Kontaktgeschehen

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Der verlorene, der rudimentäre und der erhoffte Kontakt zur Transzendenz
 
VG 1 konstatiert mit Hilfe der Astronomie einen verlorenen Kontakt zur Transzendenz, VG 2 schildert mit Hilfe der Geologie Wärmereste der Transzendenz im Erdinneren und VG 3 findet den Schatten der Transzendenz im Lauf der Venusbahn am Himmel. Während in den drei Versgruppen die rudimentären Kontakte von der Transzendenz auszugehen scheinen, zeigen die Kursiva den Versuch des lyrischen Ich, mit Hilfe eines Saiteninstruments (bzw. des Gedichtes) den Kontakt seinerseits herzustellen.
 
 

KONTAKTGESCHEHEN

 
Fernebenenvermessung

Durch
aneinandergefügter Spiegel

Mehrfachreflexion
Und
ereignisverlassen

5
Mondproben oder ein Meteoreisen

 
Sieben Metalle der Seele −

 
Nächtlich
durch
Schwächezonen

Von
aufgeschlossenen Formen

Noch
Wärmefluss

10Wie aus
Primärregionen

Groß ruhenden Sommergrunds

 
Spannt die Schwere zu Saiten −

 
Doch wo der
Morgenstern

Kreisend durchs Jahr
geht
15Entwirft sich die Frührose
Ihrer konstanten Gestalt

Blutroten Schatten
 
Löst euch ihr Saiten in Wellen

Die das Metall überschreiten
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Kontaktgeschehen nennt man in der Gestalttherapie alles, was an der Grenze zwischen einem Individuum und seiner Umwelt passiert. Im Gedicht geht es um die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz.
 
v.1 Fernebenenvermessung: Das Kompositum besteht aus einem technischen Begriff (vermessung) und einem aus der projektiven Geometrie (Fernebenen). Die projektive Geometrie ist aus der perspektivischen Darstellung dreidimensionaler Gegenstände in der zweidimensionalen Ebene hervorgegangen. Vergleichbar damit ist eine Darstellung der Transzendenz in der Immanenz.
 
v.2f: Beschreibung eines Spiegelteleskops, das hier die Fernebenen reflektiert. Auf der übertragenen Ebene kann das Gedicht ein Spiegel sein, der die Transzendenz reflektiert.
 
v.4 ereignisverlassen: Philosophiegeschichtlich wird das Ereignis als eine unberechenbare, unlogische Singularität definiert (z.B. bei A. Badiou). Es kann auch als Eintritt der Transzendenz in die Immanenz verstanden werden (z.B. der Opfertod Christi); ereignisverlassen würde dann die Tranzendenz-lose Gegenwart charakterisieren.
 
v.5: Sowohl in den Proben, die die Astronauten vom Mond mitgebracht haben, als auch in den Meteoren, die vom Himmel gefallen sind, ist nur wissenschaftlich Messbares, aber nichts Transzendentes zu finden. Das Meteoreisen stellt den Übergang zu v.6, zu den ‚Metallen der Seele‘ her.
 
v.6: Angespielt wird auf die sieben Planeten, denen von alters her jeweils ein Metall zugeordnet wurde. Die Umwandlung eines bestimmten Metalls in ein anderes steht in der Alchemie für die Entwicklung des Menschen, d. h. für seelische Prozesse.
 
v.7 Nächtlich: Die Nacht ist traditionell eine Metapher für die Götterferne. Hier in Analogie zu ereignisverlassen (vgl. zu v.4).
 
v.7 Schwächezonen: Eine tektonische Schwächezone ist meistens eine steil liegende Struktur der Erdkruste, die eine geringere Festigkeit hat als die Umgebung und deswegen noch durchlässig ist für Wärmefluss (vgl. zu v.9).
 
v.8 aufgeschlossenen Formen: Ein ‚Aufschluss‘ ist eine Stelle an der Erdoberfläche, an der Gestein unverhüllt zu Tage tritt. So wie das Gestein Wärmefluss transportieren kann, so kann die Form eines Gedichtes Transzendentes aufschließen.
 
v.9 Wärmefluss: Physikalische Größe. Die Wärmeenergie fließt von selbst immer vom Bereich mit der höheren zum Bereich mit der niedrigeren Temperatur.
 
v.10 Primärregionen: Die Ethnologie versteht unter einer ‚Primärregion‘ das Kern- und Ursprungsland eines Brauches (z.B. das Gebiet südlich der Loire bis zur Garonne für die Entstehung des Martinskultes).
 
v.11: Der ‚Sommergrund‘ ist mit seiner Verbindung zur Wärme und zum Ursprung (‚Grund‘) eine Metapher für die Transzendenz. Dieser wird die Eigenschaft des Groß ruhenden zugesprochen, wobei beide Nuancen der ‚Ruhe‘ zu lesen sind: Einerseits das In-sich-Ruhen und andererseits das Nicht-aktiv-Sein.
 
v.12: Die Schwere der Metalle (v.6) soll zu den klingenden Saiten eines Musikinstruments gespannt werden.
 
v.13 Morgenstern: i.e. der Planet Venus
 
v.14f: Der Zyklus der Venusbahn ähnelt von der Erde aus gesehen einer Rosenblüte. Traditionell ist die Rosenblüte ein Symbol für die Transzendenz. Angespielt wird auch auf die Rose in der Tradition der Liebeslyrik; auf die poetologische Ebene weist auch das Verb Entwirft hin. Mit Früh wird auf die Transzendenz als den Ursprung des Seins hingewiesen.
 
v.16f: Von der konstanten Gestalt (platonische Idee) der Frührose sehen wir nur den Blutroten Schatten (das im Diesseits sichtbare Spiegelbild). Möglich ist, im Blutroten Schatten die Liebe, das Abbild der konstanten Gestalt zu sehen.
 
v.18f: Beschrieben wird der physikalische Vorgang der Erzeugung von Tönen durch Schwingung von Metallsaiten. So wie in der Musik der Übergang von Materiellem zu Immateriellem hörbar wird, so überschreitet das Gedicht die Immanenz, indem es die Transzendenz beschwört. Das Löst deutet einerseits auf eine ‚Auflösung‘ der Schwere hin, andererseits auf die ‚Erlösung‘ durch das Gedicht. Das überschreiten erinnert an Rilkes Gedicht „Errichtet keinen Denkstein.“ (Sonette an Orpheus 1.Teil V).