Lotus enthüllt

Überblickskommentar:
 
 
Grundgedanke: Sexuelle Lust als Möglichkeit, durch Zeugung an der Schöpfung teilzuhaben / der Transzendenz zu begegnen
 
 
Von der körperlichen Liebe, die einer Sekretärin zu bessererem Arbeiten verhilft (VG 1), geht das Gedicht zum Diamant, der durch Zusätze (DOTIERUNG) über sich selbst hinaus kann (VG 2f), um dann Bill Hamilton zu erwähnen, den Käferforscher, der in seinem Tod zu seinen geliebten Käfern verwandelt werden wollte (VG 3f). In VG 4 und VG 6 wird ein Bild Andrea Sacchis betrachtet, auf dem die rechte Hand des Kastraten Marcantonio Pasquilini mit dem Geschlecht des Gottes Apoll zu spielen scheint. Eingeschoben ist die VG 5, in der das lyrische Ich den Gott Apoll bittet, ihn in der ‚Zeugungsmitte‘ berühren zu dürfen. Auf das Resümee des Gedichtes (Kunstdinge scheint es exorbitante / Schönheit erlangen sie nicht ohne Lüste v.27f) folgt eine Betrachtung der Feldtheorie (VG 7), derzufolge Störungen (Schmutzeffekt) zur Entstehung (auch des Universums) nötig sind, und in VG 8 ein Kommentar zu Leibniz, dessen Philosophie zufolge Gott das Universum aus dem Nichts zur ‚besten aller möglichen Welten‘ geschaffen habe. Von der ‚Aufnahmefähigkeit‘ des Universums für göttliche Vollkommenheit geht das Gedicht mit der VG 9 zurück zur körperlichen Liebe, zur Aufnahmefähigkeit und -willigkeit eines Exknackis und des Hurentattoos auf seinem Rücken.
 
 

LOTUS ENTHÜLLT

 
Denn Schreibtisch
ist alltagspraktisch
Weil erstens genau hüfthoch
Und hart ist total funktional
Damit sie danach sofort
5Wofür wir ja schließlich zahlen
Desto
gebutterter
weitertippt grandiose

Zehnfingerartistik durch Zusatzfaktor
 
Sogar Diamant

Autistisch eingeschlossener
10Geist im Kristall
Auch der über sich selbst kann der
 
Hinaus kann er nur durch
DOTIERUNG

Hinaus wie
Bill Hamilton
der seinen
Balg

Durchstößt und
auf ewige Tage

15In
Urwaldwundern herumschwirrt

 
Deckflügelglanzprangend
Durch
KOPROPHAGIE

Feinsinniger schon
Sacchis
reichlich

Ambiguoses Arrangement
Ambiguoses Arrangement
 
20
Du schöner Gott
gib

Mir das Recht dort wo du zeugst dich
Anzurühren bis es die
Augenäpfel
spüren und

Was dein Aug ist mein Geschlecht Schönheitsliebe
 
Des Virtuosen
der schräg die Kastratenhand

25Zum Cembalospiel an Apoll hinunter-
Führt wie verlockt zu frivolem Ballspiel
Kunstdinge scheint es exorbitante
 
Schönheit erlangen sie nicht ohne Lüste
Wie eingedenk dass jedwedes Gebilde
30In eines
KONTINUIERLICHEN FELDS

Tiefenbezirk Schmutzeffekt
ist

 
Gott nämlich
Leibniz
bezeugts Gott wandte

Vollkommenheit an seine weltlichen
Kurzkreationen
so viel wie das Universum

35Davon aufnehmen kann
 
Wobei wir schlagartig
an vielfache
Bierkästen denken die dieser kernige
Exknacki freitags zu uns
herauf auf
sich aufpackt

Direkt aufs Huren-Tattoo und wieviel falls der mal gefällig
40Hinaus über sich für gut Trinkgeld wieviel dann
Sein Universalweib von unserer mordsmäßigen
Vollkommenheit aufnehmen kann
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der Lotus ist im Buddhismus ein Sinnbild für Reinheit, Treue, Schöpferkraft und Erleuchtung. Die ‚Enthüllung des Lotus‘ entspricht der Entschleierung der Maya, beides offenbart die spirituelle Welt. Natürlich ist bei ‚Enthüllung‘ auch die sexuelle Ebene mitzudenken.
 
v.1ff: Das hier in Fragmente zerstückelte Narrativ handelt von einem Geschlechtsverkehr (hüfthoch / Und hart (v.2f)) auf dem Schreibtisch zwischen einer Sekretärin (weitertippt (v.6), Zehnfingerartistik (v.7)) und ihrem Chef (v.5). Auf der poetologischen Ebene (Schreibtisch (v.1)) bezieht sich dieses Narrativ auf einen ‚von der Muse geküssten‘ (Zusatzfaktor (v.7)) Dichter (-artistik (v.7)).
 
v.6 gebutterter: Der Begriff lässt an den Film „Der letzte Tango in Paris“ denken, in dem Marlon Brandon und Maria Schneider den Analverkehr mit Butter vollziehen.
 
v.8ff: Der Diamant setzt sich aus kristallinen Strukturen, aus Tetraedern zusammen, den kleinsten der platonischen Körper, aus denen (nach Platon) das Universum (Materie und Geist) besteht. Das lyrische Ich bezeichnet den Geist hier als Autistisch ‚eingeschlossen‘, weil ihm zur Befreiung die Liebe, i.e. die DOTIERUNG, die Leitfähigkeit (s. zu v.12) fehlt.
 
v.12 DOTIERUNG: Eine Dotierung bezeichnet in der Halbleitertechnik das Einbringen von Fremdatomen in eine Schicht oder in das Grundmaterial eines Schaltkreises. Diamant (v.8) kann durch Zusatz von Bor, Phosphor oder Stickstoff leitfähig gemacht werden und als Halbleiter oder sogar als Supraleiter fungieren, d.h., er erhält die Leitfähigkeit zur Kommunikation.
 
v.13 Bill Hamilton: William Donald („Bill“) Hamiton (1936-2000), engl. Evolutionsbiologe. Er stellte sich in einem Essay („My intended burial“) vor, dass er nach seinem Tode in Brasilien im Dschungel so bestattet werden wolle, dass er von seiner geliebten Käferart „Coprophanaeus“ zersetzt und aufgenommen würde, um so dem Tode zu entkommen (bzw. in den evolutionären Kreislauf einzugehen).
 
v.13 Balg: die leere Hauthülle, die nach der Zersetzung durch die Käfer bleibt.
 
v.14 auf ewige Tage: Hier ist nicht nur an ein Eingehen in den evolutionären Kreislauf gedacht, sondern auch an eine spirituelle Ebene.
 
v.15f In Urwaldwundern herumschwirrt / Deckflügelglanzprangend: Hamilton entwirft in seinem Essay eine Vision, in der er als Käferschwarm und gleichzeitig als einzelner Käfer durch die brasilianische Wildnis, In Urwaldwundern herumschwirrt, Flügel an Flügel, mit glänzenden Deckflügeln. (Hamiltion: „I will be many, buzz even as a swarm … lofted under those beautiful and un-fused elytra [Deckflügel]. … So finally I too will shine like a violet ground beetle under a stone.“)
 
v.17 KOPROPHAGIE: Als Koprophagie wird der Verzehr von Kot bezeichnet. Zu den Koprophagen gehören u.a. die Mistkäfer und der ägyptische Scarabaeus, der im Alten Ägypten als Symbol für die Auferstehung und für den Kreislauf der Sonne galt.
 
v.18 Sacchis: Andrea Sacchi (*1599; † 1661), italienischer Maler des barocken Klassizismus.
 
v.19 Ambiguoses Arrangement: ‚ambiguos‘ i.e. zweideutig. Das Arrangement verweist auf ein Bild von Andrea Sacchi, das in v.23ff beschrieben und gedeutet wird.
 
v.20ff: Das lyrische Ich bittet den Gott Apoll, ihn in der ‚Zeugungsmitte‘ berühren zu dürfen. Es begründet den Wunsch damit, dass durch diese Berührung die Schöpfungskraft in ihm gezeugt wird. Angespielt wird auf ein Bild von Andrea Sacchi (vgl. zu v.23ff) und auf Rilkes Sonett „Archaischer Torso Apollos“, in dem die „Mitte, die die Zeugung trug“ (‚Archaischer Torso‘ v.8), als Energiepunkt der Transformation des lyrischen Ich dient.
 
v.22 Augenäpfel: Auch die Augenäpfel verweisen auf Rilkes Gedicht (‚Archaischer Torso‘ v.1f: „… sein unerhörtes Haupt / darin die Augenäpfel reiften.“). Das Kunstwerk ’sieht‘ seinen Betrachter und verursacht dessen Transformation (‚Archaischer Torso‘ v.13f: „denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“).
 
v.23ff Schönheitsliebe / Des Virtuosen … / … / … zu frivolem Ballspiel: Andrea Sacchi hat 1641 ein Bild gemalt, das den Kastraten Marcantonio Pasquilini zeigt, wie er von Apoll mit Lorbeer bekränzt wird. Die rechte Hand des Kastraten spielt zwar auf den Tasten eine Cembalos, scheint sich aber dem Geschlecht des Gottes verführerisch (verlockt zu frivolem Ballspiel v.25) zu nähern. Den Kommentar dazu bringen die beiden Verse 27 und 28.
 
v.30 KONTINUIERLICHEN FELDS: In der Physik beschreibt ein ‚Feld‘ die räumliche Verteilung einer physikalischen Größe. In der Quantenfeldtheorie ist das Feld der fundamentale Begriff, aus dem alle Eigenschaften der Materie und Kräfte entwickelt werden. Bestimmte Pänomene der Quantentheorie wie z.B. die Non-Lokalität und die Verschränkung zwingen zur Annahme eines omnipräsenten, KONTINUIERLICHEN FELDS.
 
v.31 Tiefenbezirk Schmutzeffekt: Beide Begriffe sind hier sowohl positiv als auch negativ zu sehen: Die Tiefe einerseits als Untiefe (und damit als Gefahrenquelle), andererseits als Gegenbegriff zur Oberflächlichkeit; der Schmutz einerseits als Verunreinigung, andererseits als Quelle der Schönheit (z.B. das Sandkorn, aus dem die Muschel die Perle bildet). In diesem Sinne ist auch die Lust zu verstehen, die exorbitante / Schönheit (v.27f) hervorbringt, und die KOPROPHAGIE (v.17) zu lesen, die im Scarabäus die Auferstehung verkörpert. Ebenfalls ist an die mögliche Entstehung des Universums aus einer Störung des KONTINUIERLICHEN FELDS zu denken.
 
v.32ff: Leibniz löst in seiner Philosophie das Problem der Theodizee (wie angesichts der Allgüte Gottes das Böse in die Welt kommt), indem er annimmt, dass Gott ‚die beste aller möglichen Welten‘ geschaffen habe, ein Universum, das eben auch das Negative umfasst.
 
v.34 Kurzkreationen: Der Neologismus verweist auf die begrenzte Lebensdauer des Menschen, die im Gegensatz zur Ewigkeit Gottes steht. Zugleich enthält der Begriff die heutige Sichtweise auf den Menschen als ein lediglich rationales und damit endliches Wesen.
 
v.36ff: Das Gedicht endet wie es begonnen hat: mit einem fragmentarisierten Narrativ. Und wie in VG 1 wird ein möglicher Geschlechtsverkehr beschrieben, diesmal ein Analverkehr zwischen zwei Männern. Angeknüpft wird an die Aufnahmefähigkeit des Universums (v.34f), indem das lyrische Wir (!) sich vorstellt, wieviele Bierkästen der Exknacki auf seinen Rücken nehmen könnte und ob er gegen wieviel Trinkgeld so gefällig wäre, Sein Univeralweib (i.e. das Huren-Tattoo auf seinem Rücken) die ‚Voll-Kommenheit‘ des lyrischen Wir aufnehmen zu lassen.
 
v.38f: Die Aufnahmefähigkeit des Exknackis wird durch die Häufung der Präposition auf (4x in zwei Versen) veranschaulicht.