Von oben

Überblickskommentar:
 
Das lyrische Ich sieht einen Bauarbeiter in einer Straßenbaugrube und bewundert dessen freien Oberkörper. Es registriert die vorbeihastenden Männer und Frauen und die neugierig stehen bleibenden Rentner. Die Beobachtungshaltung wird ausgeweitet (beoachtendes bewusstsein (v.13)) und mit Anspielung auf Platons Höhlengleichnis (s. zu v.17) fortgeführt über die Verbindung von Geist und Materie (idee von fleisch (v.17), Ein leben innen (v. 21) und Das leben außen (v.22)) bis zum christlich gedachten Ursprung (Paradiesanspielungen: vgl. zu zischt (v.24), Agent des Fatums (v.25), anfängen der katastrophe (v.29) und apfelbaum (v.30)).
Mit der Vertreibung aus dem Paradies tritt auch der Tod (und daneben die Umweltzerstörung) ins Bewusstsein des lyrischen Ich (vgl. zu ewigkeit … / … des rechtecks (v.32f), das offene die grube (v.34,) Als ob unser gehweg (v.38) Byrds Bay of Whales … / … davon driften könnte (v.39f) und pressluftspitzhackengewalt (v.41)). Mit v.41 kehrt das lyrische Ich wieder zur Figur des Bauarbeiters und dessen Arbeit zurück; sie wird überlagert von Christus, dem Auferstandenen, der den Tod überwindet (v.42ff). Diese Überlagerung von Immanenz und Transzendenz ist für den modernen Menschen schwer zu erkennen (v.47), stellt aber für das lyrische Ich die höchste Möglichkeit des Daseins dar.

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Beneidenswert
Sie und Ihr hemd
das Sie so ganz
Selbstverständlich
und wunderbar öffentlich ausziehn mann
Heroentorso
erdkraftgewalt goldbronze

Denn
offenbar echtbürtig
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Ihrem schulterschwung
dieses
Inkarnat
eines selbstorganisierenden systems
das alle

Männer mit laptops und frauen mit turboabsatz
Kinetisch-dissipativ

Von außen einwirkende störung
10Aber so rentner auf streunertour
Statisch-koagulativ

Abwehrt
denn wir obwohl sterblinge

Ein beobachtendes bewusstsein
zu schaffen
Hat unser universum ersichtlich alle bedingungen
15
Seit es sich anfing
bereitgestellt ein
Stehen staunen erschrecken

Seht
troglodyten
hier
diese idee von fleisch

Und dann
die millionen
willfährigen imitationen

In sportstudios und billig auf sonnenbänken
20Sowie bei der
anthropologischen merkmalsplanung

Ein leben innen
gibt es und gibt
klar konturiert
auch
Das leben außen und verläuft zwischen ihnen
Kontaktexplosiv die zündschnur
starker gelegenheiten

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25
Agent des Fatums

Mit dem
freibrief des sachzwangs
der

Weißt du
woher die wolke kam weißt du

Wohin sie zieht
Den anfängen der katastrophe

30Der
apfelbaum
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Im stamm vergaß ob er geblüht von
Oben
begegnet
denn
ewigkeit
deutlich erkennbar
Darauf exakt zielt die geometrie des rechtecks
Vor unseren füßen
das offene die grube

35Wo haargenau wie in
Platens ghaselen
ein element
Chaos aufscheint
Im regelmäßigen
flor der rohre

Als ob unser gehweg
dass er ganz plötzlich

Abbrechen man denkt an
Byrds Bay of Whales 1987
und

40Saarlandgroß auf und davon driften könnte
Sie aber Sie
mit
pressluftspitzhackengewalt

Gebieter Sie über licht und dunkel

Oder dass wir vielleicht
zum wochend warm
oder wir hatten

Den ganzen tag keinen empfang
45Oder wer weiß irgendwann
Dass die kacke einfach nicht abgeht ja
Für menschen sonst
schwer zu erkennen

Nicht allen erscheinen sie
nämlich

In völliger klarheit
50Sie
heut hier jetzt
das
muskelspiel schweißglänzender epiphanie

Im angesicht
schauenden nichtstuns

Als einer der höchsten möglichkeiten des daseins
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel gibt den Blickwinkel des lyrischen Ich in eine Baugrube (und des Weltgeists auf die materielle Welt) an. Gleichzeitig zeigt er, dass der Mensch ‚von oben‘, aus der Transzendenz stammt.

v.1f: Auf der Realebene beneidet das lyrische Ich einen Straßenbauarbeiter in einer Baugrube um seinen Heroentorso (v.3), als dieser sich sein Hemd auszieht. Auf der übertragenen Ebene richtet sich der Neid auf denjenigen, der in der Lage ist, die materielle Hülle abzulegen und damit die Idee (Heroentorso) zur Erscheinung zu bringen, wunderbar öffentlich zu machen.

v.1 Sie und Ihr hemd: Diese ungewöhnliche Zusammenstellung zwingt dazu, die Nennung dieses besonderen Kleidungsstückes zu begründen: Ein Ausdruck, in dem Hemd verwendet wird, ist ‚Das letzte Hemd’, das auf den Sterbevorgang (und damit auf die Trennung des Materiellen vom Ideellen) verweist. Im Zusammenhang mit wunderbar öffentlich (v.2) ist an das ‚öffentliche’ Sterben Christi und das damit verbundene Wunder der Auferstehung zu denken.

v.2 Selbstverständlich: Das, was sich nur aus sich selbst versteht, ist das von allen Bedingungen Unabhängige, das Absolute.

v.3 Heroentorso: Erinnert an Rilkes Gedicht „Archaϊscher Torso Apollos“, in dem die griechische Skulptur als Dingsymbol für die Idee steht. Vgl. auch zu v.4 ein stern

v.3 erdkraftgewalt goldbronze: In der Beschreibung des kräftigen, sonnengebräunten Bauarbeiters verbinden sich (wie in Christus) das Materielle (erdkraftgewalt) und das mit dem Gold verbundene Göttliche.

v.4 offenbar echtbürtig: offenbar knüpft an wunderbar öffentlich (v.2) an. echtbürtig im Sinne von ‚tatsächlich herstammend aus‘ ist sowohl zu beziehen auf die Sternengeneration als auch auf den Torso als Kunstwerk und auf die Herkunft des Menschen aus der Transzendenz.

v.4f ein stern … / Der dritten generation: Nach dem Urknall entstehen aufeinanderfolgend 3 Generationen von Sternen, die dritte Generation bringt Metalle (wie z.B. Gold, Eisen und Kupfer (Bronze)) hervor. Auch die Sonne ist ein Stern der dritten Generation. Zugleich kann man vermuten, dass der Bauarbeiter ein Tattoo in Form eines Sterns auf der Schulter hat. Überlagert werden diese beiden Ebenen durch einen weiteren Bezug auf Rilkes Gedicht „Archaϊscher Torso Apollos“, in dem es von dem steinernen Kunstwerk heißt: „und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; / und bräche nicht aus allen seinen Rändern / aus wie ein Stern“ (v.11-13).

v.5 Ihrem schulterschwung: Auf der Realebene ist die Schulterbewegung beim Schaufeln gemeint.

v.6 Inkarnat: ‚Inkarnat‘ ist ein Begriff aus der Kunst, genauer aus der Malerei und der Skulpturenbemalung. Er bezeichnet den Farbton, der für die Darstellung nackter menschlicher Körperpartien verwendet wird. Er wird auch ‚Fleischton‘ oder ‚Karnat‘ genannt. In dem Begriff klingt ‚Inkarnation‘ mit an und damit die Fleischwerdung des Göttlichen bzw. die Materialisierung der Idee.

v.6 eines selbstorganisierenden Systems: Systeme, die sich fern vom thermodynamischen Gleichgewicht befinden, die also Energie, Stoffe oder Informationen mit der Außenwelt austauschen. Ein selbstorganisierendes System verändert seine grundlegende Struktur als Funktion seiner Erfahrung und seiner Umwelt. Gemeint ist hier der Mensch als ein selbstorganisierendes System.

v.6 das alle: Der Relativsatz wird mit v.9 Von außen einwirkende störung und v.12 Abwehrt vervollständigt.

v.7f Kinetisch-dissipativ
: Kinetisch-dissipative Systeme sind Systeme, die laufend durch Reibung Energie in Wärme verwandeln, diese abgeben und daher auf dauernde Zufuhr von Energie angewiesen sind. Thermodynamisch gesehen verursachen sie Entropie. Selbstorganisierende Systeme (s. zu v. 6) sind kinetisch-dissipativ. Prinzipiell sind eigentlich alle Menschen kinetisch-dissipative Systeme, hier aber werden die besonders Energie verbrauchenden, sich bewegenden (frauen mit turboabsatz) und arbeitenden (Männer mit laptops) Menschen von den kontemplativen Menschen (s. zu v.10f) unterschieden. Auf der Realebene laufen die Männer und die Frauen an der Baugrube vorbei, während die Rentner (s. v.10) neugierig stehen bleiben.

v.10f Statisch-koagulativ: ‚unbewegt zusammenballend’. Im Gegensatz zu den kinetisch-dissipativen Systemen Systeme, die keine Energie abgeben, thermodynamisch also keine Entropie verursachen. Die rentner auf streunertour werden ironisch den arbeitenden und sich bewegende Menschen (vgl. zu v.7f) entgegen gestellt und könnten so als moderner Prototyp des kontemplativen Menschen verstanden werden.

v.12 denn wir obwohl sterblinge: i.e. die Menschen, die, obwohl sie sterblich sind, die Möglichkeit haben, die Ewigkeit zu beobachten. Die ungewöhnliche Nachsilbe –ling lässt an das üblichere ‚Fremdling‘ denken. Demzufolge wäre die Menschheit in der Welt eigentlich ‚fremd‘.

v.13ff Ein beobachtendes bewusstsein
: Die Entstehung und Entwicklung des Universums ist hier teleologisch gedacht und zielt auf ein beobachtendes bewusstsein ab. Der Begriff der Beobachtung ist eine Grundkategorie der Naturwissenschaften, insbesondere der Quantenphysik. So wie die Quantenphysik die klassische Physik erweitert, so wird der Blick auf die materielle Welt hier durch das beobachtende Bewusstsein um die Dimension der Transzendenz erweitert. Man könnte hier auch an Hegels ‚Phänomenologie des Geistes’ denken, in der Hegel versucht, die Entwicklung des natürlichen Bewusstseins hin zum Weltgeist darzustellen. Neben dem Philosophen ist es natürlich auch der Dichter, der einen Zugang zur Transzendenz schafft.

v.15 Seit es sich anfing: Das Universum wird hier als sich selbstorganisierendes System verstanden, analog zum Menschen (v.6).

v.16 Stehen staunen erschrecken
: Auf der konkreten Ebene kann man sich vorstellen, dass das lyrische Ich an der Grube vorbeigeht, stehen bleibt, über die Schönheit des Bauarbeiters staunt und als es über deren Vergänglichkeit nachdenkt, erschrickt. Die Haltung des Staunens wird in der Antike als Beginn der Philosophie angesehen.

v.17 Seht: Der Imperativ ist an den Leser gerichtet und fordert ihn auf, eine philosophische Haltung einzunehmen (vgl. dazu zu v.15f und zu v.17 troglodyten). Zu denken ist auch an den biblischen Imperativ „Ecce homo“ („Sehet, welch ein Mensch“ Johannes 19,5), der von Pilatus auf Christus angewandt wird.

v.17 troglodyten: Höhlenbewohner. Angespielt wird auf Platons ‚Höhlengleichnis‘ (Polteia. VII, Kap. 1-5): Die in einer Höhle gefesselten Menschen nehmen nur Schatten der wahren Dinge wahr. Derjenige, der sich aus den Fesseln löst, die Höhle verlässt und ans Tageslicht gelangt, erkennt die Ideen als die eigentliche Wirklichkeit und die Sonne als höchste Idee des Guten. Die in der Höhle Zurückgebliebenen glauben ihm nicht und verharren in ihrer Illusion. Hier in diesem Gedicht wird die Topologie des Höhlengleichnisses umgekehrt: Der Bauarbeiter in der Höhle (grube v.34) repräsentiert die Idee (vgl. zu v.3), die Passanten oben (Männer mit laptops und frauen mit turboabsatz) sind gleichzusetzen mit den in der Illusion Verharrenden.

v.17 diese idee von fleisch: Die Formulierung ist zu beziehen auf den Heroentorso und knüpft an das Höhlengleichnis (vgl. zu v.16 troglodyten) und an die christliche Vorstellung der Inkarnation an.

v.18f die millionen … / … sonnenbänken: Gemeint sind mit den Sportstudiobesuchern die modernen Menschen, die sich nur am Materiellen (fleisch) orientieren und zum Geistigen (‚der Sonne als höchster Idee des Guten‘) trotz der ‚Sonnenbänke‘ nicht vordringen. Da der moderne Mensch aber die Idee (den Heroentorso) unbewusst, billig und ‚willfährig‘ imitiert, bleibt er ihr dennoch verhaftet.

v.20 anthropologischen merkmalsplanung
: Anspielung auf Peter Sloterdijks Aufsatz „Regeln für den Menschenpark“ (1999), in dem ein andere Form der Optimierung des Fleisches angesprochen wird: „ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; … – dies sind Fragen, in denen sich … der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“ Durch das Sowie (v.20) werden beide Formen der Optimierung als ‚ungeistig‘ charakterisiert.

v.21f Ein leben innen … / Das leben außen: Der Gegensatz von innen und außen entspricht den Gegensätzen von Idee und Materie, von Außenwelt und Höhle und von Seele und Körper.

v.21 klar konturiert: Bezieht sich auf das Leben mit einem Körper, der einen Umriss, eine Kontur hat.

v.23 Kontaktexplosiv die zündschnur: Wie ein Funke das Dynamit zur Explosion bringt, so zündet die transzendente Idee im Materiellen und bringt ein Kunstwerk hervor (vgl. zu v.3 Heroentorso und zu v.4 ein stern).

v.23 starker gelegenheiten: Ein günstiger Moment, auf den der Dichter wartet und der sich dem ‚Agenten’ des Fatums (v.25) offenbart.

v.24: Das lyrische Ich beobachtet den dichterischen Vorgang, der sich eben jetzt ereignet. Mit den fingern wird auf den Schreibvorgang verwiesen.

v.24 zischt sie zwischen den fingern: Nicht nur die Zündschnur, sondern auch eine Schlange zischt (Anspielung auf die Paradiesschlange).

v.25 Agent des Fatums: In der römischen Mythologie wurde Fatum mit Moira, der Schicksalsgöttin gleichgesetzt, also personifiziert. Als ‚Agenten des Schicksals’ kann man sowohl Gott als auch seinen Widersacher, den Teufel (z.B. in der Figur der Schlange) als auch den Dichter sehen.

v.26 freibrief des sachzwangs: Ein Freibrief ist eine Urkunde, die bestimmte Privilegien verleiht. Hier wird der Freibrief vom ‚Sachzwang’ verliehen und engt die Handlungsmöglichkeiten auf die Rationalität ein, die dadurch als einzige Dimension legitimiert wird.

v.26 der: Der Relativsatz wird fortgesetzt mit Den Anfängen der katastrophe (v.29) und von / Oben begegnet (v.31f).

v.27f
: Anklang an das Volkslied ‚Weißt du wieviel Sternlein stehen’: „Weißt du wieviel Sterne stehen / an dem blauen Himmelszelt? / Weißt du wieviel Wolken gehen / weithin über alle Welt? / Gott, der Herr, hat sie gezählet, / daß ihm auch nicht eines fehlet, / an der ganzen großen Zahl.“ Mit der Wolke wird hier (im Gegensatz zur Rationalität des Sachzwangs) auf die transzendente Dimension verwiesen. Die Bibel nennt die Wolke häufig als Ort, von dem aus Gott spricht (z.B. Lukas 9,34). Die kindliche Frage nach der Herkunft und dem Ziel der Transzendenz offenbart ihre Abwesenheit in der Gegenwart.

v.29 anfängen der katastrophe
: bezeichnet hier sowohl den biblischen Sündenfall (vgl. zu v.25 und v.30f) als auch historisch den Beginn der Herrschaft der Rationalität mit der Aufklärung.

v.30f: Mit dem apfelbaum ist der Baum in der Mitte des Paradieses, der Baum der Erkenntnis, gemeint. Indem die Menschen davon essen, verlieren sie den unmittelbaren Bezug zur Transzendenz. Der blitz kann verstanden werden als Zeichen des Zornes Gottes, aber auch als Symbol für die Erkenntnis und damit den Beginn der Rationalität. Setzt man die ‚Blüte‘ des Baumes mit der Verbindung zur Transzendenz gleich, so zerstört die Rationalität (der blitz) diese Verbindung, man ‚vergisst‘ den Ursprung. Das ob (an Stelle des eigentlich zu erwartenden ‚dass‘) bildet das moderne Bewusstsein ab, das diese Verbindung in Zweifel zieht.

v.32 begegnet: ‚begegnen‘ ist hier nicht nur im Sinne von ‚auf einen anderen treffen‘ zu verstehen, sondern auch im Sinne von ‚jemandem oder eine Sache entgegentreten‘. Derjenige, der hier Den anfängen der katastrophe (v.29) von / Oben begegnet (v.31f) ist auf der einen Seite Christus, der den Sündenfall aufhebt, auf der anderen Seite der Dichter, der die Verbindung zur Transzendenz wiederherstellt.

v.32f ewigkeit … / … des rechtecks: Gegen die moderne Rationalität (vgl. zu v.30f) wird hier die antike Philosphie, insbesondere die Ideenlehre Platons gestellt. Bei Plato führt der Weg zur Idee des Guten über die mathematischen Gegenstände (z.B. die platonischen Körper oder das Rechteck). Über seiner Akademie stand angeblich „Niemand darf eintreten, der die Geometrie nicht kennt“. Auf die Genauigkeit der Mathematik wird auch mit dem Adverb exakt angespielt, mit dem ‚Rechteck‘ ist, wie sich in v.34 zeigt, die grube, aber auch das Grab gemeint, über das der Weg zur ‚Ewigkeit‘, zur Transzendenz führt.

v.34 vor unseren füßen: Überlagert wird die konkrete Ebene (Männer, Frauen und Rentner an der Baugrube) mit der übertragenen Ebene (Der Mensch als ‚Sterbling‘ angesichts des Grabes) und die poetologische Ebene (Der Leser vor dem exakten Konstrukt ‚Gedicht‘).

v.34 das offene die grube: Der Begriff ist nicht nur konkret als ‚offene Grube‘ zu verstehen, sondern auch als ‚Öffnung‘ in den transzendenten Raum.

v.35f Wo haargenau wie in Platens ghaselen ein element / Chaos aufscheint
: Bei der Nennung Platens könnte man an sein bekanntestes Gedicht „Tristan“ denken, dessen erste Verse lauten: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben“. Die ‚Schönheit‘ lässt sich auf den Heroentorso (v.3) beziehen, der Tod kann auf die ‚offene Grube‘ bezogen werden. Die Ghaselen haben ein besonderes Reimschema: aa – ba – ca – da etc. Dabei kann der feste, immer wiederkehrende Reim (a) als Element der Ordnung, der offene, unbestimmte Reim (b,c,d,e …) als element des Chaos angesehen werden. Auch das vorliegende Gedicht kann man als einen Prozeß verstehen, durch den das Feste, Materielle mit dem Offenen, Ideellen in Verbindung tritt.

v.37 flor der rohre: ‚Flor‘ ist eine ‚geordnete Lage von losen Fasern‘. Auf der konkreten Ebene sind die Versorgungsrohre in einer Baugrube gemeint.

v.38 Als ob unser gehweg
: zu ergänzen ist hier ‚abbricht‘. Der gehweg ist mit dem Lebensweg des Menschen zu parallelisieren, der Abbruch des Satzes versinnbildlicht den Tod.

v.39f Byrds Bay of Whales … / … davon driften könnte
: Die Bay of Whales (Bucht der Wale) ist eine Bucht in der Antarktis. Sie ist die südlichste offene Stelle des Meeres, von der aus Richard Byrd 1928-30 seine Arktis-Expeditionen unternahm. 1987 brach ein 155 km langer und 35 km breiter Schneepanzer in der Bucht ab und trieb als Eisberg 2000 km weit durch den pazifischen zum atlantischen Ozean. Saarlandgroß überblendet dieses Abbruchereignis mit weiteren, späteren Abbrüchen, von denen in mehreren Zeitschriften berichtet wurde (Spiegel, Welt etc.). Der Abbruch eines Eisberges kann parallelisiert werden mit dem Tod des Individuums (Trennung von Seele und Körper) und könnte hier auch auf die Dimension ‚Umweltzerstörung‘ verweisen (vgl. dazu auch zu pressluftspitzhackengewalt v.41).

v.41 Sie aber Sie: Das Gedicht kehrt nach längeren Reflexionen zu dem in v.1 und v.5 angesprochenen Straßenbauarbeiter zurück.

v.41 pressluftspitzhackengewalt: Das Wortungetüm (zusammengesetzt aus Presslufthammer, Spitzhacke und der Verfügungsgewalt über beide Geräte) versinnbildlicht auf der Realebene die Technik der Moderne.

v.42: Die Gestalt des Straßenbauarbeiters wird überlagert durch Christus, den Auferstandenen, der den Tod überwindet und damit über das Reich des Lichts und der Finsternis gebietet.

v.43ff Oder dass wir … / … / … / … nicht abgeht
: Gemeint sind hier die Systeme Fernheizung, Kabelempfang und Abwasser, die der Straßenbauarbeiter repariert. Auf der übertragenen Ebene sorgt der ‚Gebieter‘ für eine sinnerfülltes Leben, erneuert die Verbindung zur Transzendenz und lindert die Schrecken des Todes; er repariert damit die ‚Schäden der Moderne‘.

v.47: Die Fehler im System (s. zu v.43ff) sind, wenn die Straße nicht aufgerissen ist, nicht sichtbar. Im übertragenen Sinne ist das Erscheinen der Transzendenz nicht für alle wahrnehmbar (vgl. dazu zu v.48f).

v.48f: Der Text ist ein abgewandeltes Zitat aus dem 16. Gesang der Odysee Homers. In der Übersetzung von Donner lautet er: „Denn nicht allen erscheinen in sichtbarem Lichte die Götter“. (Athene, die dem Odysseus erscheint, ist für seinen Sohn Telemach nicht sichtbar.)

v.50 heut hier jetzt: Die dreifache Betonung der Gegenwart steht im Gegensatz zu der in den vorhergehenden Versen evozierten Antike, sie zeigt, dass eine epiphanie auch heute noch möglich ist (vgl. dazu auch zu v.51f).

v.50 muskelspiel schweißglänzender epiphanie: Unter ‚Epiphanie‘ versteht man die unvermutete Erscheinung oder Selbstoffenbarung einer Gottheit vor den Menschen. Hier offenbart sich die Transzendenz als in der muskulösen, verschwitzten Materie Inkarnierte (vgl. dazu zu v.3 und v.6).

v.51 Im angesicht: i.e. vor den Augen

v.51f Im angesicht schauenden nichtstuns / Als einer der höchsten möglichkeiten des daseins
: An die Stelle eines erwarteten Subjekts (z.B. ‚Im Angesicht Gottes‘) ist ein substantiviertes Verb gesetzt. Philosophisch ist das Nichtstun, die Kontemplation, gegenüber dem Handeln die höhere Form des Daseins, weil wir Menschen nur in dieser Haltung das Sein, die Transzendenz, schauen können. Überlagert wird die Figur von der Gestalt Christi, der Als einer (als Individuum) die ‚höchste Möglichkeit des Daseins‘ verwirklicht hat.
 
 
Aspekte der Form:

v.6-12: Die störung des Systems wird durch die Unterbrechung des Satzbaus und die Einschübe (v.7f, v.10f) verdeutlicht.

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