Augenfällig

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Der Wunsch des lyrischen Ich, sich aus der materiellen, rationalen und technischen Moderne zu befreien.
 
VG 1 zeigt den die Moderne beherrschenden Markt, der die Bruchstellen in der Natur, die auf Transzendentes verweisen, überdeckt. In der 2. VG wird das rationale, analysierenden Verhalten der Moderne, das scheinbar alle Rätsel Entziffert, geschildert. Mit den Atem- / Wurzeln am Gegenhang wird das Geistige dagegen gesetzt. Die 3. VG nennt die Technik als Bollwerk, mit dem die Moderne sich gegen den Bereich des Geistigen immunisiert. In den Kursiva folgt auf die Wünsche, sich aus der Gegenwart loszureißen und zum Ursprung zurück zu gelangen, die Charakterisierung der Moderne mit Hilfe des Mythos von Theseus, Persephone und Herakles im Tartarus.
 
 

AUGENFÄLLIG

 
Die
Kornmagazine
wie hohlraumfrei
Mit
Scheingewölben
der Silbergruben
Verfugt. Marktfähig

Über den
perennierenden

5Bruchstellen in der Natur
 
Ach sich losreißen −

 
Vollzählig
die Pflanzen
Entziffert:
Zerlegung
von
Unteilbarem
10In den
vereinfachten
Atem-
Wurzeln am Gegenhang
 
Früheres fühlen −

 
Aus
Dienstbarkeit
von Maschinen
Aus Schwerefeldkonstruktionen
15Stundengeländer-
Wehrwerk vorm purpurnen
Schaublatt der Feuerräume

 
Eingewachsen
sind Stühle

Totenreich mir ins Fleisch . . .
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Ins Augen fallend, auffallend. Aber auch: den Augen verfallen, der Oberfläche verhaftet.
 
v.1: Die der Gegenwart zur Verfügung stehenden Nahrungsressourcen werden durch das ‚Korn‘ symbolisiert. Dass die Vorräte wie hohlraumfrei gespeichert sind, weist einerseits darauf hin, dass kein Mangel an Nahrung (hohlraumfrei) besteht, das wie relativiert dies und könnte zeigen, dass die eigentliche Nahrung fehlt. Das ‚Korn‘ erinnert an den Demeter/Persephone-Mythos (vgl. dazu zu v.18f).
 
v.2: Die der Gegenwart zur Verfügung stehenden Reichtümer werden durch das ‚Silber‘ symbolisiert. Dass die Reichtümer mit Scheingewölben (in der Architektur: Kragsteingewölbe oder falsches Gewölbe) in Verbindung gebracht werden, weist auf die Fragwürdigkeit des Reichtums hin. Gleichzeitig erinnert der ‚Schein‘ an die schimmernde Verführung durch das Metall. Angespielt wird möglicherweise auch auf den Gott, der für unterirdische Reichtümer zuständig ist, auf Hades (Plutos) (vgl. dazu zu v. 18f).
 
v.3 verfugt. Marktfähig: In der westlichen Moderne, in der Marktwirtschaft sind das Geld und der Überfluss zu einer Herrschaft des Materiellen miteinander verfugt; sie ‚versiegeln‘ den Zugang zu anderen Dimensionen.
 
v.4f perennierenden: lat. perennis ‚das Jahr hindurch dauernd‘, z.B. für ausdauernde Pflanzen, die mehrere Jahre leben. Angespielt wird auch auf die ‚Philosophia perennis‘, die davon ausgeht, dass es die ewige, unveränderliche und universal gültige Wahrheiten gibt. Die Bruchstellen in der Natur lassen u.a. an den Wechsel der Jahreszeiten (Demeter/Persephone-Mythos, vgl. dazu zu v. 18f) denken. Die den Jahreszeiten zugrunde liegende traditionelle Parallelisierung von Winter = Tod und Frühling = Auferstehung könnte hier auf den Zusammenhang von Immanenz und Transzendenz ‚perennis‘ verweisen.
 
v.6: Das lyrische Ich möchte sich von dem in der 1. VG geschilderten Matereriellen, dem ‚Markt‘, losreißen. Dieser Wunsch wird in den letzten beiden Versen des Gedichtes durch den Mythos (Theseus, Persephone und Herakles im Tartarus, vgl. dazu zu v.18f) verdeutlicht.
 
v.7f Vollzählig … / Entziffert: Das ursprüngliche Linné’sche Klassifizierungssystem, das die Pflanzen in sieben Rangstufen ordnet, wird in den modernen Wissenschaften, z.B. den Genomprojekten, überschritten. Die Pflanzen werden auf Zählbares bzw. Messbares reduziert. Dass die Pflanzen damit vollständig erfasst wären, erweist sich allerdings als Illusion (vgl. zu v.8f).
 
v.8f Zerlegung von / Unteilbarem: Kritik an der Vorstellung in der modernen Wissenschaft, dass Lebendes (‚Unteilbares‘) analysiert (‚zerlegt‘) und vollständig auf das Materielle eingeschränkt werden könnte.
 
v.10f: Einerseits kann man die Verse als Fortführung der Kritik an der Wissenschaft lesen: Sie ‚vereinfacht‘ und verbleibt im Materiellen (Gegenhang), hat aber dennoch ihren Ursprung (Wurzeln) im Geistigen (Atem = Pneuma). Andererseits stößt das Prinzip des Analytischen eben in diesem ‚Unteilbaren‘ (‚Vereinfachten‘), in den Atem- / Wurzeln, auf seine Grenze, auf den Gegenhang (das Geistige).
 
v.12: Das lyrische Ich sehnt sich danach, seinen Ursprung (Früheres) emotional (fühlen) zurückzugewinnen. Dies als Kritik an der rationalen Methode der Moderne.
 
v.13ff Aus Dienstbarkeit … / Wehrwerk: Der moderne Mensch konstruiert sich eine Weltanschauung (Wehrwerk), die dem Materiellen verhaftet ist (Schwerefeldkonstuktionen) und sich mittels der Dienstbarkeit von Maschinen gegen das Geistige immunisiert. Er baut sich ein geländer aus einer zeitlichen Abfolge (Stunden), um vor dem Ewigen (dem perennierenden v.4) sicher zu sein.
 
v.16f vorm purpurnen / Schaublatt der Feuerräume: Der Feuerraum (Empyreum) war in der Kosmologie des Mittelalters der höchste Teil des Himmels über der Erde und wird als der Bereich des Feuers oder des Lichtes und die Wohnung Gottes bezeichnet. Dazu gehört die Farbe Purpur als Kennzeichen des Königlichen. Das Schaublatt kann als das Gedicht, das für die Transzendenz ‚brennt‘, verstanden werden. Es knüpft als Pflanzengattung ‚Schaublätter‘ an die Naturelemente in den vorhergehenden Versgruppen (Natur, Pfanzen, Wurzeln) an.
 
v.18f: Angespielt wird auf den Herakles-Mythos. Als seine letzte Arbeit soll Herakles den Höllenhund Zerberus aus dem Hades holen. Dort trifft er auf die Helden Theseus und Perithoos, die versucht hatten, die Tochter der Demeter, Persephone, aus dem Totenreich zu entführen. Sie wurden von Hades gebeten, sich zunächst auf die bereitstehenden Stühle zu setzen, in die sie dann ‚einwachsen‘. Als nach vier Jahren dann Herakles im Hades erscheint, kann er nur Theseus vom Stuhl losreißen.