Unterwegs

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Unterwegs: wohin? Mit zunehmender Geschwindigkeit zum kosmischen Friedhofsfinale, das die Technik verursacht und die Wissenschaft voraussieht − oder Unterwegs hinein in den Zyklus des Mythos, der von Orpheus und Eunomos repräsentiert wird?
 
In der ersten Versgruppe wird eine Entscheidung zwischen zwei Fahrzeugen, dem VW Phaeton, der für Geschwindigkeit steht, und einem Fiat, der für Sicherheit steht, vorgestellt. Die 2. VG überlegt, welche der beiden Vehikularkreationen für die übrigen Autos das Maß vorgibt − so wie auf der Fahrt zum goldenen Vlies die später an den Himmel versetzte Leier des Orpheus Taktgeber für die Ruderer des Schnellschiffs Argo war (VG 3). Dieser mythische Taktgeber scheint aber mit dem Sieg der Technik verstummt, zumindest seit der Schnelldampfer Wilhelm Zwei 1904 das BLAUE BAND für die schnellste Fahrt über den Atlantik errungen hat (VG 4). (Unausgesprochen – aber mitbedacht – bleibt dabei der Untergang des Dampfers Titanic 1912, der als Fanal für die Hybris der Technik gilt.) In der 5. VG wünscht sich das lyrische Ich die mythische Musik zurück, um von einem vergöttlichten Orpheus durch das Dunkel der technischen Gegenwart geführt zu werden. Die Nutzung der Musik durch die Technik zeigt die 6. VG: Der Physiker Günter Nimtz hat mit Musik, die er auf elektromagnetische Wellen aufgeprägt hat, die Lichtgeschwindigkeit 4,7fach überholt. In der 7. VG wird suggeriert, dass durch die Überholung des Zeitpfeils sogar das von den Astronomen vorhergesehene apokalyptische Finale angepeilt werden könnte. Den Gegensatz dazu bildet der Sänger Eunomos (VG 8), dem in der Legende die heilende Kraft der Natur (als Grille) zur Saite springt. Die heute auftretenden Sänger verlassen sich nicht mehr auf die Natur, sie bevorzugen ‚Hifi-Effektgeräte‘ um ihre Performance zu optimieren, wohingegen die Aufklärer (du Chatelet und Voltaire) noch hingerissen werden von den Wandelsternbahnen (Sphärenmusik) und der Erhabenheit des Kosmos (VG 9).
 
 

UNTERWEGS

 
Die
souveräne Agilität

Mit
Tempo-Turbo
oder
Und das
Tag für Tag
sind ja tatsächlich

Unsere
bilateralen Deliberationen

5Doch lieber dynamische
Just-in Styling-Ideen

Mit überzeugender Sicherheit –
Phaeton

Oder der
Fiat
und welcher

 
Den übrigen neueren
Vehikularkreationen

10
Das evaluierende Maß
vorgibt

Wie allen stellaren die
Leier

 
Lohn dafür dass sie des ersten
Schnellschiffs Ruderer
antrieb

Das
vielheilige Vlies
seinem
Zwingherrn

15
Jenseits des Meers
abzupressen

 
Verstummt aber
seit elegante

Salonorchesterchen
spektakulär

Flottknotiges
wie eine „Wilhelm Zwei“

Hin fidelten zu einem
BLAUEN BAND

 
20
Kling noch

Einmal aus den Sphären wo ein
Gott die Saiten rührt dass ich tiefer träumend
Höre was durch Stundendunkel führt soll doch
 
Kaum
glaublich
die Vierzigste Mozart die soll

25Auf NIMTZWELLEN
geleimt

Im
hilligen Köln
soll sie das Himmelslicht

Vow!
vierkommasiebenfach
überholen

 
Und gar noch den
KOSMISCHEN ZEITPFEIL

Der hinten am Weltende versichern
30Studierte Sterndeuter
Sein Friedhofsfinale anpeilt
 
Eunomos
aber als bei den Wettspielen

Pythons ihm einst eine Saite
Riss eine Grille hat da diskret
35Den Ton eingespielt
 
Was ja schon damals nicht
immer

Daher
unsereiner
doch lieber mit
Hifi-Effektgeräten

Zweihundertzwanziger Hochspannung
auftritt

Und zuckelt
auch nicht mehr
Postchaise

40Nur um
mit einer du Châtelet
hingerissen
Auf
Wandelsternbahnen
falls sie im Neuschnee
Umwirft

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Das Adverb Unterwegs lässt offen, ob der Mensch ziellos unterwegs ist ober ob er – wie im mythischen Denken – zurück zu seinem Ursprung unterwegs ist.
 
v.1 souveräne Agilität: Agilität kommt von ‚agilitas‘ (lat.) = Beweglichkeit, Schnelligkeit, Biegsamkeit (bezogen auf den Menschen). souverän kommt von ’superanus‘ (lat.)=über allem stehend; hier: ‚uneingeschränkt‘, ‚überlegen‘. Die Begriffskombination bezieht sich auf die ‚uneingeschränkte Beweglichkeit‘, mit der der moderne Autofahrer glaubt, Unterwegs sein zu können. Der Fremdwortgebrauch parodiert die heutige Werbesprache.
 
v.2 Tempo-Turbo: KfZ-Technikjargon für ein auf Geschwindigkeit getrimmtes Auto. Gleichzeitig ein Hinweis auf die in der Moderne ständig zunehmende Geschwindigkeit (vgl. dzu auch zu v.24 und zu v.24ff).
 
v.3f: Einschub in die von v.1 bis v.6 reichende Überlegung. Das Tag für Tag könnte auf den begrenzten Horizont hindeuten, vor dem in der heutigen Zeit Überlegungen angestellt und Entscheidungen getroffen werden.
 
v.4 bilateralen Deliberationen: Überlegungen (Deliberationen), die sich auf zwei Möglichkeiten (bilaterale) beziehen: hier die Wahl zwischen Phaeton (v.6) oder Fiat (v.7). Der Fremdwortgebrauch soll hier – wie in der modernen Werbesprache – die Bedeutung der Entscheidung betonen.
 
v.5 Just-in Styling-Ideen: Zusammengesetzt aus Begriffen aus der Produktionssphäre von Autos: Design (Styling-Ideen) und Herstellung (Just-in-Time-Produktion). Zum Einsatz des Englischen vgl. zu v.1 und v.4.
 
v.6: Ironischer Vers, bedenkt man, dass die mythologische Figur Phaeton, nach der das Auto benannt ist, mit dem von seinem Vater geliehenen Sonnenwagen der Sonne zu nahe kommt und – abstürzt. Als Modellbezeichnung ist der Name allerdings nicht neu. Phaeton nannte man früher schon die Bauweise für offene herrschaftliche Pferdekutschen, bei denen die Herrschaft selbst lenkte (vgl. dazu auch die Kutsche (Postchaise v.39ff), mit der Voltaire und Émilie du Châtelet umstürzen). (Vgl. zu v.39 und v.39ff)
 
v.7 Fiat: Da mit Phaeton der mytholgische Bereich indirekt aufgerufen wird, liegt es hier nahe, auch den religiösen Bereich mit dem Genesis-Zitat ‚Fiat lux‘ (‚Es werde Licht‘ (Gen. 1,3)) zu hören.
 
v.9 Vehikularkreationen: Begriffsungetüm, das den Ausdruck ‚Vehikel‘ (abwertend für ein älteres Fahrzeug) mit Schöpfungsmythen verbindet.
 
v.10 Das evaluierende Maß: Ein Vorbild, nach dem etwas bewertet wird.
 
v.11 Leier: Sternbild, nach der an den Himmel versetzten Lyra des Orpheus. Ihr hellster Stern Wega dient den Astronomen u. a. als Nullpunkt zur Kalibrierung der Helligkeitsskala (‚evaluierendes stellares Maß‘ v.10f).
 
v.12f des ersten / Schnellschiffs Ruderer: Die ‚Argo‘ war der antiken griechischen Sage nach das „sagenhaft“ schnelle Schiff, mit dem Jason und die ihn begleitenden fünfzig Argonauten das Goldene Vlies holen wollten. Die Leier des Orpheus gab den schnellen Takt für die Ruderer vor.
 
v.13 Das vielheilige Vlies: Die Abwandlung des ‚goldenen‘ Vlieses, das in Kolchis als ‚Reliquie‘ verehrt wurde, in eine ‚vielheiliges‘ Vlies verweist bereits auf die vielen Reliquien im hilligen Köln (v.26). Ihretwegen wurde Köln schon im Mittelalter als ‚vielheilige‘ Stadt bezeichnet.
 
v.14 Zwingherrn: Aietes, der König von Kolchis und Besitzer des Goldenen Vlieses
 
v.15 Jenseits des Meers: Kolchis liegt am Nordrand des Schwarzen Meers.
 
v.16 Verstummt aber: Verstummt ist die Leier des Orpheus, d.h. der antike Mythos. An seine Stelle tritt ein Salonorchester auf dem Schnelldampfer Wilhelm Zwei, d.h. die moderne Technik.
 
v.17 Salonorchesterchen: Mit der Erwähnung eines ‚Salonorchesterchens‘ wird auf das Salonorchester der Titanic hingewiesen, das bis zum Untergang des Schiffes „Nearer My God to Thee“ spielte.
 
v.18 Flottknotiges: Zusammengesetzt aus ‚flott‘ (für ’schnell‘) und ‚Knoten‘ als Geschwindigkeitsmaß für Schiffe
 
v.19 BLAUEN BAND: Das ‚Blaue Band‘ ist eine Ehrung, die das schnellste Schiff für bezahlende Passagiere auf der Transatlantik-Route Europa – New York erhalten hat. Die ‚Kaiser Wilhelm II‘ eroberte das Blaue Band 1904 und konnte es bis 1907 halten.
 
v.20ff: Das lyrische Ich wünscht sich, die mythische ‚Sphärenharmonie‘ als Ausdruck des geordneten Kosmos zu hören. Dem Saitenspiel des Orpheus (vgl. v.11) wird göttliche Kraft zugesprochen, so dass das lyrische Ich in Nachfolge des Orpheus durch das Dunkel des Hades (i.e. durch die der Zeit verfallene Gegenwart) ins Licht geführt wird. Das Saitenspiel bzw. die Sphärenmusik kann vom lyrischen Ich nur im ‚tiefenTraum‘, in einem der Ratio entgegengesetzten Modus wahrgenommen werden.
 
v.24ff: Der Kölner Physiker Günter Nimtz führte 1994 ein spektakuläres Experiment durch, bei dem den Mikrowellen mit Frequenzmodulation (NIMTZWELLEN v.25 (Neologismus des Autors)) die 40. Sinfonie von Mozart (v.24) aufgeprägt wurde. Diese Musiksignale auf Mikrowellen wurden durch Hohlleiter mit einer Barriere übertragen. Dabei stellte er fest, dass sich die Musik auf der Mikrowelle moduliert 4,7-mal (v.27) schneller ausbreitete als Licht im Vakuum.
 
v.24 Kaum glaublich … soll: Die im Folgenden angesprochene Forschung bzgl. der Lichtgeschwindigkeit steht im Gegensatz zu dem in vorhergehenden Versgruppe evozierten Licht des Glaubens (Himmelslicht v.26). Die ganze Versgruppe drückt auch durch den zweifachen Gebrauch der Modalverbs soll ein ironisch-skeptische Haltung gegenüber der Wissenschaft aus.
 
v.25 geleimt: nicht nur ‚etwas zusammenfügen‘, sondern auch in der umgangsprachlichen Bedeutung für ‚hereinlegen, übertölpeln‘. Damit wird indirekt auch ein Zweifel an der modernen Wissenschaft artikuliert.
 
v.26 Im hilligen Köln: Mundartliche Bezeichnung für das ‚heilige Köln‘. Vgl. auch zu v.13.
 
v.27 Vow!: Onomatopoetischer Ausdruck für Geschwindigkeit
 
v.27 vierkommasiebenfach: s. zu v.24ff
 
v.28ff: Suggeriert wird, dass die NIMTZWELLEN nicht nur schneller als das Licht seien, sondern auch schneller als die Zeit (KOSMISCHEN ZEITPFEIL). Das kosmologische Modell, das hinter dieser Versgruppe steht, ist das eines sich ausdehnenden und sich wieder zusammenziehenden Universums, das vom Urknall bis zum Kollaps (Weltende, Friedhofsfinale) reicht. Die skeptische Einschätzung eines solchen Modell wird durch den Ausdruck Studierte Sterndeuter belegt, der die Herkunft der Astronomie aus der Astrologie betont.
 
v.32ff: Dem legendäre griechischen Sänger Eunomos riss bei dem Wettspielen in Dephi (‚Pytho‘, ein Synonym für Delphi) eine Saite seiner Leier. Eine Grille ersetzte durch ihren Gesang den fehlenden Ton (vgl. Clemens v. Alexandrien: Protrepticus. 1.Kap.). Die Wettspiele, bei denen Eunomos auftritt, sind parallelisiert mit dem in der 4. Versgruppe beschriebenen Wettstreit um das ‚Blaue Band‘. Im Gegensatz aber zu der dort im Hintergrund mitzudenkenden Katastrophe der Titanic, die das Scheitern der Technik symbolisiert, erweist sich hier im Mythos die Natur als heilende Kraft. Natürlich steht das Saitenspiel (wie auch schon bei der Leier des Orpheus (v.11) und dem Gott, der die Saiten rührt (v.22)) für die Kraft der Dichtung.
 
v.36: Der Vers kann mit ‚funktionierte‘ ergänzt werden.
 
v.37 unsereiner: Das lyrische Ich ist hier -wie im Folgenden deutlich wird- in der Rolle eines auftretenden Musikers (wie Eunomos v.32ff).
 
v.37 Hifi-Effektgeräten: Signalprozessoren sind Geräte, die ein Audiosignal gezielt verändern. Diese Geräte verwenden Künstler bei ihrem Auftritt, um die Musik mit technischen Mitteln zu verfremden. Wohingegen das Saitenspiel des Eunomos durch die Natur vervollständigt wird (vgl. zu v.32ff).
 
v.38 Zweihundertzwanziger Hochspannung: Die bis 1987 in Europa herrschende Netzspannung; seitdem beträgt sie 230V.
 
v.39ff: Émilie du Châtelet (1706-1749, Mathematikerin). Wie David Friedrich Strauß berichtet, unternahm Émilie zusammen mit Voltaire in einer Winternacht eine Reise nach Cirey. Als ihre Postchaise umgeworfen und nachdem sie darunter hervorgezogen worden waren, betrachteten beide im Schnee den Lauf der Gestirne. Fasziniert vom Universum vergaßen sie die Kälte. (Vgl. David Friedrich Strauß: Voltaire. Sechs Vorträge. Bonn 1878, S.79)
 
v.39 Postchaise: Die französische Bezeichnung für eine von Pferden gezogene, vierräderige Postkutsche. Der Sonnenwagen des Helios, mit dem Phaeton abstürzte, wurde von vier Pferden gezogen (vgl. zu v.6).
 
v.40 mit einer du Châtelet: s. zu v.39ff
 
v.41 Wandelsternbahnen: älterer Bezeichnung für Planetenbahnen. Die Orientierung an den Planeten (Horoskope) bzw. den Fixsternen (z.B. in der Seefahrt) ist in der Moderne durch die ziellose Agilität der Technik ersetzt.
 
v.42 Umwirft: Die Konstruktion ‚Die Postchaise wirft um‘ ist eine veraltete Wendung für das Passivische ‚Die Postchaise wurde umgeworfen‘. Damit wird die Postchaise als Handelnde zu einer Art Macht des Schicksals, die das Transzendente noch ‚erfahrbar‘ macht.