Wenn doch

Überblickskommentar:
 
Die drei Versgruppen bieten mehrere Verständnismöglichkeiten, von denen hier zwei unterschiedliche dargestellt werden sollen.
 
Die evolutionäre Sichtweise (e): Die Versgruppen zeigen kultische Elemente aus kosmischer, mythischer und wissenschaftlich-technischer Sicht, die auf einem eschatologische Grundgedanken basieren.
Die apokalyptische Sichtweise (a): Die Versgruppen entwerfen das Bild eines kommenden Jüngsten Gerichtes. Zunächst tritt Hekate im Abendlicht in das äußere Sonnensystem ein, um die Toten zu erwecken. Dann erklimmt sie als rächende Nemesis den Richterstuhl, um am Weltende (Schiffbruch) gnadenlos zu urteilen. Und es zeigt sich, das alle Versuche, dem zu entgehen, vergeblich sind.
 
Die Kursiva zeigen die Hoffnung, das poetische Spiel und das transzendente Ziel des lyrischen Ich.
 
 

WENN DOCH

 
Unter dem
Lid mohnrot

Dann einst
das Ringsystem
Des Saturn und bräutlich
Tritt sie herein und kalt
5Die
Herrin der Gräber

 
Tauben
− Aufwind aus Federn!

 
Grob aber
ein Eisengewand mit
Zugmechanismen welt-
Offener Schuld. Die selbst ein
10Kenterndes Segel
Nicht gelten lässt
 
Delfine
− schäumendes Spiel!

 
Zuletzt dann
das Stützwerk
Pneumatischer Schaukonstruktionen
15Höheverbündetes Kultpyramiden-
Gebröckel und grau den Gesetzen
Verfällt es der Korrosion
 
Erdbraune Zapfen
der Zedern −

Weg zeigt
auch ihr mir und Ziel!

 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: (e) Wenn doch die Möglichkeit besteht, zum Heil zu finden? (a) Wenn doch ein Jüngstes Gericht bevorsteht?
 
v.1: (e) Suggeriert wird ein kosmisches Auge, das wie in Celans Gedichtband ‚Mohn und Gedächnis‘ die Aufgabe des Dichters darin sieht, dem Todesschlaf der Getöteten ein Grabmal zu errichten (mohnrot). (a) Suggeriert wird unter dem Lid ein rotes Auge (Ringsystem / Des Saturn), das kosmisches Unheil, das kommende Jüngste Gericht ankündigt.
 
v.2ff: (e) Aus dem weltgeschichtlichen Raum tritt eine Gestalt (Die Herrin der Gräber) hevor, die das seit den mythischen Zeiten immer wiederkehrende Morden und Verschlingen selbst der eigenen Kinder (das Ringsystem / Des Saturn) kalt beherrscht. Dass sie zugleich als bräutlich bezeichnet wird, verknüpft sie mit der Schöpferkraft des Dichters. (a) Kalt und wie in einem Todestanz bräutlich geschmückt tritt Hekate als Herrin der Gräber in die Welt, um die Toten zu erwecken.
 
v.5: Im ‚Orphischen Hymnus‘ I,7 wird die Titanin Hekate als Herrin der Gräber bezeichnet. Dort hat sie als ‚Himmelskönigin‘ auch fruchtbringende und heilende Aufgaben.
 
v.6: Die Taube ist in der (christlichen) Tradition das Symbol für den (Heiligen) Geist. Mit dem Aufwind aus Federn! wird auf die Auferstehung verwiesen. Das poetologische Symbol der ‚Feder‘ erinnert an die Hoffnung des Dichters, mit seinen Gedichten Gedächtnis zu sein und die Verbindung zur Transzendenz herzustellen zu können.
 
v.7ff: (e) Dem Ringsystem / Des Saturn entspricht in der zweiten Versgruppe das Eisengewand mit / Zugmechanismen. Angespielt wird auf ein mythisches Ritual in Karthago, bei dem Kinder in einem brennenden Ofen (Eisengewand) der Göttin Tanit geopfert wurden. Tanit gilt auch als Nährerin des Saturn. Versteht man Kenterndes Segel als Symbol der auch immer wieder scheiternder christlicher Missionierung, dann bleibt ein archaischer Rest welt- / Offener Schuld (Menschenopfer) bestehen. (a) Die gerüstete Nemesis (Hekate) zieht am jüngsten Gericht jeden Toten, dessen Schuld im Leben ungesühnt (welt- / offen) geblieben ist, zur Rechenschaft. Auch ein Schiffbruch (Kenterndes Segel: metaphorisch für eine gescheitertes Leben) dient nicht als EntSchuldigung.
 
v.12: Suggeriert wird das Bild einer Gruppe von Delfinen, die übermütig ein Schiff begleiten. Im Mythos wird der Sänger Arion von verbrecherischen Schiffsleuten gezwungen über Bord zu springen. Sein Lied wird von einem ihn rettenden Delfin gehört, der ihn ans Land bringt. Die rettende Funktion des Liedes bzw. des Gedichts verweist auf die Aufgabe des Dichter (vgl. zu v.8).
 
v.13ff: (e) Die kulturellen Versuche, die Verbindung zur Transzendenz (‚Pneuma‘, ‚Höhe‘) mittels Bauwerken wie Kathedralen (Stützwerk) oder Wolkenkratzern (Kultpyramiden) aufrecht zu erhalten bzw. zu ersetzen, scheitern. Das Scheitern solch hybrider Konstruktionen ist vergleichbar dem Turmbau zu Babel und verstößt gegen physikalisches (Korrosion) und göttliches Gesetz. (a) Der Versuch der Menschen, sich vor dem Jüngsten Gericht mit Kultbauten (vgl. dazu v.13ff (e)) zu retten, scheitert am göttlichen Gesetz.
 
v.18f: (e) In den evolutionären Prozess (Weg zeigt) mit dem eschatologische Ziel ist nicht nur die Erde und das Hohe Lied (Zedern Hld 5, 15) sondern auch das lyrische Ich und das Gedicht eingebunden. Die Anspielung auf das Hohe Lied mit den Lobpreisungen zweier Liebender legt das Verständnis der Liebe als Ziel der Eschatologie nahe. (a) Dem lyrischen Ich zeigen die Zapfen der Zedern einerseits seinen Lebensweg: Junge Zapfen sind hellgrün, mit den reifen Erdbraune(n) Zapfen nähert sich das Leben der Erde, dem Grab und dem Ziel. Andererseits sind die Zapfen dem lyrischen Ich auch Muster für sein Gedicht: So wie jene reifen und sich der Erde nähern, so möge das Gedicht mit seinem Weg zur Vollkommenheit das Ziel, die Transzendenz, erreichen.
 
v.18f: Nicht zufällig endet das Gedicht mit der 4-fachen Alliteration auf den Buchstaben Z. Als letzter Buchstabe des Alphabets (dem griechischen Ω vergleichbar) steht er für das Ende, das Grab und die TranszendenZ.