Selbsthaft

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Dem im eigenen Ich gefangenen modernen Menschen helfen weder Medizin noch Meditation, seinem Leben Sinn zu verleihen und die Angst vorm Tod zu vertreiben. Im Gegensatz dazu steht die Auffassung des ‚Selbst‘ als heilender Bezug zur Transzendenz.
 
Die in VG 1 aufgezählten sechs Mittel zur Heilung kleinerer körperlicher Defekte helfen natürlich nicht gegen die sechs in VG 2 genannten Erbkrankheiten: um die zu verhindern, müsste man mit der Gentechnik bereits den Fötus optimieren. Die Erbkrankheiten wären bei dem Pharao Echnaton, an dessen Mumie sie nachgewiesen wurden (VG 3), zu vernachlässigen (negligeable v.12): er besaß noch eine göttliche Seele. Dem modernen, ‚postreligiösen‘ Menschen, der nur im Materiellen einen Sinn findet, bleibt zur Lösung seiner Probleme nur die im Hirn angesiedelte Rationalität (VG 4). Das lyrische Ich knüpft in VG 5 mit dem Phoenix an die ägyptische und mit dem ‚Fisch‘ an die christliche Mythologie an. Es wünscht sich eine Befreiung von der Angst vor dem Tod und eine Lockerung der Bindung ans diesseitge Leben. Als weiteres Heilsmittel, das Leben und Tod einen Sinn verleihen könnte, wird die Meditation angeführt (VG 6), sie könnte Gier und Angst neutralisieren (VG 7), weil sie die Realität ausschließen bzw. den Schöpfungstraum nachvollziehen kann (VG 8). Die abschließende VG 9 charakterisiert den Heil-losen, den modernen Menschen als asozial, Ich-bezogen und von Verdrängung bestimmt.
 
 

SELBSTHAFT

 
Excipial
Loceryl Granu Fink
Und
unser täglich
Posterisan

Lafax und Phytohustil
Gibt es heute für Reizhusten Tröpfelharn
5Nagelpilz Darmgas und Hämorrhiden
Top fit unser Body schon seit er fötal
Designoptimiert

 
Denn rechts
Plattfuß
links Klump

Zu Lippen- zu Kiefer- zu Gaumenspalte
10ANÄMISCHE SICHELZELLEN
Das kurze Rückgrat
griebskrumm

 
Wenn
negligeable
vielleicht

Für einen
Pharao
aber die Seele

Golden die Sonne
15
Nicht weiter geleitend
ward Fleisch

 
Als Schauplatz von Sinn

Und
postreligiös Petri Rom
ohne

Heilsmittelkredit
was Lösung bringt

Schläfenregion ists
und was
bindet

 
20
Phoenix steig

In den Atem Fische sinkt
Nun ins Blut tilg mir des Todes
Schatten kühlt mir des Lebens Glut huldreich
 
Per
TEMPORALLAPPEN
die mit Vierzig

25
Hertz
ihre Gamma-
Zygoten

Austragen ob
sternbilddurchhellt

Wellenleib
sich gebiert

 
Megaloevolutiv
und
Gier

Angst und was sonst den Weltgang
30Anfixt zum
Hexenritt

SYMMETRISCH NEUTRALISIEREND

 
Schließt
er
zu
reinem Schauen

War es der Liebe Lid
War es des Leidens Lid
35Über dem Schöpfungstraum
 
Verhaltensgestalt

Die wie wir wissen
Hochgradig
asozial

Dringend der Therapie bedarf dieses
40Cross-over von signifikanter
Ich-Inflation
bei
grenzschizoid

Libidinöser Verdrängungssemantik

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Der moderne Mensch ist ‚im Ich verhaftet‘. Gleichzeitig wird mit dem Begriff des ‚Selbst‘ auf eine holistische Auffassung des Menschen verwiesen, in der der Mensch mit seinem ‚Selbst‘ an der Transzendenz haftet (vgl. z.B. C.G.Jung).
 
v.1ff: Genannt werden sechs nicht-rezept-pflichtige Präparate zur Behandlung von geringfügigeren Defekten des Körpers: Excipial = Medizinisches Pflegemittel für trockene Haut (Top fit unser Body); Loceryl = Mittel gegen Nagelpilz; Granu Fink = gegen Tröpfelharn; Posterisan = gegen Hämorrhiden; Lafax = gegen Darmgas; Phytohustil = gegen Reizhusten. Über die Behandlung der Körperdefekte hinaus wird mit Top fit unser Body (v.6) auf den modernen Körperkult und die Fitnessstudios angespielt.
 
v.2ff unser täglich … / … / Gibt es heute: Anspielung auf die lutherischen Fassung des Vaterunser („Unser täglich Brot gib uns heute“). Die Einnahme der Präparate wird mit der notwendigen täglichen Nahrungsaufnahme gleichgesetzt. Die Präparate ersetzen die geistliche Speise, das Brot des Abendmahls. Hier wird nicht mehr die existentielle Not des Menschen geheilt, hier werden die kleinen Köperdefekte behandelt.
 
v.6f fötal / Designoptimiert: Die fötale Periode beginnt beim Menschen in der 9. Schwangerschaftswoche und endet mit der Geburt. Tatsächlich haben Forscher die Methode Crispr-Cas9 bereits genutzt, um in das Erbgut von Embryonen einzugreifen, und so die Vision eines Designer-Baby hervorgerufen.
 
v.8ff: Genannt werden sieben Erbkrankheiten (Plattfuß, Klump(-fuß), Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte, ANÄMISCHE SICHELZELLEN (Sichelzellenanämie), Rückgrat(-sverkrümmung), (s. dazu zu v.13).
 
v.11 griebskrumm: Als ‚Griebs‘ wird das freigelegte Kerngehäuse eines verzehrten Apfels bezeichnet. Es ähnelt in der Form einem krummen Rückgrat und einer Sichel.
 
v.12 negligeable: Etwas zu Vernachlässigendes. Häufig vorkommend in der Redewendung ‚quantité négligeable‘.
 
v.13 Pharao: Gemeint ist vermutlich der Pharao Echnaton. An seiner Mumie wurden diverse Erbkrankheiten festgestellt (fast alle der in der 2.VG aufgeführten). Für die Pharaonendynastien war die Reinhaltung des Blutes zur Stützung des ‚Gottkönigtums‘ wichtig, es kam daher immer wieder zu Heiraten zwischen Blutsverwandten. Auch die Eltern von Echnaton waren Geschwister. Dennoch werden diese Erbkrankheiten im Gedicht als negligeable bezeichnet, wichtiger ist die Verkörperung der Transzendenz (als goldene Sonne) in Echnatons Seele. Echnaton führte die Sonne als die einzige Gottheit Aton (Monotheismus) in die ägyptische Kultur ein.
 
v.15 Nicht weiter geleitend: In der ägyptischen Kultur wird die Seele von Anubis ins Reich der Toten geleitet. In der Moderne (wenn die Seele (v.13) … Fleisch geworden (v.15) ist und dieses Als Schauplatz von Sinn (v.15f) erfahren wird, postreligiös v.17) gibt es diese Weiterleitung nicht mehr.
 
v.15f Fleisch / Als Schauplatz von Sinn: In religiösen Zeiten zeigte sich die Transzendenz im Fleisch (Christus, Pharaonen). Heute aber verwirklicht sich im Fleisch ein Körperkult der Immanenz. Diese moderne Sinngebung des Fleisches bezeichnet P. Sloterdijk als ‚Horizontalspannung in Optimierungsstätten‘.
 
v.17 postreligiös Petri Rom: So wie die Religion des Echnaton eine Episode war, wird hier auch das Christentum als historisch abgeschlossene Episode charakterisiert.
 
v.18 Heilsmittelkredit: Das ehemalige Heilsversprechen der christlichen Kirche wird in die medizinische (‚Heilmittel‘ vgl. VG 1) und ökonomische Sphäre (‚Kredit‘ von ‚credere‘ (glauben)) transferiert.
 
v.18f was Lösung bringt / Schläfenregion ists: Nachdem die Sinngebung durch die Religion nicht mehr verbindlich geleistet wird, verlegen die Neurowissenschaften die Erzeugung von Sinn in die Gehirnstrukturen (Schläfenregion).
 
v.18f Lösung … / … bindet: Im Hintergrund steht Matth. 16,19 „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.“ (Einheitsübersetzung). An diese dem Petrus gegebene Gewalt glaubt das ‚postreligiöse Zeitalter‘ nicht mehr.
 
v.20ff: Die Versgruppe knüpft mit dem Phoenix an die ägyptische und mit dem ‚Fisch‘ an die christliche Mythologie an. Opfer und Wiederauferstehung klingen in Blut und Atem an. Das lyrische Ich wünscht sich eine Befreiung von der Angst vor dem Tod und eine Lockerung der Bindung ans diesseitge Leben (vgl. auch zu v.28f). Phoenix und Fische sind auch Sternbilder (s. v.26), die ‚aufsteigen‘ bzw. ’niedersinken‘ können.
 
v.24 TEMPORALLAPPEN: Der Schläfenlappen, der Lobus temporalis, ist der zweitgrößte der vier Lobi des Großhirns. Er liegt knapp vor und direkt über dem linken und rechten Ohr. In den Temporallappen werden Ton, Bild und Sprache verarbeitet. Darüberhinaus spielen sie für Erinnern und Vergessen eine große Rolle.
 
v.24f Vierzig / Hertz ihre Gamma-: Im Hirn gemessene Gammawellen im Frequenzband um 40 Hz werden mit starker Fokussierung und Konzentration, mystischen und transzendenten Erfahrungen in Verbindung gebracht. Es wurden auch Verschmelzungserlebnisse, das Gefühl universellen Wissens und Verlust des Ich-Gefühls beobachtet.
 
v.25 -Zygoten: befruchtete Eizelle. Durch die Meditation ereignet sich im Meditierenden der Geburtsvorgang einer neuen Gestalt (Austragen v.26, gebiert v.27). Parallelisiert wird der natürliche Befruchtungsvorgang mit einem meditativen und kosmischen Verschmelzungsvorgang (vgl. v.26 sternbilddurchhellt).
 
v.26 sternbilddurchhellt: Gemeint sind die beiden in v.20f genannten Sternbilder Phoenix und Fische.
 
v.27 Wellenleib: Die durch die Veränderung der Hirnströme in Gammawellen hervorgerufene ’neue Gestalt‘ (vgl. zu v.25) evoziert die quantenphysikalische Dualität von Welle und Teilchen.
 
v.28 Megaloevolutiv: Megalo: abnorm groß; evolutiv: die allmähliche und stufenweise Gesamtentwicklung, die Evolution betreffend.
 
v.28f Gier / Angst: Im Hintergrund steht die Gegenüberstellung von Eros und Thanathos, von Lebens- und Todestrieb. Diese nach Freud das menschliche Sein bestimmenden Triebe (die neben anderem den Weltgang ‚anfixen‘ (v.29f)) sind bereits in des Todes / Schatten (v.22f) und des Lebens Glut (v.23) zu finden und werden nochmals mit der Liebe Lid (v.33) und des Leidens Lid (v.34) aufgerufen.
 
v.30 Hexenritt: Der Weltgang wird hier nicht heilsgeschichtlich gedeutet, sondern als Weltuntergang in den Bildern eines Horrortrips (anfixt) und eines apokalytischen Hexenrittes verdichtet.
 
v.31 SYMMETRISCH NEUTRALISIEREND: In der Meditation werden die den Weltgang bestimmenden Kräfte durch die Konzentration auf die Mitte neutralisiert.
 
v.32 er: i.e. der Wellenleib (v.27), also der Meditierende
 
v.32 reinem Schauen: In der Mystik wird das Ideal ‚reinen Schauens‘ in der Kontemplation erreicht (contemplatio ist eine Synthese aus con (gemeinsam, mit) und templum (dem heiligen Ort oder Raum Gottes)). Um eine Gotteserfahrung zu machen, schließt der Meditierende beide Augen (der Liebe Lid (v.33) und des Leidens Lid (v.34)). Die Gotteserfahrung kann hier einerseits darin gesehen werden, dass der Meditierende in seiner eigenen Seele (v.13) den Sinn (v.16) der Schöpfung, den Schöpfungstraum (v.35) schaut. Andererseits kann man das Schließen der Augen Über dem Schöpfungstraum (v.35) als den Versuch des Meditierenden interpretieren, die Realität (damit Liebe und ‚Leid‘) auszublenden, den ‚Schleier der Maja‘ zu heben und so zu Gott zu gelangen.
 
v.36 Verhaltensgestalt: Überlagerung der Menschenbilder in der Verhaltenstherapie und der Gestalttherapie. Während die Verhaltenstherapie den Schwerpunkt auf den pragmatischen Weltbezug legt, behandelt die Gestalttherapie den Menschen als holistisches Wesen. Der moderne Mensch ist ausschließlich im Diesseits verhaftet; seine Sicht auf die Meditation wird in den folgenden Versen geschildert.
 
v.37ff: Der in dieser Versgruppe beschriebene Mensch ist Hochgradig psychisch pathologisch.
 
v.41 Ich-Inflation: Der Begriff meint nach C. G. Jung „Aufgeblasenheit“ bzw. Überschwemmung der Persönlichkeit durch unbewußte Inhalte, die zu einer akuten Psychose führen kann. Gegenbegriff zum ‚Selbst‘.
 
v.41 grenzschizoid: Die schizoide Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch einen Rückzug von gefühlsbetonten und zwischenmenschlichen Kontakten aus. Mit grenz- wird auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung (von dem englischen Begriff ‚borderland‘ (=‚Grenzland‘)) angespielt. Typisch für diese Störung ist ein schwankendes Selbstbild wegen gestörter Selbstwahrnehmung.
 
v.42: Der Begriff der ‚Libido‘ (lateinisch libido: „Begehren, Begierde“) bezeichnet in der Psychoanalyse die psychische Energie, mit der die Triebe (u.a. Wollust oder Maßlosigkeit) ausgestattet sind. Die moderne Freisetzung der libidinösen Energien führt zur Verdrängung aller das ‚aufgeblasene‘ Ich gefährdenden Inhalte (u.a. der Angst vorm Tode). Das semantische System, in dem dieses moderne Ich gefangen ist, dient der Verdrängungsstrategie.