efeu und des Weins mit der Hand

v.5 traurig froh: Ein Zitat aus Hölderlins Gedicht „Heidelberg“ (dort in einem Wort), wie überhaupt in der Gestalt Thorhalls diejenige Hölderlins als eines Dichters wahrnehmbar wird, der sich in seiner Auseinandersetzung mit den antiken Göttern, besonders dem Dionysos (vgl. z.B. „Der Einzige“), zu weit vor gewagt hatte und schließlich umnachtet war.

v.5 für Wein: Mögliche Bedeutungen sind: 1) anstelle von Wein(-trauben), 2) als das Rauschmittel Wein und 3) zugunsten des Wein(gottes).

v.5 gelesen: Das Wort hat hier drei Bedeutungen: aufgelesen (werden die Blätter), die Weinlese und das Lesen (des Gedichtes).

v.7 fester fasse: Assoziieren kann man die Feste (zu Ehren) des Dionysos und das Fassen der Sprache in Verse.

v.8: Im übertragenen Sinne ist die fehlende Ankunft eines Gottes gemeint.

v.9 Wortschaum: Kennzeichen des vom Göttlichen Ergriffenem (wie auch das folgende der die Augen rollt (v.9f)), vergleichbar der Antike, in der Epileptiker als heilig galten.

v.11 Hier: Mit dem Hier (v.11, 15, 18, 19 und 26) wird ein sowohl räumlicher als auch zeitlicher Gegensatz zum früheren dort (v.2 und v.8) konstruiert. Das Hier ist die Gegenwart, Grönland, Deutschland, die Götterferne, das dort meint die Vergangenheit, Vinland, Griechenland und die lebendige Gegenwart der Götter.

v.11 eisstarre: Hier beginnt die Charakterisierung der Gegenwart durch Begriffe aus dem Bereich der Kristallographie. Damit wird die Gegenwart im Gegensatz zur Vergangenheit als unfruchtbar, als erstarrt gekennzeichnet. Zu den weitern Begriffen vgl. zu v.14 Raumgitter.

v.12 Einbahnpisten: ‚Einbahnstraßen’, weil die momentane Entwicklung nur in einer Richtung zu erfolgen scheint; ‚Pisten’, weil damit die Richtung als ‚abschüssig’ gekennzeichnet wird.

v.14 im gesetzlichen Raumgitter: Ein Begiff aus der Kristallographie; dahin gehören in dieser Versgruppe auch Achs(en)kreuz und winkelkonstant – Das Attribut gesetzlich tendiert in diesem Kontext zur Bedeutung von „naturgesetzlich“. Gemeint ist hier auch das Grundbuch einer Stadt, das im Katasteramt (v.20) geführt wird.

v.15 tautozonale Schneeflächen: Ebenfalls ein Begriff aus der Kristallographie; zudem auch durch Drehspiegelung mit sich selbst zur Deckung bringen.

v.16 reifblind: Durch Luftfeuchtigkeit entstehende Eiskristallbildung auf kalten Gegenständen, die die Sicht behindern bzw. durch die vielfältige Brechung des Lichts in den Kristallen zur Blindheit führen kann. Im übertragenen Sinne verhindert die Blindheit auch das Reifen.

v.16f sich/ … sich: Die Wiederholung des Reflexivpronomens bildet den Widerspiegelungsvorgang ab. Zum Reflexionsvorgang vgl. auch die AdA zu Widerschein (v.25). Eine abgeänderte, positiv zu verstehende Wiederholung findet sich auch in v.24f (s. den Kommentar dort).

v.17: Die Götterferne der Moderne erzeugt die Angst vor dem Tod (v.14) und führt dazu, dass die Gegenwart sich nur in sich selbst spiegelt, traditionslos und unfruchtbar.

v.18 unserer grönländischen Heimat: Das ‚einvernehmende’ Personalpronomen impliziert, dass nicht nur Taxifahrer und Taxigast, sondern auch Autor und Leser als Teilnehmer des gleichen Kulturparadigma gemeint sind.

v.19 Laubsammlung: i.e. die gesammelten Blätter im Rucksack (s.o. zu v.3)

v.20 die Lunte legen: Um die ‚eingefrorene’ Gegenwart aufzutauen, bedarf es des revolutionären Aktes. Durch die Poesie soll an die untergegangene Tradition des lebendigen Verkehrs zwischen Göttern und Menschen angeknüpft werden, sodass die Menschen noch einmal die Augen aufschlagen (v.22).

v.21 Blätter: Mitgemeint sind neben den ‚gesammelten Blättern im Rucksack’ auch die Grundbuchblätter des Katasteramtes und die Blätter, auf denen der Dichter seine Gedichte festhält.

v.22 grünglühend: Verlebendigung durch Feuer (analog dem Pfingstereignis), grün als Symbol der Fruchtbarkeit, glühend als Gegensatz zu Eis und Kristall. Es wird an das Eröffnungswort Nachtgrün angeknüpft, wie auch Ranken und Reben (v.21) den Vers 2 wieder aufnehmen.

v.23 Pantherblick: Auch der Panther gehört in den Mythos des Dionysos, eines Gottes, dem die Kraft der Verwandlung in besonderem Maße eigen war.

v.23 plötzlichen Südens: Weiteres Motiv der Verlebendigung durch Wärme. Zugleich zusammen mit Ranke und Rebe Anspielung auf Rilkes „Sonette an Orpheus“ I,7: „Alles wird Weinberg, alles wird Traube, / in seinem fühlenden Süden gereift“ (v.7f).

v.24 Flurname: „Grön“land – Flurnamen werden auch im Vermessungswesen und in Grundbüchern als Bezeichnungen für größere und kleinere Vermessungseinheiten genutzt.

v.24f sich … / … sich: Während in v. 16f sich die Reflexionsfigur als unfruchtbar erweist (s.o.), wird hier durch die Reflexion eine tiefer liegende fruchtbare Schicht sichtbar (nämlich das Grün in ‚Grönland’ und die Formel des Chlorophylls im Schneekristall).

v.25 Widerschein: zwischen –name, besinnt und sich liest in den Begriff der „Reflexion“ in seiner abstrakten Bedeutung hinüberspielend, ebenso wie, umgekehrt, das Wort tief im Kontext zu seiner konkreten zurücktendiert.

v.26f: Gemeint ist Trink-Geld. Zur Unterhaltung mit dem Taxifahrer s.o. zu v.1 aber glauben Sies oder nicht.

v.28 liest: s.o. zu v.5 gelesen

v.28 Chlorophylls: Die Bezeichnung stammt aus dem Griechischen und kann mit ‚Blattgrün’ übersetzt werden. Chlorophyll spielt bei der Photosynthese der Pflanzen eine Rolle: Es dient der Lichtabsorption und der Weiterleitung der absorbierten Energie, somit dem Lebensfluss. Mit ‚Blattgrün’ und dem Grün in v.1 und in v.22 zieht sich ein verdeckter ‚grüner’ Faden durch das Gedicht; mit der Setzung des chemischen Begriffs wird verdeutlicht, dass auch dem modernen technisch-wissenschaftlichen Bereich ein unerklärbarer ‚Rest’ zugrunde liegt: Das Leben.
 
 
Aspekte der Form:

Das Gedicht umfasst 28 Verse, es lässt sich in zweimal 14 Verse, also zwei Sonette aufteilen, wobei im ersten Sonett-Teil die beiden Terzette zusammengefasst und zwischen die beiden Quartette gezogen sind. Der Sonettform entgegengesetzt ist der Ton der (durch Hölderlin vermittelten) antiken Ode. Auch in der Form spiegelt sich hier die Verknüpfung von antiker und abendländischer Kultur, von Gegenwart und Vergangenheit wider.

Das Gedicht wird darüber hinaus durch Wiederholung und Variation von Motiven (‚Grün’) und Worten (Hier, dort, sich) strukturiert (s.o.) und gerundet. Das Motiv der Spiegelung der Gegenwart durch die Vergangenheit, der Nähe durch die Ferne, wird auch formal genutzt, so z.B. in der chiastischen Anordnung des Reflexivpronomens sich (vgl. zu v.16f und v.24f): v.16 und v.24 Endstellung, v.17 und v.23 Mittelstellung.

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