Von Himmel zu Himmel

Überblickskommentar:

Das lyrische Ich spricht vor einem Supermarkteingang einen Bettler mit fernöstlichem Migrationshintergrund an. Es reflektiert über das Geben (Tony Blair) und den zum Betteln verwendeten Styroporbecher, beklagt den bei seiner Herstellung entstehenden Abfall und vergleicht sein Material mit Material vergangener Zeiten. Im Bewusstsein der Zwiespältigkeit der instrumentellen Vernunft (Odysseus) fordert es den Bettler auf, sich den Unterschied zwischen fernöstlicher und westlicher Kultur zu vergegenwärtigen (abgrundspalt), sich von der westlichen materiellen Welt abzuwenden und sich kosmischen Dimensionen (Omega-Punkt) zuzuwenden, die gemäß einiger Theorien (Tipler, Erbsenmendel) zum Ursprung zurückführen. Dagegen leidet die heutige, u.a. von Gentechnik und Werbung bestimmte westliche Welt an der Wunde ‚Transzendenzverlust‘, die nur in der Apokalypse mit Christus als Erlöser geheilt werden könnte. Das lyrische Ich denkt an den Becher als Symbol des Abendmahls und als Zeichen seiner Bereitschaft, sich von der materiellen Welt loszusagen, gibt es dem Bettler ein Centstück bzw. lässt dieses in den Becher fallen; das dadurch verursachte Geräusch wird mit dem fernöstlichen ‚Om‘ als transzendentem Urklang verglichen.
Während in der christlich geprägten Tradition das Geben als barmherzige Geste im Vordergrund steht, wird in der fernöstlichen Tradition das Geben als ein Sich-Lösen von der materiellen Welt eingeübt. Dieser Haltung stellt das lyrische Ich die von der Warenwelt beherrschte Jetztzeit gegenüber und hofft auf eine spirituellen Wiedergeburt.

Von Himmel zu Himmel


 
Wie
Sie
hier dasitzen am
supermarkteingang
spitze knie

Unter dem kinn und den
styroporbecher
schmuddelgrau
zu mir her

Zwischengestrandet
auf einem
macdonaldisierten planeten

Zwei muscheln
trüb nach oben gekehrt

5
Auf bleierne himmel hoffend
zwei andre

Dumpf an der erde
ob sie die toten

Schon rufen ich sag Ihnen mal was Sie bitteschön
Mehr als
neunzig prozent
immerhin
die werden heute bereits

Nein hören Sie
Tony Blair
bei regierungsantritt war geradeheraus
10Stolz darauf noch nie einem bettler noch nie einen einzigen cent direkt
Zu abfall
wir sprechen hier von den eingesetzten rohstoffen
Und der industriellen fertigung eines produkts
Was ja durchaus und
sehen Sie das jetzt mal als fortschritt

Gegenüber
dem trügerisch rostfreien gold
noch und vielduldenden
15Eisen im hartleibigen lebensfaden eines
Odysseus

Der bis zu uns hierher entwickelte
der seine
ankertaue

Dass selbst
Atropos
darf man denken nur unter

Amtshilfe olympischer scherenschleifer hier also
Hier ist die stunde der
löcher in Ihren sandalen
wenn Sie vorübergehend

20Treten Sie nur aus Ihrem verrät mir die teintfeindiagnose fernöstlichen
Wandergrund wagen Sie sich selbstbewusst die paar schritte nach vorn
Bis an den abgrundspalt dort
Fluktuationen
sind grundlage sind sie der ordnung

In der lebenden welt s.z.b. die kollision
25
Der eurasischen mit der indischen platte

Woraus ein
göttergebirge
Sie also

Sie dann natürlich
erst recht

Ist auch Ihr ich bloß
möglichkeitsfeld

Zwischen den
Aldipaletten
oder nur mut zur leere drüben
30
Des gläsernen hauptbahnhofs
und dort lassen Sie sich
Ihren
becher
ich meine methodisch mal bis in die kleinsten
Abstände oder
besser die stirn
noch die eigne
Beugen Sie die in aller stille darüber tun Sie es selbst und in viel
Ganz unendlich viel kleinere noch als weiland zu Wittenberg
35Der schlachter für unseren
Dr. Luther
der an den dingwörtern
Sich festhalten zu sollen glaubte von einem kalten lamm denn wenn überhaupt
Dann besser doch so ein
Omega-Punkt
orientieren Sie mal Ihren blick extraterrestrisch

Verlängert genau dort über den
blitzableiter der großmarkthalle

Auf den sagt
Frank Tipler
Professor aus New Orleans

40Strebt dieser kosmos zu hat aber will manch einer wissen
Nur
ingeniös
unseren
Erbsenmendel
um einhundertachtzig grad weil dessen
hybride

Die wollten ja nun geradewegs immer wieder zur stammart zurück und das
Wen wunderts
bedenkt man
den damals bereits über den horizont herauf
Rumpelnden Jahrmarkt von klonschafkorybanten und tumultuarischen anthropoiden
45
Das schreit und wirbt
und schreit und stirbt

Und
wirbt als dorn um die wunde
als ob sie
apokalyptisch

Mit ihrer
nachgeburt
ausbluten sollte die uralt geheime

Die monosyllabische matrix der Veden

Als
zeitloses echo
erfahrbar noch jetzt im einfachen hohlen
50Hören Sie
Plopp dieses centstücks

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Titel lässt sich auf zweierlei Art verstehen: Traditioneller Weise steht der Himmel für die Transzendenz. Hier ist entweder von zwei verschiedenen Himmeln die Rede (vom fernöstlich religiösen Himmel und ironisch vom ‚Konsumhimmel‘) oder andererseits von nur einem transzendenten Himmel (der durch eine transzendenzlose Zeit, die Gegenwart, unterbrochen worden ist), von unserem transzendenten Ursprung, von dem wir kommen und zu dem wir wieder gehen.

v.1 Sie: Angeredet wird ein Bettler mit anscheinend asiatischer Herkunft (vgl. v.20f).

v.1 Supermarkteingang: Der Eingang ist das Tor zur Konsumwelt.

v.1f spitze knie / Unter dem kinn: Beschreibung der Sitzhaltung des Bettlers. Das Adjektiv ‚spitz‘ verdeutlicht die Magerkeit des Bettelnden im Gegensatz zum Reichtum des ‚Konsumtempels‘.

v.2 styroporbecher: Styropor ist der Handelsname des Stoffes ‚Schaumpolystyrol‘; er wird aus Öl hergestellt. Verpackungsmaterialien aus Polystyrol (Styropor) sind besonders umweltschädlich und energieaufwendig bei Herstellung und Entsorgung. Vgl. dazu auch zu v.8. Der Becher als symbolischer Gegenstand steht hier für die Hoffnung des Bettlers auf mildtätige Gaben. Gleichzeitig ist er Abendmahlsymbol und konstituiert damit eine Verbindung zur Transzendenz.

v.2 schmuddelgrau: Die Überlagerung von Adjektiv und Adverb macht deutlich, dass sich schmuddelgrau nicht nur auf den Becher sondern auch auf die Geste des Bettlers bezieht. Gleichzeitig klassifiziert damit der Blick des Betrachters den Bettelnden als Abfall.

v.2 zu mir her: Die Phrase wird fortgesetzt mit Zwei Muscheln trüb nach oben gekehrt (v.4).

v.3 Zwischengestrandet: Die Präposition ‚zwischen‘ verweist auf die Vorläufigkeit des Aufenthaltsortes eines Gestrandeten, der anscheinend auf seiner Reise aus dem normalen Kontext herausgefallen zu sein scheint.

v.3 auf einem macdonaldisierten planeten: Die Fastfood-Kette McDonald steht hier für negative Auswüchse der westlichen Zivilisation: Umweltschädigung (durch Zunahme der Rinderherden), steigende Anzahl adipöser Kinder (im Gegensatz zum mageren Bettler) und wachsende Müllberge (Burger-Verpackungen und Styropor-Becher). Hiervon ist der gesamte Planet betroffen. Der Bettler erscheint hier als Extraterrestischer, als Alien.

v.4 Zwei Muscheln: Die Metapher, die für die bittend nach oben gewandten Hände steht, schließt an v.3 Zwischengestrandet an.

v.4 trüb nach oben gekehrt: trüb nimmt die Farben schmuddelgrau (v.2) und ‚bleiern‘ (v.5) auf und verweist auf die ‚getrübte‘ Beziehung des westlichen Menschen nach oben, zum himmel (v.5), zur Transzendenz.

v.5 Auf bleierne himmel hoffend: Die Formulierung spielt nicht nur auf Margarethe von Trottas Film „Die bleierne Zeit“ an, sondern vor allem auf das Hölderlin Gedicht „Der Gang aufs Land“, das die Götterferne u.a. mit folgenden Versen beklagt: „Trüb ists heut, es schlummern die Gäng‘ und die Gassen und fast will / Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“ (v.5f). Die eigentliche Hoffnung des Bettlers auf Goldtaler, die vom Himmel regnen, ersetzt das lyrische Ich durch Blei mit der Assoziation an Gewalt und Gift.

v.5f zwei andre / Dumpf an der erde: Während die beiden Hände muschelförmig nach oben, zum Himmel, geöffnet sind, sind die beiden nackten Füße auf die Erde gesetzt und verweisen damit nach unten, zu den toten. In dieser topographischen Raumzeit (Himmel und Erde, Herkunft und Ende) wird der Mensch als Wesen im Zwischenbereich charakterisiert.

v.6f ob sie die toten / Schon rufen: Hier kann man auch an den elften Gesang der Odyssee denken (die „Nekyia“), in dem Odysseus (vgl. v.15) erzählt, wie er an einer Kluft (vgl. abgrundspalt v.22) durch Opfern eines Widders (vgl. das lamm v.36) die Toten heraufruft. Dann kann der supermarkteingang (v.1) auch als Tor zur Unterwelt angesehen werden, die Konsumwelt also als Hölle.

v.8 neunzig prozent: In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die Packmittelproduktion verdreifacht. 90% werden für den einmaligen Einsatz hergestellt. Danach landen sie auf einem stetig wachsenden Müllberg.

v.8 die werden heute bereits: wird fortgesetzt mit v.11 Zu abfall.

v.9f Tony Blair: Vgl. dazu: „Das Geben ist aus der Mode gekommen, seit Tony Blair der Obdachlosenzeitschrift The Big Issue erklärte, er lasse Bettlern nie etwas zukommen.“ (Zeit-Online vom 29.01.1998). Im Gegensatz dazu steht das lyrische Ich, das am Ende des Gedichtes dem Bettler ein Cent-Stück in den Becher fallen lässt (v.51).

v.11 Zu abfall: Vordergründig bezieht sich abfall hier auf die neunzig prozent (v.8) und auf den Vorgang der industriellen fertigung eines produkts (v.12), durch den Einschub v.9f wird aber nahegelegt, dass auch der Bettler als abfall betrachtet werden kann (wie z.B. in Tony Blairs Anti-Social Behaviour Order – ASBO). Daher sieht sich das lyrische Ich auch genötigt, im Folgenden klarzustellen: wir sprechen hier von den eingesetzten rohstoffen.

v.13 sehen Sie das jetzt mal als fortschritt: ironische Wendung, die die heute übliche positive Bewertung des Fortschritts in Frage stellt. In der „Dialektik der Aufklärung“ zeigen Horkheimer und Adorno den Verblendungszusammenhang naiver Fortschrittsgläubigkeit anhand der Kultur- und Warenproduktion. Im Gedicht wird der fortschritt dadurch problematisiert, dass der Wanderer aufgefordert wird, sich die paar schritte nach vorn / Bis an den abgundspalt (v.21f) zu wagen.

v.14f dem trügerisch rostfreien gold noch und vielduldenden / Eisen: gold ist zwar beständig (‚rostfrei‘), ist aber nicht waffentauglich; Eisen ist waffentauglich (‚vielduldend‘), aber nicht beständig. Gleichzeitig sind die beiden Attribute (trügerisch = listig und ‚vielduldend‘) stehende Beiwörter für den im folgenden genannten Odysseus. Die beiden Rohstoffe Eisen und Gold stehen im Gegensatz zum Rohstoff der Moderne, dem Öl, aus dem der styroporbecher gefertigt ist.

v.15 im hartleibigen lebensfaden eines Odysseus: Odysseus tritt hier als eine Verbindungsfigur zwischen der Antike und der Gegenwart auf, weil er 1) am Ende seiner Wanderung (vgl. Wandergrund v.21) in Gestalt eines Bettlers heimkehrt und weil er 2) in der philosophischen Tradition (vgl. „Dialektik der Aufklärung“ Horkheimer / Adorno) als Prototyp der instrumentellen Vernunft auftritt, der als erster der modernen Rationalität gegenüber der heroischen Welthaltung Geltung verschafft. Dass Odysseus an der heroischen Welthaltung aber auch Teil hat, zeigt das Attribut ‚hartleibig‘ = in Eisen gerüstet.

v.16 Der bis zu uns hierher entwickelte: Der bis zu uns reichende lebensfaden des Odysseus ist Bild für die Traditionslinie der instrumentellen Vernunft und für den heute noch virulenten Heldentypus.

v.16 ankertaue: Mit Odysseus verbunden ist die Schiffsmetapher. Daher wird die Verbindung zwischen Antike und Moderne hier durch ankertaue dargestellt.

v.17 Atropos: eine Figur der griechischen Mythologie, deren Aufgabe es ist, den Lebensfaden zu durchschneiden. Hier erweist sich dieser Faden als so stark, dass er nur unter / Amtshilfe olympischer scherenschleifer zerschnitten werden könnte. Dies verweist ironisch auf die Macht der instrumentellen Vernunft, die nur mit Hilfe höherer Instanzen begrenzt werden könnte.

v.19 Hier ist die stunde der löcher in Ihren sandalen: Das lyrische Ich beendet seine Reflexion über die Antike und spricht den weit gewanderten Bettler an. Die Sandalen erinnern nochmals an Odysseus, aber auch an Christus.

v.19 wenn Sie vorübergehend: zu ergänzen wäre Bis an den abgrundspalt (v.22) treten. Gemeint sein könnte damit, dass sich der Bettler vorübergehend und selbstbewusst (v.21) mit dem Abgrund zwischen der Moderne, der materiellen Welt, und seiner fernöstlichen Herkunft, einer geistigen Welt, auseinandersetzen soll.

v.23 Fluktuationen: In der Naturwissenschaft versteht man unter Fluktuation die zufällige Änderung einer ansonsten bekannten konstanten oder schwingenden Systemgröße. Dieser Begriff wird im Folgenden auf die ordnung / In der lebenden welt (v.23f), die Evolution, angewandt.

v.24f die kollision / Der eurasischen mit der indischen platte: Als Beispiel für Fluktuationen dient die Plattentektonik, und hier insbesondere der Drift der indischen Platte, die mit der eurasischen kollidiert und so den Himalaya auffaltet.

v.26 göttergebirge: i.e. der Himalaya. Der Satz wäre mit ‚entsteht‘ zu vervollständigen. göttergebirge ist (bis auf ein einziges Vorkommen bei Herder) ein Neologismus. Es ist offensichtlich analog zum gebräuchlichen ‚Götterberg‘, dem Olymp, gebildet.

v.26f Sie also / … recht: So wie aus der Kollision der indischen mit der eurasischen Platte ein Göttergebirge entsteht, so entsteht aus dem Zusammentreffen des fernöstlichen Bettlers mit der westlichen Moderne die Möglichkeit einer neuen Beziehung zur Transzendenz. Die indische Platte steht hier für eine vorwiegend geistige Orientierung, die eurasische Platte für eine vorwiegend materielle Orientierung.

v.28 möglichkeitsfeld: Nach dem Philosophen Pierre Bourdieu besitzt jedes Individuum ein bestimmtes Möglichkeitsfeld durch die ihm gegebenen Ressourcen. Auch in der Quantentheorie ist der Begriff gebräuchlich: Ein möglichkeitsfeld ist dort das diskrete Eigenwertspektrum der Observablen, das durch wiederholte Messungen bestimmt wird. Das lyrische Ich bezeichnet das Ich des Bettlers hier als ein möglichkeitsfeld, weil das Ich das Feld ist, auf dem möglicherweise die Transzendenz sich ereignen könnte.

v.29 Aldipaletten oder … leere drüben: Die Aldipaletten stehen für die materielle Warenwelt, die Leere für die geistige, fernöstliche Weltsicht.

v.29f zur leere drüben / Des gläsernen hauptbahnhofs: auf der konkreten Ebene Anspielung auf den berliner Hauptbahnhof. Während im vorhergehenden Vers die ‚Leere‘ als transzendenznah verstanden worden ist (vgl. zu v.29), erhält sie hier im Kontext mit dem Bahnhof als Durchgangsstation die Bedeutung der Transzendenzferne.

v.30ff dort lassen Sie sich / Ihren Becher … mal bis in die kleinsten / Abstände: zu ergänzen ist ‚untersuchen‘. Zur Symbolik des Bechers vgl. zu v.2. Zu erwarten wäre eigentlich, dass der Becher bis in die kleinsten ‚Bestandteile‘ untersucht wird. Die Ersetzung Abstände verweist auf den methodischen Wechsel von der klassischen Physik, die den Wirklichkeitsraum erfasst, zur Quantenphysik, die den Möglichkeitsraum öffnet.

v.32f besser die stirn … / … tun Sie es selbst: Der Bettler wird hier zu einer anderen Betrachtungsweise als der in v.30ff beschriebenen aufgefordert: Statt der naturwissenschaftlichen Untersuchungungsmethode solle er eine spirituelle Haltung (stirn, Beugen) einnehmen, wobei stille parallel zu leere aufzufassen ist (vgl. zu v.29 und 29f). Die Aufforderung, ‚es selbst zu tun‘, steht im Gegensatz zur Passivität des modernen Menschen, der sein Wissen nicht durch sich selbst, sondern von Spezialisten bezieht.

v.34ff und in viel /… / von einem kalten Lamm: Um die lateinische Bibel besser übersetzen zu können, ließ Luther sich von einem Schlachter die Bezeichnungen der Einzelteile eines zerlegten Lammes nennen. Da diese Methode mit ihren dingwörtern immer noch der materiellen Welt verhaftet ist, kann sie nach Auffassung des lyrischen Ich zu keinem spirituellen Erlebnis führen. Auch die Formulierung ‚kaltes Lamm‘ weist darauf hin, dass hier keine lebendige (warme) Transzendenznähe hergestellt wird. Wenn das lyrische Ich von ‚unserem Dr. Luther‘ spricht, wird darauf hingewiesen, dass Luther einen wesentlichen Beitrag zur Entmythologisierung der christlichen Lehre leistet: Indem Luther das Abendmahl (mit der Opferung des Lammes) nur noch symbolisch (und nicht mehr transsubstantiell, wie in der katholischen Kirche) versteht, nähert er die Religion unserem rationalen Weltverständnis an.

v.37 Omega-Punkt: Die griechischen Buchstaben Alpha und Omega stehen symbolisch für Christus als Anfang und Ende der Welt (vgl. Offenbarung 22,13 „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“). Frank Tipler Professor aus New Orleans (vgl. zu v.39) behauptet, dass am Ende des Universums alles virtuell oder materiell Existierende im Punkt Omega kulminiert und in diesem unendlichen Moment die Gottheit bildet, weil dort die Information vollkommen ist.

v.37 orientieren Sie mal Ihren blick extraterrestrisch: Der Bettler wird aufgefordert, seinen Blick über das materiell Begrenzte, das Terrestrische zu erheben (vgl. dazu auch zu v.3). Mit dem Verb orientieren (statt ‚richten Sie Ihren Blick‘) wird die Richtung nach Osten, in den ‚Orient‘ vorgegeben. Die Ausweitung des Blickes ins Kosmische steht im Gegensatz zur Blickrichtung in v.33 (vgl. zu v.32f).

v.38 blitzableiter der großmarkthalle: Die großmarkthalle ist hier ein Symbol für die westliche (materielle) Welt, die göttliche Zeichen (z.B. den dem Zeus zugeordneten Blitz) nicht mehr aufnimmt, sondern mit technischen Mitteln (blitzableiter) fernhält.

v.39 Frank Tipler: * 1947 in Alabama, USA. US-amerikanischer Physiker (vgl. auch zu v.37 Omega-Punkt)

v.41 ingeniös: Es gibt hier zwei Möglichkeiten der Interpretation: 1) Tipler wird hier als ingeniös (‚scharfsinnig‘) bezeichnet, weil er nicht wie Mendel ‚genial‘ (‚schöpferisch‘) ein System geschaffen hat, sondern Nur das Mendel‘sche umkehrt. 2) Tipler und Mendel sind gleichermaßen ingeniös (‚scharfsinnig‘) insofern sie Gesetzmäßigkeiten, die der Natur inhärent sind, entdecken also nicht erfinden. Tipler ist Nur später als Mendel.

v.41 Erbsenmendel: Gregor Mendel (*20. Juli 1822 in Österreichisch-Schlesien; † 6. Januar 1884) katholischer Priester und bedeutender Naturforscher, der die nach ihm benannten mendelschen Regeln der Vererbung entdeckte. Seine Kreuzungsexperimente machte er mit Erbsenpflanzen. Er wird auch als ‚Vater der Genetik‘ bezeichnet.

v.41f hybride / Die wollten ja nun geradewegs immer wieder zu stammart zurück: Als hybride bezeichnet man Pflanzen, die aus der Kreuzung zweier unterschiedlicher Gentypen der gleichen Art hervorgegangen sind. Nach der zweiten Mendel’schen Regel (Spaltungsregel) erscheinen auf der Ebene der Phänotypen nur Mischformen der beiden Stammarten (z.B. aus weißblühenden und rotblühenden Erbsen entstehen rosablühende), während in der nächsten Generation die reinen Stammarten – auf Grund der zu Grunde liegenden Genotypen – wieder erscheinen (aus der Kreuzung rosablühenden Erbsen entstehen auch wieder rot- und weißblühende Erbsen). Auf der übertragenen Ebene ist die dem Menschen als Genotypus eingeborene Rückkehr zur Transzendenz (zum Omega-Punkt) gemeint.

v.43 Wen wunderts: scheinbar ironischer Kommentar des lyrischen Ich. Übertragen aber wird die Rückkehr zur Transzendenz (die Parusie, die erwartete Wiederkunft Jesu Christi und mit ihr die Vollendung der Heilsgeschichte) als ebenso großes Wunder wie das der Erscheinung des Herrn gedacht.

v.43f bedenkt man … / … anthropoiden: Die von Mendel angestoßene Bewegung führte zur heutigen Genetik und zeitig als Resultat genetische Versuche, die z.B. zum Klonschaf Dolly geführt haben. Die Ausschweifungen der Genetik und damit der westlichen Kultur werden als ‚rumpelnder Jahrmarkt‘ bezeichnet und mit korybanten (Vegetationsdämonen und orgiastischen Ritualtänzer) und ‚Anthropoiden‘ (menschenähnlichen Wesen, i.e. Affen) gleichgesetzt, so dass deren ‚tumultarischer‘ Auftritt als Bild für die völlige Entgrenzung dieser Forschungsrichtung gesehen werden kann.

v.45: Die heutige Warenwelt ist der Überzeugung, dass, wer keine Werbung betreibt, schon tot ist. Diese Meinung wird hier umgekehrt: Wer sich der ‚Werbung‘ ergibt, ist schon tot. Das ‚Schreien‘ erinnert an den jahrmarkt (v.44) mit seinen Marktschreiern, verknüpft dies hier aber mit den Schreien von Sterbenden.

v.46 wirbt als dorn um die wunde: Zu Grunde liegt das Bild des mit Dornen gekrönten und verwundeten Christus, der bei Gott für die Menschen ‚wirbt‘ und durch seinen Tod deren Heil ‚erwirbt‘. Der ‚verwundete‘, transzendenzferne Mensch wird vom Transzendenzersatz Warenwelt umworben, aber da sein eigentliches Bedürfnis nicht gestillt wird, hält die Ware als ‚Dorn‘ die Wunde stets offen.

v.46 apokalyptisch: Die Apokalypse der Bibel spricht von der Wiederkunft des Herrn (Parusie) als Richter. Diese Endzeit (dieser Omega-Punkt) wird in den folgenden Versen geschildert.

v.47 Mit ihrer nachgeburt ausbluten sollte: Die Geburt Christi hat einen Neuen Menschen erzeugt, der moderne Mensch mit seiner Verfallenheit an das Materielle wird hier als nachgeburt bezeichnet, dessen Untergang die Apokalypse prophezeit.

v.47f die uralt geheime / Die monosyllabische matrix der Veden: Gemeint ist ‚Om‘, eine Silbe (‚monosyllabisch‘), die bei Hindus und Buddhisten als heilig gilt. Der Klang steht für den transzendenten Urklang, aus dessen Vibrationen nach hinduistischem Verständnis das gesamte Universum entstand. Es bezeichnet die höchste Gottesvorstellung, die unpersönliche Weltseele. Diese umfasst das Reich der sichtbaren Erscheinungen und das Reich des Transzendenten. Die Ursilbe ist damit die matrix (lat. ‚Gebärmutter‘) der Transzendenz, die in den Veden, den religiösen Texten des Hinduismus, überliefert wird.

v.49 Als zeitloses echo erfahrbar noch jetzt: Wie die astronomische Hintergrundstrahlung noch vom Urknall, der Entstehung des Universums zeugt, so ist das Echo der Ursilbe ‚Om‘ noch heute erfahrbar.

v.49ff im einfachen hohlen / … / Plopp dieses centstücks: Mit der monosyllabischen matrix der Veden (v.48), dem ‚Om‘, wird das für die heutige Welt charakteristische Geräusch, das ein fallendes Centstück verursacht, verschränkt. Das Geräusch ist einfach (monosyllabisch v.48) und es ist ‚hohl‘, nicht nur weil es in den Becher fällt, sondern auch, weil es bar jeden Sinngehaltes ist. Allerdings ist es durch die Geste des Gebens noch mit dem transzendenten Urklang verbunden. Das Centstück selbst lässt sich auch als Obolus verstehen, der beim Übergang in die Unterwelt (v.6f) zu entrichtet werden muss.
 
 
Aspekte der Form:

v.45 Der Vers gibt durch den Reim von wirbt auf stirbt die Tanzbewegung der im vorhergehenden Vers genannten Korybanten wieder.

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