Geometrische Progression

Überblickskommentar:
 
Anhand der geometrischen Folge, die Thomas R. Malthus in seinem Essay zur Bevölkerungsentwicklung beschreibt, und an dem zur Illustration genutzten Gedankenexperiment der Papierfaltung zeigt das Gedicht die Gefährdung der Welt durch Vermüllung und Überbevölkerung. Es leistet damit implizit Kritik an dem Projekt Aufklärung und wiederholt die Gedankenfigur der ‚Dialektik der Aufklärung‘ von Horkheimer und Adorno: Der unrefektierte Glaube an die rationale Vernunft führt ins Scheitern.

Geometrische Progression


 
Zwei vier acht sechzehn zweiunddreißig
das Weltende

man weiß es längst

beginnt mit der
geometrischen Progression

die unsern Blick überfordert
:
5
Ein Blatt
Zeitungspapier
oder auch
dieses hier

gefaltet und fünfzig mal wieder gefaltet
übersteigt den
Asteroidengürtel
jenseits des Mars –
ob
es
nun
Mülldeponien
beschreibt
10oder
das dumpfe Gewucher des Weltvolks

 
 
Stellenkommentar:

Titel: Geometrische Progession ist ein anderer Ausdruck für ‚geometrische Folge‘. Der Begriff ‚Progression‘ mit der wörtlichen Bedeutung ‚Fortschritt‘ verweist auf das Projekt Aufklärung.

v.1 zwei … zweiunddreißig: Angegeben ist die geometrische Folge a = aⁿ (mit a = 2 und n∈N). Diese Folge dient zur Umwandlung der Dezimalzahlen in Binärzahlen (als Grundlage der Programmierung).

v.1 das Weltende: Die geometrische Folge ist in der Mathematik zwar unendlich, endet hier aber mit dem Weltende. Wiederaufnahme der ‚Welt‘ in v.10 Weltvolks

v.2 man weiß es längst: Natürlich wissen nur wenige, dass das ‚Weltende mit einer geometrischen Progression beginnt‘: Die Trivialität des Ausdrucks steht also im ironischen Gegensatz zum Behauptung. Zu denken ist hier an den britischen Ökonomen Thomas Robert Malthus (vgl. dazu zu v.10).

v.3 geometrischen Progession: ‚geometrische Progession‘ ist ein anderer Ausdruck für ‚geometrische Folge‘.

v.4: (mit anderer Worten:) Es übersteigt unser Auffassungsvermögen, wir haben keinen ‚Überblick‘.

v.5ff Ein Blatt … / … / … / … Mars: Dies Beispiel wird genutzt, um die Theorie von Th. R. Malthus (s.u. zu v.10) zu veranschaulichen. Wenn man in Gedanken ein 0,1 Millimeter dickes Blatt Papier in der Hälfte zusammenfaltet, und noch einmal und noch einmal und so weiter, dann verdoppelt sich die Dicke des Papiers bei jedem Faltvorgang und erreicht nach nur 50-maligem Zusammenfalten eine Dicke von mehr als hundert Millionen Kilometern.

v.6 dieses hier: selbstreferentiell

v.8 Asteroidengürtel: Ansammlung von Asteroiden im Sonnensystem zwischen Mars und Jupiter. Er ist von der Sonne mehr als zwei Astronomische Einheiten entfernt.

v.9 es: Sowohl auf das Blatt Zeitungspapier als auch auf dieses hier (das Gedicht selbst) zu beziehen

v.9 Mülldeponien: Zu der von Th.R. Malthus befürchteten Überbevölkerung (s.u. zu v.10) tritt heute die progessive Umweltvermüllung / -zerstörung hinzu.

v.10 das dumpfe Gewucher des Weltvolks: Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) behauptete in seiner Abhandlung ‚Essay on the Principle of Population‘ (1798), dass die Menschen in geometrischer Progression und die Lebensmittel in arithmetischer Progression zunehmen. Da die geometrische Progression die arithmetische binnen kurzen gewaltig übersteigt, folgte für ihn daraus das Problem der Überbevölkerung und dass dann die menschlichen Zivilisation zusammenbräche.
 
 
Aspekte der Form:

Die beiden Mittelverse (v. 5 und v.6) haben reinen Reim (papier / hier), die anderen Verse reimen nur vokalisch, bis auf die beiden letzten Verse: Auf die Katastrophen kann man sich keinen Reim machen (vgl. das berühmte Diktum von Th. W. Adorno).

Im letzten Vers ist der dumpfe u-Vokal in zentraler Position.

Die Wiederholung von ‚Welt‘ (v.1 und v.10) bildet eine Klammer um das Gedicht.

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