Langfristig

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Die Immunisierungstrategien gegen die Vergänglichkeit des Menschen sind sowohl in den mythischen Projekten als auch in den wissenschaftlichen Unternehmungen (Raumfahrt, Erforschung der Hintergrundsstrahlung) zu finden. Die Poesie transformiert die Arbeit an der Unsterblichkeit ins Gedicht.
 
Die Versgruppe 1 schildert das Grab des modernen Menschen; seine Individualität verschwindet mit dem Tod; er hat keine Hoffnung auf eine Himmelfahrt. Dagegen imitierte der chinesische Kaiser Quin in seinem Grabmal den Himmel für sein Leben nach dem Tod (VG 2). Die Hindu-Weisen aber nehmen schon im diesseitigen Leben den Himmel, den Kosmos, durch Atmen in sich auf (VG 3). Auch nach moderner Auffassung bestehen wir alle aus kosmischen ‚Staub‘, sodass in jeder FLEISCHFASER Reste der Hintergrundsstrahlung identifizierbar sind (VG 4). Das lyrische Ich parallelisiert unsere Abstammung aus dem Kosmos mit den ‚Helden der Vorzeit‘, die für ihn die Quelle der Inspiration waren (VG 5). Sowohl dem Mythos (dem goldenen Vlies der Argonautensage) als auch der Raumfahrt liegt eine Sakrale Erwartungstruktur zu Grunde, beide streben nach Erkenntnis des Ursprungs (VG 6, 7). Während aber durch die Technik (das ‚hochgehaltene‘ Handy) keine Verbindung zum Ursprung, der Transzendenz, herstellbar ist, ist dies im Brausen der Eichhaine zu vernehmen und wird im Gedicht (Blättergeraschel) eingefangen (VG 8, 9).
 
 

LANGFRISTIG

 
Kreuz
nun und quer
über die
unkartierte

Grünfläche hin
ein Grashalm

Genau wie der andere so sind wir
Bald entdifferenziert
und unsere schwankende
5
Himmelfahrt
handbreit wird sie

Über dem Nullniveau anhalten
Und
trüber Maulwürfe Höllentrichtern

 
Qin Shihuangdi
fromm

Die eigene Grabeshalle
10Sternbilderüberspannend ließ er
Ihn imitieren den
Götterraum

 
Welchen die
Hindu-Weisen

Wenn sie die Augen schließen
Ausgreifend mit langsamem
15Atem sich einverleiben
 
Wie denn der Welthintergrund

In jeder FLEISCHFASER
Identifizierbar Reste abstrahlt von
Frühfeuer die wunderbar
 
20
Heil euch der Vorzeit

Helden die mir das Herz berührt und
Einst dem so Erwählten die
Knabenhand geführt hindeutend
 
Aufs Vlies das goldene

25
Traumtelos
der Astronauten wenn sie

In STAHLTRANSPORTTONNEN
Hoffen sie Schöpfungsmörtel zu holen
 
Sakraler Erwartungsstruktur

KLOBIGE KONSTRUKTION

30High-Tech-Verschraubung
Pneumatischer Streben
denn vor

 
Jahrzehnten
die damals profane

Schweine
nur glaubten

Nun staunen sie übers prophetische
35
Brausen der Eichhaine

 
Das wenn wir
es hoch halten

Hier unser Handy mit
Inlet

Aus
Tarnkappenmetall
das äonenlang

Unspektakulär in der Erde
40
Im Licht aber
avanciert es mit vertikaler

Geburtshilfe uneingeschränkt
Hören Sie? Nein? Blättergeraschel!

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Das kurze Leben des Menschen ist in einen kosmischen, d.h. ‚langfristigen‘ Zusammenhang eingebunden.
 
v.1ff: Die erste Versgruppe beschreibt die Situation der modernen Menschen: Jedes Individuum ist dem Tod anheimgegeben; die ehemalige Hoffnung auf Rückkehr zum Schöpfer ist fast auf Null reduziert.
 
v.1 Kreuz nun und quer: Das evozierte Durcheinander (‚kreuz und quer‘) wird durch die Einfügung des nun zu einem Hinweis darauf, dass die Hoffnung auf Auferstehung (hier symbolisiert durch das Kreuz) für den modernen Menschen verloren ist.
 
v.1 unkartiert: nicht vermessen, orientierungslos
 
v.2 ein Grashalm: Angespielt wird auf den Teil II des Brahms’schen Requiems: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, der sich auf 1 Petrus 1.24 bezieht: Denn „alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen“.
 
v.4 Bald entdifferenziert: Mit dem Tode endet die Individualität und einer ist Genau wie der andere (v.3).
 
v.4f schwankende / Himmelfahrt: Die christliche Hoffnung auf Auferstehung und Himmelfahrt wird durch das schwankende ironisiert und für den modernen Menschen handbreit (v.5) Über dem Nullniveau (v.6) angehalten.
 
v.7 trüber Maulwürfe Höllentrichtern: Gedacht werden kann an die Höllendarstellungen von Hieronymus Bosch oder an das Inferno Dantes.
 
v.8ff Qin Shi Huang Di (* 259 v. Chr.; † 210 v. Chr.) war der Gründer des chinesischen Kaiserreiches. Er ließ sich ein Grabmal mit der sogenannten Terrakottaarmee errichten. Der Historiker Sima Qian beschrieb die Grabhalle Qin Shihuangdis folgendermaßen: Der Erste Kaiser „ließ den Gelben Fluss, den Jangtse und die Ozeane aus Quecksilber nachbilden. Die Decke wurde von den Konstellationen des Himmels geschmückt, der Boden mit einer Darstellung des Landes.“
 
v.11 Götterraum: i.e. das Universum bzw. die göttliche Ordnung
 
v.12ff: Im Hinduismus bezeichnet ‚Brahman‘ die allem innewohnende Weltseele und ‚Atman‘ das Einzelne, das Individuum (repräsentiert durch den Atem). Beide werden als Wesenseinheit begriffen, sie sind das wahre Wesen der Welt. Gleichzeitig gibt es die Mythe, dass der Gott Brahma die Welt durch Ausatmen geschaffen habe. Vermutlich zieht diese Versgruppe beide Konzepte zum Bild des Einverleibens des Universums durch das Einatmen der Hindu-Weisen zusammen.
 
v.16ff: Die allem Lebendigem (FLEISCHFASER) innewohnende Weltseele wird hier als Welthintergrund mit dem Urknall (Frühfeuer) identifiziert. Die ’strahlenden‘ Reste sind sowohl die kosmische Hintergrundsstrahlung (des Urknalls) als auch die noch existierenden religiösen Schöpfungsmythen.
 
v.20ff: Das lyrische Ich bezeichnet sich als Erwählten, weil ihm in der Kindheit die Mythen (der Vorzeit / Helden) das Herz berührt haben. Für das Individuum bilden diese Vorzeit-Erzählungen eine Parallele zu dem in der vorhergehenden Versgruppe erwähnten Welthintergrund und dem Urknall. Aus dieser Berührung in der Jugend geht das Gedicht (die / Knabenhand geführt) hervor.
 
v.24ff: Vergleichbar der Suche der Argonauten mit der Argo nach dem goldenen Vlies (s. z.B. Die Argonautika des Apollonios von Rhodos) ist die Suche der Astronauten in ihren Raketen (STAHLTRANSPORTTONNEN) nach dem Schöpfungsmörtel, i.e. nach Elementen, die wunderbar (v.19) auf den Urknall ‚hindeuten‘ (v.23).
 
v.25 Traumtelos: i.e. ‚Traumziel‘
 
v.28 Sakraler Erwartungsstruktur: Den Erwartungen, die sich heute auf die technische Eroberung des Weltalls beziehen, liegen die heilsgeschichtlichen (’sakralen‘) Endzeitmythen zu Grunde.
 
v.29f: Beschreibung der Technik von Raketen
 
v.29ff: Die nicht in einen Satzzusammenhang eingefügten drei Konstruktionsbeschreibungen von Raketen verdeutlichen die ‚Unverbundenheit‘ der modernen Technik.
 
v.30 Pneumatischer Streben: Der Begriff setzt einerseits die Raketenbeschreibung fort, verweist aber andererseits auf das Streben des Menschen ins Unendliche, zum Schöpfungsmörtel, zum ‚Pneuma‘.
 
v.30f vor / Jahrzehnten: i.e. in den 60er / 70er Jahren zu Beginn der Raumfahrt
 
v.31f profane / Schweine: Gegensatz zum heiligen Widder des goldenen Vlieses (v.24f). Am Beginn der Raumfahrt glaubte man noch an den Siegeszug der Technik.
 
v.34f prophetische / Brausen der Eichhaine: Haine sind in vielen alten Kulturen heilige Orte, in denen eine Gottheit wohnt und wo Prophezeihungen eingeholt wurden. Das goldene Vlies (v.24f) hing in einem Hain an einer Eiche. Gleichzeitig ist an das Brausen von Raketentriebwerken zu denken, über das die Technikbegeisterten staunten. Das Brausen bezieht sich auch auf die Ankunft des Heiligen Geistes (z.B. im Kirchenlied ‚Komm, Heilger Geist, im Sturmgebraus‘).
 
v.36f es hoch halten / Hier unser Handy: Der technische Kultgegenstand Handy wird ‚hoch gehalten‘, also fast mit einer sakralen Wertschätzung (‚hoch und heilig‘) versehen. Gleichzeitig zeigt das ‚Hochhalten‘ die Bemühung um Empfang an, auch wenn es hier oberflächlich nicht um den Kontakt zur Transzendenz zu gehen scheint.
 
v.37 inlet: engl. Bezeichnung für ein eingelegtes Stück oder Material. Hier die seltenen Erden, die in Handys verarbeitet werden.
 
v.38f: Die seltenen Erden (Tarnkappenmetall) stammen wie alle höheren Elemente (wie z.B. Lithium) aus Sternexplosionen. Diese erfolgten bereits vor Entstehung der Erde (vor ‚Äonen‘). Aus den Resten der Explosionen und aus den Elementen, die beim Urknall entstanden (Wasserstoff und Helium), hat sich unsere Erde gebildet.
 
v.38 Tarnkappenmetall: Angespielt wird auf die Tarnkappe im Nibelungen-Mythos. Dort wird die Person des Kappenträgers verborgen, hier wird -mit Bezug auf die seltenen Erden- die Herkunft aus Sternexplosionen verschleiert.
 
v.40f: Die technische Nutzung der seltenen Erden führt in der Raumfahrt zum Vordringen in den Raum und mit dem Handy zur Ausweitung der Kommunikation. Das Tarnkappenmetall -ans Licht gebracht- avanciert (steigt empor) mit vertikaler Geburtshilfe (hochgehaltenes Handy, Rakete) in den Weltraum. Auf der mythischen Ebene bezeugen die Elemente unsere Herkunft aus dem Ursprung (Urknall bzw. Schöpfung).
 
v.42: Der Leser wird gefragt, ob er (mit seinem Handy) etwas hört: Die erste Antwort ist Nein, sie wird aber in Frage gestellt und die eigentliche Antwort ist Blättergeraschel! Blättergeraschel bezieht sich auf das Brausen der Eichhaine (v.35) und natürlich poetologisch auf das auf Blätter geschriebene Gedicht.