Bresche

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Der Tod als Übergang in die Transzendenz
 
Versgruppe 1 verbindet die Individuierung des Menschen mit seinem Tod. Angespielt wird auf die Paradies-Erzählung, in der durch die Schlange der Tod in die Welt kommt. Mit dem Heraufdämmern des Todes (VG 2) wird dem Menschen seine Trennung von der Transzendenz bewusst (Wundbrände). VG 3 vergleicht den Menschen mit einem reifenden Korn und mit einem Kometen, der sich in Sonnennähe in Staub auflöst (in die Transzendenz eingeht). Das Fortleben nach dem Tode wird in der Metapher des untergehenden Lebensschiffes dargestellt, das trotz Schiffbruch kieloben weiterfährt (Kursiva).
 
 

BRESCHE

 
Das
Stirnhirn
als
Sperren-

Bauwerk wo
Schlangen
entsorgte
Baumschlangen einbrachen
Baumschlangenköpfe: und ziehen dass er
5
Heraufdämmert Schmerz
hinter sich her
 
Dies Schiff schon schlug es leck −

 
Aurora der Totenplantagen
die
Werfen
mit Halbschatten nun
Wundbrände
10Wo eine Stelle fehlt
Unter den Rippenbögen
 
Wie strömt herein das Meer −

 
Staub
Korn um Korn endlich
Zu Sonnennähe hinaufgereift ein
15Komet: der atemporös
Stirbt er in seinen
Scheitel
aus
Schauern

 
Das Meer voll Himmel wo erschreckt

Mein Schiff kieloben − fährt
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Die Bresche (der Durchbruch in einem Sperren- / Bauwerk bzw. das Leck in einem Schiff) öffnet den Weg in die Transzendenz.
 
v.1 Stirnhirn: Das Stirnhirn gilt allgemein als Sitz der individuellen Persönlichkeit und des Sozialverhaltens.
 
v.1f Sperren- / Bauwerk: In der Wasserwirtschaft Bezeichnung für eine Talsperre. Hier scheint das Stirnhirn die Sperre zwischen Transzendenz (Wasser / Paradies) und Immanenz (Land / Leben des Individuums) zu bilden.
 
v.2 Schlangen: Angespielt wird auf die Schlange des Paradieses. Die Baumschlangen verweisen auch auf den Baum der Erkenntnis. Dass die Schlangen hier als entsorgte bezeichnet werden, kann als Indiz dafür genommen werden, dass in der Moderne die Sünde ‚entsorgt‘ worden ist. Die Betonung der -köpfe der dreifach genannten Schlangen legt nahe, den Grund der ‚Sünde‘ in der Rationalität bzw. der Individuierung (s. zu v.1 Stirnhirn) zu sehen.
 
v.5 Heraufdämmert Schmerz: Mit der ‚Vertreibung aus dem Paradies‘ ist die menschliche Existenz von Schmerz und Tod geprägt.
 
v.6: Das Schiff ist die traditionelle Metapher für das Leben und das ‚Leck-Schlagen‘ steht für seinen Untergang, den Tod.
 
v.7 Aurora der Totenplantagen: Die ‚Vertreibung aus dem Paradies‘ ist die Morgendämmerung (Aurora), seit der der Tod die Mensch erntet wie ‚Korn‘ auf Plantagen.
 
v.8ff: Die Halbschatten verweisen auf den Tod bzw. die Unterwelt; sie sind ‚halb‘, weil ihnen zur Vollständigkeit ihre andere Hälfte, hier die Frau, die Gott aus der Rippe schuf, fehlt. Dieses Narrativ scheint verschränkt zu sein mit dem Mythos des platonischen Kugelmenschen, der von Zeus zerteilt wird. Die Wundbrände zeugen von der Unvollständigkeit, der Transzendenzferne.
 
v.12: Hier ist das Meer Metapher für die Transzendenz.
 
v.13ff: Angespielt wird auf Gen. 3,19 „Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.“ Im Gegensatz zum fruchtragenden Samenkorn ist das Staubkorn eine Metapher für die Vergänglichkeit des Menschen. Wenn der Mensch endlich sein Ende erreicht, nähert er sich der Transzendenz (Sonnennähe). Er ist einem Komet vergleichbar, dessen Bahn um die Sonne läuft.
 
v.17 Scheitel: Das Periphel (Periapsis) ist der Scheitel in der Umlaufbahn eines Himmelskörpers mit der geringsten Entfernung zum Zentralkörper. (Apoapsis ist der Scheitel in der Umlaufbahn eines Himmelskörpers mit der größten Entfernung zum Zentralkörper.)
 
v.17 Schauern: Durch das Verdampfen von Eis verliert das Gestein des Kometenkerns seinen Zusammenhalt (er wird -porös) und der Komet löst sich durch allmähliche Verteilung der Teilchen längs ihrer ursprünglichen Bahn auf. Letzteres ist die Ursache der meisten Sternschnuppenschwärme.
 
v.18f: Im Moment des Todes (des Schiffbruchs, s. zu v.6) verkehrt sich die Ordnung der Welt: Trotz des Schiffbruchs fährt das Schiff kieloben weiter (Metapher für ein Leben nach dem Tode), Himmel und Meer verschmelzen.