Verknüpfungsmuster

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Der Dichter als Insel, der mit der Pflanze des Gedichts die Transzendenz offenbart
 
Die 1.VG umschreibt das Wachsen einer Blütenpflanze aus der Erde. Damit kann die Entstehung eines Gedichtes aus dem Unbewussten verglichen werden. Die 2.VG beschreibt den Wuchsort der Pflanze: ein Steilhang auf einer Vulkaninsel. Diese Insel kann mit dem von geistiger Energie erfüllten Dichter parallelisiert werden. In der 3.VG wird mit dem Bild der Fische, die still in der Welle stehen, die Haltung des Dichters beschrieben, der im Gedenken an die verlorene Transzendenz (Wunde) auf die erlösende Inspiration wartet. Die Kursiva beschreiben die Aufgabe des Dichters: Weder Schmerz zu bringen noch Schmerz zu spüren, stattdessen sich der Transzendenz auszuliefern, sie in sich aufzunehmen und sie dann zu sagen. Die Anspielungen auf die christliche Botschaft zeigen einen verloren gegangenen Weg zur Transzendenz.
 
 

VERKNÜPFUNGSMUSTER

 
Heraldische
Blattspreiten

Hochgelbe
Blütenrispen

Gliederndes Knistern
üppigen
Glücksüberschwangs
im Gelingen dass es das
5
Sanftmutdunkel
verbraucht
 
Nicht was den Schmerz bringt !

 
Auch Vegetation
einem plutonisch
Durchstrahlten Inselkörper
Zart atmend zugemischt
10Steilflankig wo in den Eruptionskegeln
Der Glutkeil ansteigt
 
Nicht was den
Schmerz
spürt !

 
Nur Fische
mit Bernsteinblick
Die wenn sie spüren wie zwischen Wunde
15Die Spannung und Schlund
Im Salz sich zu lösen beginnt
Still stehen sie in der Welle
 
Mund muss ich sein
ein Mund der trinkt

Während das Herz getrunken wird −
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: So wie im Gedicht das Bild einer Vulkaninsel mit der Vorstellung des Dichters parallelisiert wird, so ist im Hier und Jetzt die Immanenz mit der Transzendenz verknüpft. Das Muster dieser Verknüpfung zeigt sich am deutlichsten in der Syntax der 3.VG.
 
v.1: Als ‚Blattspreite‘ bezeichnet man das Pflanzenblatt ohne seinen Stiel. Das Adjektiv ‚heraldisch‘ (abgeleitet von der Heraldik = ritterliche Wappenkunde) bezieht sich vermutlich auf den Boden, auf dem die Pflanze wächst: Lava auf einer Vulkaninsel (s. VG 2). Gemeint dürfte sein, dass die Pflanze sich unter diesen schwierigen Bedingung tapfer (= ritterlich) verhalten muss. Natürlich ähnelt das umgedrehte, ungeteilte Pflanzenblatt auch einem Schildwappen. Angespielt wird darüber hinaus auf das Papierblatt, auf das Gedichte geschrieben werden.
 
v.2: Eine Blütenrispe streckt sich der Sonne entgegen; das Adjektiv ‚hochgelb‘ identifiziert die Blüte mit der Sonne. So wie die Pflanze auf der unwirtlichen Vulkaninsel zur Sonne strebt, so strebt das Gedicht aus der Immanenz in die Transzendenz.
 
v.3 Gliederndes Knistern: Sowie die Blütenrispen eine gegliederte Gestalt haben, die durch die Energie der Sonne hervorgebracht wird, so wird das Gedicht durch seine Form und die darin spürbare ‚knisternde‘ Energie, die Transzendenz, gebildet.
 
v.3f üppigen / Glücksüberschwangs im Gelingen: Wenn dem Gedicht die Transformation von Immantem in Tranzendentes gelingt, so stellt sich im Gelingen ein Glücksüberschwang ein.
 
v.5 Sanftmutdunkel: Die dunkle, ’sanfte‘ Lavaerde ist ein fruchtbarer Boden, aus dem eine ‚üppige‘ Vegetation hervorgeht. So hat das Gedicht im Dunkel des Unbewussten seinen Ursprung.
 
v.6: Die 1. VG bezieht sich auf das Hervorbringen (einer Pflanze, eines Gedichtes) wie auf einen Geburtsvorgang: Dieser Vorgang ist nicht das, was den Schmerz bringt ! Darüberhinaus kann Vers 6 als Aufforderung des Dichter an sich selbst gelesen werden, nicht den Schmerz zu beschreiben (v.6) oder zu empfinden (v.12), sondern stattdessen die Transzendenz aufzunehmen (v.18) bzw. sich ihr hinzugeben (v.19).
 
v.7ff Auch Vegetation … / … / … ansteigt: Beschrieben wird eine Vulkaninsel, in deren Eruptionskegel(…) noch Lava brodelt und an deren Steilhängen sich Vegetation gebildet hat. Der geologischen Energie (Glutkeil) wird die pneumatische, geistige Energie Zart atmend zugemischt. Die Insel kann mit einem Dichter identifiziert werden, der das Gedicht hervorbringt.
 
v.12: s. zu v.6
 
v.13ff: Die Syntax der 3.VG spiegelt das Ineinander-verwoben-Sein von Immanenz und Transzendenz, von Materiellen und Geistigem wider. Aufgelöst lässt sich die VG wie folgt lesen: ‚Nur Fische mit Bernsteinblick stehen still in der Welle, wenn sie spüren, wie sich zwischen Wunde und Schlund die Spannung im Salz zu lösen beginnt‘. Der Fisch steht als Bild für den Dichter, dessen Blick auf Relikte der Vergangenheit (Bernstein) gerichtet ist. Die verlorene Transzendenz ist ihm eine Wunde, die er sprechend (Schlund) zu heilen versucht. Sein gelungenes Gedicht kann die Spannung, den Gegensatz von Transzendenz und Immanenz auflösen. Möglicherweise liegt dieser VG auch eine Anspielung auf Christus (‚Fisch‘ als Christus-Symbol, ‚Wunde‘ als Symbol für sein Blut) zugrunde. Der Dichter identifiziert sich mit der Gestalt des sich für die Menschheit opfernden Christus und den die christliche Botschaft übermittelnden Jüngern: „Ihr seid das Salz der Erde“ (Matth. 5,13).
 
v.18f: Aufgabe des Dichters ist es, die Transzendenz zu künden (Mund muss ich sein), indem er sie in sich aufnimmt (ein Mund der trinkt), Während er von ihr durchdrungen wird (das Herz getrunken wird). Im Hintergrund dieses Bildes leuchtet die Mytholgie des christlichen Abendmahls auf: Durch die Teilnahme am Opfertod Christi wird der Leser in die Gemeinde aufgenommen.