Wer Poren hat

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Hülle und Fülle des Mitleids
 
In VG 1 wird die moderne Bekleidungsindustrie, die den Menschen ‚verhüllt‘ (Pelzmäntel, Cotton-Jeans, Primark) ironisch betrachtet. Die 2. VG zeigt die Hülle, die Haut des Menschen, unter einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt. Die Begrenzung dessen, was die Haut fühlen kann, wird in der 3. VG durch die Spiegelneuronen, die uns empathiefähig machen, aufgehoben. Diese Empathiefähigkeit findet eine Parallele in den ‚Traumpfaden‘ der Aborigines, die mit ihren fern wohnenden Vettern mifühlen können (VG 4). Das lyrische Ich fordert sich auf, das Leid seiner Mitbrüder zu teilen (VG 5) und bereitet ein absolut / Selbstloses Selbst vor (das Erscheinen Christi VG 6). Vom sich opfernden und dann zum Himmel auffahrenden Christus geht das Gedicht zu den Sternen über (HIMMLISCHE MARKER), die der ‚christlichen‘ Seefahrt dienten (VG 7). Diese Handelschifffahrt beförderte auch -mitleidlos- 487 Stück Sklaven (VG 7 und 8). Diese Sklaven wurden nicht wahrgenommen (s. den fehlenden Vers 35); sie gehörten wie die modernen 17-Cent-Bangaldeshis zu den Humanressourcen des Kapitals (VG 9).
 
 

WER POREN HAT

 
Pelzmäntel
jaja schon gut no go
Heilige Tränendrüse nur
Wozu eigentlich diese Fellfurzer sonst
Da auch ihr Schöpfer selbst einst
aber was tuts

5Sowieso klar stehen wir auf Cotton
Sandstrahl
und statt in der Furcht

Des Herrn auf
Duzfuß
mit
Primark
doch
 
Dünnhäutig
noch in Hosen

Bleibt Haut die in jeder Sekunde durch-
10Schlagen ein Zentimeterquadrat
Rund sechzig Milliarden NEUTRINOS
 
Von
Fremdschmerz
einmal zu schweigen

Der aktiviert wie man sagt
Durch schiere Gegenwart HIRNREGIONEN
15Dieselben als wär es ein eigner
 
Und
Traumpfadverwobene
gar

Schicksale sollen sie fern wohnender
Vettern im Inneren zeitgleich
Einer vom andern erfahren
 
20
Lebensflut

Meiner Glieder Woge die steigt
Und fällt fühl mir das Herz der Brüder wie es ihr
Leid erzählt ja ein absolut
 
Selbstloses Selbst

25Wunden der Welt würde es totalisiert
Aufnehmen bis seine Liebe
Sternensphären noch überwölbt
 
HIMMLISCHE MARKER
für Seekarten

Welche samt allerlei Fischen und Schiffstypen
30
Augustin Osmond
wachsam

Als Zeichner festhielt auf seiner Meerfahrt
 
Nicht aber einen einzigen jener
Vierhundertsiebenundachtzig
Stück Sklaven im Schiffsbauch
35
 
 
Was heute wir
lückenlos
aufklären

Durch Funk und TV-Besuch
Zum Beispiel die 17-Cent-Bangladeshis
Notlicht
auf Null dazu eine Spur
40Rauch die sie hochschreckt
Und raus aus den Löchern das spillrige Rudel
Faulpelze
hui quieken die feigen Säcke!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Wer Ohren hat, der höre (Matth. 11,15). Das abgewandelte Bibelzitat kann als Aufforderung an die Menschen verstanden werden, Mitleid mit allen Lebenwesen zu empfinden. Die Haut (v.9) wird hier als größtes Organ verstanden, deren POREN die Türen der sinnlichen und der transzendenten Wahrnehmung sind.
 
v.1ff Pelzmäntel … / … selbst einst: Scheinbare Ironisierung einer Haltung, die das Tragen von Pelzen ablehnt. Diese Haltung wird lächerlich gemacht (Heilige Tränendrüse), indem darauf verwiesen wird, dass selbst der Schöpfer der Tiere, „Gott der Herr … Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen“ (Gen.3,21) machte.
 
v.4ff aber was tuts / … Duzfuß mit Primark: Das Konsumverhalten des modernen Menschen ersetzt den Pelzmantel durch die ‚gesandstrahlte‘ Jeans (aus Cotton). Der Geiz überwindet das eigentlich in der Religion (Furcht / des Herrn) gebotene Mitleid: Es wird die Billigmarke Primark gekauft (vgl. dazu v. 38ff).
 
v.6 Sandstrahl: Das in Mode gekommene Bearbeiten von Jeans mit Sandstrahlen birgt für die Arbeiter ein besonderes Gesundheitsrisiko (aber was tuts v.4).
 
v.7 Duzfuß: Jemanden duzen, freundschaftlich mit jemandem umgehen.
 
v.7 Primark: Billige Modemarke, die ihre Textilien unter kapitalistisch maximierten Bedingungen produzieren lässt.
 
v.8ff Dünnhäutig … / … NEUTRINOS: Aufgegriffen wird die physikalische Tatsache, dass sechzig Milliarden NEUTRINOS in jeder Sekunde durch einen Quadratzentimeter unserer Haut hindurchgehen. So wie wir beim Kauf und Tragen der Billigwaren deren Produktionsbedingungen nicht fühlen, so fühlen wir auch die Neutrinos nicht, obwohl sie unbemerkt durch unseren Körper rasen.
 
v.12ff Von Fremdschmerz … / … ein eigner: Hier wird auf die Spiegelneuronen des menschlichen Hirns angespielt, deren Erforschung gezeigt hat, dass sie unsere Empathiefähigkeit (Fremdschmerz) ermöglichen.
 
v.16ff Und Traumpfadverwobene … / … vom andern erfahren: ‚Traumpfade‘ ist ein kultischer Begriff der australischen Aborigines. Dabei werden Orte der australischen Geographie mit Traumzeit-Legenden verknüpft, die von der universellen, raum- und zeitlosen Welt handeln, aus der die reale Gegenwart in einem unablässigen Schöpfungsprozess hervorgeht. Auf diese Weise können die in die Traumpfade eingeweihten Vettern von den Schicksalen fern wohnender … zeitgleich … erfahren. Diese mythische Sichtweise findet ihre Parallele in dem Verschränkungskonzept der Quantenphysik, das die Aufhebung der linearen Zeitvorstellung impliziert und Non-Lokalität postuliert.
 
v.20ff Lebensflut / … Leid erzählt: Das lyrische Ich fordert sich auf, das Leid seiner Mitbrüder zu teilen. Mit dem Begriff Lebensflut wird eine Vorstellung des Seins dargestellt, die neben der Freude auch das Leid (wie Ebbe und Flut) umfasst.
 
v.23ff ja ein absolut / / Selbstloses Selbst / … noch überwölbt: Das hier beschriebene Selbst ist der als Vorbild für die Menschheit dienende Christus, der dem ‚Absoluten‘ nahe ist, ’selbstlos‘ ist, die Wunden (Sünden) der Welt auf sich nimmt und dessen Liebe den Kosmos (Sternensphären) umgreift. Vgl. dazu den Aufsatz von C.G. Jung: „Christus, ein Symbol des Selbst“.
 
v.28 HIMMLISCHE MARKER: Während in der vorhergehenden Versgruppe die Liebe als Leitstern diente (vgl. dazu Shakespeares Sonnett 116), das Leid der Welt als Mitleid auf sich zu nehmen, dienen hier die Sternbilder der Schifffahrt zur Orientierung.
 
v.30 Augustin Osmond: Augustin David Osmond war 2. Kapitän auf dem Schiff Rosalie auf der Fahrt von Afrika nach Le Havre (29.12.1788-16.6.1790). In seinem Bordtagebuch hielt er in Zeichnungen allerlei Fische(…) und Schiffstypen fest. Die im Schiffsbauch (v.34) transporierten Vierhundertsiebenundachtzig / Stück Sklaven (v.33f) zeichnete und erwähnte er -mitleidlos- nicht. Dies entspricht dem fehlenden Vers 35 (!) in der 8. Versgruppe.
 
v.36 lückenlos: ironischer Rückverweis: Das Gedicht ist keineswegs lückenlos, das fehlende Mitleid reißt eine Lücke ins Gedicht.
 
v.36ff Was heute … / … 17-Cent-Bangladeshis: Die Aufklärungsfunktion der Medien (Funk und TV-Besuch) wird einerseits ironisiert (lückenlos), anderseits kritisiert, da das Leid der Bangladeshis durch die Aufklärung nicht direkt verhindert wird. In Bangladesh arbeiteten Textilarbeiter für einen Stundenlohn von 17 Cent. Am 23.04.2013 stürzte in Bangladesh der Rana-Plaza-Komplex mit mehreren Fabriken ein. Dabei kamen 1138 Arbeiter ums Leben. (Eine weitere Gefahrenquelle sind zahlreiche Brände: Zwischen 2006 und 2012 starben mindestens 579 Arbeiter bei Hunderten Bränden in Textilfabriken.)
 
v.39ff Notlicht … / … feigen Säcke: Zynische Perspektive des Kapitals auf die Humanressourcen (das spillrige Rudel, Faulpelze, die feigen Säcke). Die Warnmechnismen waren in den Fabriken abgeschaltet (Notlicht auf Null); bei sich bereits zeigenden Rissen in den Decken wurden die ins Freie geflüchteten Arbeiter zurück in die Fabriken getrieben.
 
v.42 Faulpelze: Rückbezug zu Pelzmäntel (v.1)