Kontinuum

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Das lyrische Ich / der Dichter versucht mit dem Gedicht den Zusammenhang (das Kontinuum) zwischen der bunten, lichten Immanenz und der farblosen, unendlichen Transzendenz aufzudecken / herzustellen.
 
Der Dichter (Buntspecht) versucht schreibend (sein Ideogramm hackend) (VG 1) mit seinem Gedicht (Segenstür), das die Tradition einbezieht (Bildwerke / Gastgötterfragmente) (VG 2), einen Weg in die Transzendenz zu öffnen (mit Hilfe der Rose, deren dazwischen sich zur Grundhelligkeit mischt) (VG 3). Die Kursiva zeigen den Wunsch des lyrischen Ich, in die unbegrenzte, licht- und farblose Transzendenz einzugehen.
 
 

KONTINUUM

 
Buntspecht
ein
Jahrvogel

Der fast an der
Flimmergrenze

Zur Umkehrfigur des Tags
Zwanghaft
ins Blaue

5Hackt er sein
Ideogramm

 
Wo kein Strahl mehr hinreicht −

 
Blutunterwaschen
die
Bildwerke

Und um die
Segenstür
spielend
Die
Polychromie
staub-
10
Unmittelbarer Gastgötterfragmente

Filtererzeugt

 
Wo kein Ufer mehr ist −

 
Rose
entropisch

In Graupunkte zerlegt

15
Mischt was dazwischen war
− sich
Schwingkreisen
homogener
Grundhelligkeit
zu
 
Fisch
lasst
mich sein wie er leicht

Des Meeres Farbe vergisst!

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Kontinuum steht allgemein für etwas ununterbrochen oder lückenlos Zusammenhängendes, hier für den (erhofften?) Zusammenhang zwischen Immanenz und Transzendenz.
 
v.1 Buntspecht: Vermutlich ein Symbol für den Dichter, der im Diesseits, in der Sphäre des sichtbaren ‚Bunten‘, seine Gedichte schreibt (sein Ideogramm ‚hackend‘, v.5).
 
v.1 Jahrvogel: Der Buntspecht war 1997 Vogel des Jahres. Dass der Dichter als Jahrvogel bezeichnet wird, weist darauf hin, dass seine Zeit im Diesseits begrenzt ist.
 
v.2f Flimmergrenze / … des Tags: Dämmerung als der Übergang vom Tag zur Nacht (Umkehrfigur des Tags). Die Flimmergrenze bezeichnet den Moment, in dem die Wahrnehmung einzelner Töne oder Bilder sich zu einem Kontinuum zusammensetzt. Das Gedicht ist der Moment, in dem das Vereinzelte (Diskrete) der Immanenz sich in das Kontinuum der Transzendenz verwandelt.
 
v.4 Zwanghaft: verdeutlicht die Obsession, mit der der Dichter seinen Auftrag erfüllt.
 
v.4 ins Blaue: Traditionelle Metapher für die Transzendenz, auch für die Dämmerung als ‚Übergangsstunde‘.
 
v.5 Ideogramm: Begriffszeichen, Bildzeichen; ein Zeichen, welches für ganze Wörter oder Begriffe steht und somit die Grundlage einer ideographischen Schrift bildet.
 
v.6: Gemeint ist hier der Meeresbereich, in den kein Lichstrahl mehr dringt (die Tiefsee hier als Metapher für die Transzendenz).
 
v.7 Blutunterwaschen: Mögliche Anspielung auf Celans Gedicht „Kleines Wurzelgeträum“: „KLEINES WURZELGETRÄUM, das mich hier hält, / blutunterwaschen, /…“ (Lichtzwang, S.30). Der Grundgedanke dieses Gedichtes scheint zu sein: ‚Das Träumen von seiner transzendenten Herkunft hält das lyrische Ich im Diesseits lebendig‘ (=“blutunterwaschen“).
 
v.7 Bildwerke: Neben der Bedeutung ‚Figuren‘ (vgl. dazu zu v.7ff) kann auch an Photographien gedacht werden. Dafür sprechen auch mehrere Begriffe aus der Photographie in diesem Gedicht : Flimmergrenze (v.2), Umkehrfigur (v.3, Negativ / Positiv), Polychromie (v.9), Filtererzeugt (v.11), Graupunkte (v.14), Grundhelligkeit (v.17).
 
v.7ff Blutunterwaschen die Bildwerke / … / … staub- / Unmittelbarer Gastgötterfragmente: Zu Grunde liegt eine geschichtphilosophische Betrachtung religiöser Artefakte: Noch lebende ‚blutvolle‘ religöse Bilder/Figuren werden gegen vergangene ‚zu Staub gewordene‘ fragmentarisierte Götterdarstellungen gesetzt. Diese Gedanken sind bezogen auf die Betrachtung eines Kirchenportals (vgl. zu Segenstür v.8).
 
v.8 Segenstür: Eines der sieben Portale des Freiburger Münsters wird als ‚Segenstür‘ (an der Südseite) bezeichnet. Der Begriff ist vermutlich hier darüber hinaus Metapher für das Gedicht, das den Weg in die Transzendenz öffnet.
 
v.9 Polychromie: Anspielung auf bemalte Statuen, aber auch Hinweis auf die Farbigkeit, die dem Diesseits zugehörig ist („Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“ (Faust II, Eröffnungsmonolog)), im Gegensatz zur Farblosigkeit der Transzendenz.
 
v.10 Gastgötterfragmente: Auch die ehemaligen Götter waren ‚Gäste‘, die z.B. aus dem Olymp herabstiegen.
 
v.11 Filtererzeugt: In der Photographie werden Filter benutzt, um Farben leuchten zu lassen. (s. auch zu v.9).
 
v.12: Die Transzendenz wird als uferlos, als unendlich dargestellt.
 
v.13 Rose: Die Rose, die hier gemeint ist, ist ein Symbol für das Gedicht (vgl. dazu Rilke, Sonette an Orpheus 2. Teil,VI und seinen Grabspruch). So wie die Blütenblätter der Rose den Duft umschließen, so umkleiden die Verse eines Gedichtes seine verborgene Mitte.
 
v.13 entropisch: Entropie, Kunstwort aus gr. ‚an‘, bzw. ‚in‘ und tropḗ ‚Wendung‘, ‚Umkehr‘ gebildet.
 
v.14 In Graupunkte zerlegt: Die konkrete ‚Rose‘ wird im Gedicht in Schrift zerlegt, ihrer materiellen Bestandteile und ihrer Farbigkeit beraubt und in einen transzendenten Gegenstand ‚gewendet‘.
 
v.15 Mischt was dazwischen war: vgl. zu v.13 Rose
 
v.16 Schwingkreisen: Ein ‚Schwingkreis‘ ist eine resonanzfähige elektrische Schaltung.
 
v.16f Schwingkreisen homogener / Grundhelligkeit: Das poetologische Programm, die Transzendenz ins Wort zu bannen, entwickelt sich über drei Stufen: An der Flimmergrenze (v.2) verwandelt sich die Wahrnehmung des Lichtes vom farbigen Abglanz (s. zu Polychromie (v.9)) ins Blaue (v.4) des Übergangs und dann zur Monochromie der homogenen Grundhelligkeit.
 
v.18 Fisch: traditionelle Metapher für Christus. Angespielt wird auch auf die Redewendung ’sich wohlfühlen wie ein Fisch im Wasser‘ mit der Bedeutung ‚in seinem Element sein‘.
 
v.18 lasst: Es überlagern sich zwei Lesarten: Zum einen können die Leser angesprochen sein, zum anderen könnte die Transzendenz pluralisch (allumfassend) gemeint sein.
 
v.19 Des Meeres Farbe vergisst: Wunsch des lyrischen Ich, in die unbegrenzte, licht- und farblose Transzendenz einzugehen.