Es geht rund!

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Mit Blick auf Vergnügen und Arbeit (VG1) und Reichtum und Sexualität (VG9) wird sinnentleertes Leben in der Moderne dargestellt. Ordnende Denkfigur des Gedichts ist der Kreis: Planeten kreisen (VG2) / Kapital kreist (VG3) / Mahlstrom (VG5) / Tanz der Entchen (VG6) / Rühren im Eintopf (VG7). Fazit dieses Kreislaufs: Das Kapital führt zur (Klima)katastrophe. Hoffnung bietet die Stärkung des Transzendenzbezugs. Hier könnte der Kreis ein Sinnbild für einen nicht sichtbaren Mittelpunkt sein, um den alles kreist.
 
 

ES GEHT RUND!

 
Zwei Nächte
zombig
die
Marathon-

Live-DJ-Sets
bis uns die Erbsen brennen

Techno-Electro meets
Indie-cross-over

Plus Pussi-Muschi-Show-Down
aber ab zehn

5
Arschbacken zusammen
und Organisation

Controlling Prozesssteuerung
etc.

Saucoole Durchsetzungspower
 
Was
allbereits
Vorgabe ist

Des
NORMATIVEN PLANETEN

10Links diese Venus glutheiß
Rechts gleich der Antagonist
 
Doch geht sie zu toppen
Die
Vorzeigekugel
wie sie herumkreist

In langfristigem Gleichmaß denn
KAPITAL

15Das optimiert sich wenn um den Globus
 
Clever getimed ZEITMANAGEMENT
Als Heilsökonomie bis Tuválu
Dem kaut der
Pazifik
am Konto

Mit steigenden Außenständen
 
20
Schlingflut
der
sieben Meere
wenn ich das

Mahlwerk
schau und schon den

Todesschrei
höre
ich wollt ich

Tränke sie aus mitsamt den fast
 
Dreimalzehntausend Gratiskreuzfahrern

25Der Tanzentchenflotille
Quietschende Müllstrudelspaßvögel
Blind für die
Stella Maris

 
Symptom wohl auch
kollektiven Wahns

Für
Peter Buchholz
die Irrwege

30Des Ozeans tauschte der gegen regelgeleitete
Eintöpfe vom heiligen Franz
 
Zu volltransformativer Nachfolge
die ähnlich

Wie auch
die Gottheit

selbst unbezweifelbar
35Ein Wahrnehmungsphänomen
 
Ganz ohne den
Haptizitätsbonus

Unseres
F-Typs
der wenn wir
vorfahren

Da lassen die Damen so
Opel-Softies

Halb nackt noch
kalt abkacken
wir aber

40
Kurz aufgeblendet
und prachtvoll

Hart poppen denen die Bugwarzen
Wie Triebwerkfrontkolben!
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Die Redensart Es geht rund wird salopp für ‚es ist viel los, es gibt viel zu tun‘ gebraucht. Konkret kann man an eine Bewegung auf einem Kreis oder an ein Umkreisen denken.
 
v.1ff: Dargestellt wird ein übliches Club-Wochenende von Samstagabend bis Montagmogen um 10 Uhr mit durch Drogenkonsum ermöglichtem direkten Arbeitsbeginn im Anschluss.
 
v.1 zombig: Als ‚Zombie‘ werden hier die Clubbesucher bezeichnet, also als Menschen, die scheinbar verstorben und wieder zum Leben erweckt worden sind und die als ihrer Seele beraubte, willenlose Wesen umherwandern.
 
v.1f Marathon- / Live-DJ-Sets: In den Clubs wird von den Diskjockeys (DJ) pausenlos Musik aufgelegt, wobei jeder DJ seinen eigenen Set an Musik hat.
 
v.2 bis uns die Erbsen brennen: Der Slang-Ausdruck hängt mglw. mit der Redewendung ‚Die Erbsen brennen zuerst an, dann nimmt man sie halbgar vom Feuer‘ zusammen, die verstanden wird als ‚Von einem Extrem ins andere fallen‘. Hier fallen die Clubber vom Party-Extrem unmittelbar ins Arbeits-Extrem (immer unter Droge). Mit Blick auf die folgenden Verse kann hier auch eine sexuelle Anspielung (z.B. auf Hoden oder Brustwarzen (v.41)) vermutet werden.
 
v.3 Techno-Electro meets Indie-cross-over: Mehrere voneinander unterschiedene Musikrichtungen. Techno ist eine Musikrichtung, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre durch die Verschmelzung mehrerer Stilarten der elektronischen Tanzmusik entstanden ist. Der Begriff Electro bezeichnet verschiedene Musikstile, deren gemeinsames Hauptmerkmal die Umsetzung von Kompositionen auf überwiegend elektronischer Basis ist und die primär Elektronische Tanzmusik der Popularkultur umfassen. Unter Indie (Independent) versteht man meist eine rockorientierte, mit anderen Stilen eklektisch vermischte Musikform. Crossover bezeichnet keine bestimmte Stilrichtung, sondern die Vermischung verschiedener Stilistiken. Diese anscheinend wahllose Mischung verschiedener Musikstile könnte mglw. als Kennzeichen ’seelenloser‘ Tanzmusik verstanden werden.
 
v.3f: Die auffällige Vokalfolge o-o-o-o-u-u-u-o-o gemahnt an orgiastisches Stöhnen (eine weitere prägnante Vokalfolge in v.37ff).
 
v.4 Pussi-Muschi-Show-Down: Das Kompositum lässt an ‚Tabledance‘ denken. Tabledance ist eine in Nachtclubs etablierte Form des erotischen Tanzes, bei der aufreizend gekleidete Frauen auf einer Bühne oder einem Tresen, oft ausgestattet mit einer senkrecht verlaufenden sogenannten Poledancestange als Requisit, auftreten. Der eigentlich dem Western entstammende Begriff ‚Showdown‘ suggeriert hier den Striptease-Höhepunkt.
 
v.5 Arschbacken zusammen: martialischer Slang für Selbstdisziplinierung (häufig im militärischen Milieu) mit einer sexuellen Konnotation (wie in den vorhergehenden Versen).
 
v.5ff Organisation Controlling Prozesssteuerung … Durchsetzungspower: Die Vergnügens- und Arbeitswelt ist hier dargestellt als eine subjektlose Maschinerie. Das extrem gesteigerte Vergnügungsbedürfnis wird am Montagmorgen auf die Arbeitsprozesse umprogrammiert, sodass sich die Strukturen hier wie dort ’saucool‘ durchsetzen. Auffällig ist, dass nur Arbeitsbereiche von Angestellten genannt werden, die werden sich am Montagmorgen gegenüber ihren Untergebenen ’saucool‘ durchsetzen.
 
v.8 allbereits: veraltetes Adverb, das für ein verstärktes ‚bereit‘ steht. Es erinnert an den Pfadfindergruß ‚Allzeit bereit‘. Indirekt wird mit all- der Blick auf unser PLANETEN-System vorbereitet.
 
v.9ff NORMATIVEN PLANETEN … Antagonist: Zunächst wird die Erde als ’normativer Planet‘ bezeichnet, der − anknüpfend an die erste Versgruppe − als regelgeleitetes (Zwangs)-System ohne Freiheitsräume verstanden wird. Begleitet wird die Erde von der Venus (für Vergnügen und Sexualität) und dem Mars (für Arbeit und Konkurenzkampf/Krieg). Dabei fällt auf, dass das Zentrum unseres Planetensystems, die Sonne, fehlt. Diese könnte für die Transzendenz stehen. Die Bezeichnung des Mars als Antagonist und damit als Widersacher, verschiebt den Gegensatz von Venus und Mars in den paradoxen Gegensatz von fehlender Transzendenz (Sonne, Gott) und Teufel (Mars).
 
v.13f Vorzeigekugel … Gleichmaß: gemeint ist die Erde. Die Erde ist in der christlichen Theologie der Planet, auf dem sich der göttliche Heilsplan vollzieht und den man daher Vorzeigekugel nennen kann. Sie entspricht der physikalisch ‚Norm‘, wie sie … / In langfristigen Gleichmaß um die Sonne herumkreist.
 
v.14ff: Zugrunde liegt die traditionelle Vorstellung des ‚Kreislaufs des Kapitals‘ (Geldkapital → Produktionskapital → Warenkapital → Geldkapital). Dieser Kreislauf wird in der Moderne ‚getoppt‘ und optimiert durch ein ZEITMANAGEMENT, das das Finanzkapital um den ganzen Globus jagt. Dieser Optimierungsprozess (die gesteigerte Rendite) wird hier als kapitalistische Heilsökonomie bezeichnet (der Gegensatz zum göttlichen Heilsplan).
 
v.17ff: Die im Pazifik gelegene Insel Tuválu ist durch den Klimawandel und das dadurch verursachte Steigen des Meeresspiegels dem Untergang geweiht. Der Klimawandel ist eine unmittelbare Folge des globalen Kapitalismus, auf dessen Konto die steigenden Außenstände (der Meeresspiegel) gehen. Die Formulierung ‚der Pazifk kaut‘ ist zunächst Täterverschweigung: der Prozess der Umweltschädigung wird dann aber doch als Folge des Finanzkapitals (Konto, Außenstände) enttarnt.
 
v.20 Schlingflut: Befinden sich Sonne, Mond und Erde auf einer Geraden, so addieren sich die Gravitationskraft von Mond und Sonne und erzeugen auf der Erde stärkere Flutberge, die als ‚Springflut‘ bezeichnet werden. Die Änderung zur Schlingflut verdeutlicht die kommende Katastrophe: das Überfluten und Verschlingen der Insel Tuválu (vgl. zu v.17ff) und im weiteren Sinn die Zerstörung der Erde durch den globalen Kapitalismus.
 
v.20 sieben Meere: ein die Kulturgeschichte durchziehender Begriff mit jeweils wechselnden Meeren (s. Wikipedia ‚Sieben Meere‘), der aber immer die gesamte bekannte Erde umfassen soll.
 
v.21 Mahlwerk: Technisch ist das Mahlwerk ein Gerät zur Zerkleinerung von Stoffen (z.B. in Getreide-, Kaffee- oder Gesteinsmühlen). In übertragener Bedeutung ist hier der ‚Kreislauf des Kapitals‘ (vgl. zu v.14ff) gemeint, ein Mahlstrom, der alles zermalmt (z.B. Menschen oder Inseln) und in seinem Strudel hinabzieht (vgl. zu v.23ff).
 
v.22 Todesschrei: Konkret ist an den Todesschrei, den Untergang der Bewohner der Insel Tuválu zu denken. In einem religiösen Kontext kann man auch den Todesschrei der Schöpfung hören. Der Zusammenhang mit dem folgenden Tränke stellt eine mögliche Verbindung zum Schrei des gekreuzigten Christus her.
 
v.22f ich wollt ich / Tränke sie aus: Mit sie sind offensichtlich die sieben Meere gemeint. Das lyrische Ich offenbart damit den Wunsch, den Prozess der Zerstörung der Vorzeigekugel zu verhindern. Der Versuch ‚die Meere auszutrinken‘ ist gewöhnlich eine Metapher für etwas Unmögliches, hier verstärkt durch den Irrealis. Der dreifachen Nennung des Ich in dieser Strophe liegt möglicherweise die Vorstellung der christlichen Hypostase zu Grunde (Gott, Christus, Heiliger Geist als gesteigerte Einheit in der Dreiheit). Das Ich setzt sich damit an die Stelle Gottes. Ähnlich formuliert Nietzsche in einem Aphorismus seiner ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ (Nr. 125), dass der moderne Mensch Gott getötet hat: ‚Wir alle sind seine Mörder! … Wie vermochten wir das Meer auszutrinken?‘.
 
v.23ff mitsamt den fast // Dreimalzehntausend … Müllstrudelspaßvögel: Am 10. Januar 1992 gab es im Nordpazifik den Unfall eines Containerschiffes, bei dem 29.000 Plastik-Quietschentchen in den Ozean fielen. Diese tanzen seitdem als Müllstrudel im Great Pacific Garbage Patch. Sie werden als Gratiskreuzfahrer bezeichnet, weil sie einerseits als touristische Kreuzfahrer die Umwelt verschmutzen, andererseits an die historischen Kreuzfahrer der Kreuzzüge erinnern. Neben dem ironischen Aspekt von Gratis verweis die etymologische Herkunft aus ‚Gratia‘ auf die religiöse Dimension, die dann mit Stella Maris aufgenommen wird.
 
v.27 Stella Maris: wörtlich der ‚Meerstern‘, gleichzeitig eine Metapher für die Gottesmutter Maria. Blind charakterisiert die Moderne als transzendenzfern.
 
v.28: Der ‚kollektive Wahn‘ scheint hier darin zu bestehen, dass das moderne Konsumverhalten / der beschleunigte Kapitalismus sich über seine zerstörerischen Auswirkungen hinwegsetzt und sie verdrängt.
 
v.29ff: Peter Buchholz (*1959, †2004) gab seine Marinekarriere auf (Irrwege / des Ozeans), um als Franziskaner in Berlin/Pankow mit der Einrichtung einer Suppenküche (regelgeleitete / Eintöpfe vom heiligen Franz) im Dienste an den Armen zur volltranformativen Nachfolge Jesu zu finden.
 
v.32 Zu volltransformativer Nachfolge: So wie Franz von Assisi sein weltliches Leben in ein heiliges tranformierte, so entwickelt sich Peter Buchholz in seiner Nachfolge zu einem religiösen Menschen.
 
v.33ff: Der moderne Mensch hält die Gottheit (ähnlich wie den Heiligen) für ein illusionäres Phänomen der Wahrnehmung, das nicht fassbar ist (vgl. v.36), während für Franz von Assisi in seiner Nachfolge Christi auch die Wahrnehmung der Natur sich ins Religiöse transformiert.
 
v.36 Haptizitätsbonus: Als haptische Wahrnehmung (altgriechisch ἁπτός haptόs, deutsch ‚fühlbar‘) bezeichnet man das tastende „Begreifen“ im Wortsinne, also die Wahrnehmung durch aktive Erkundung im Unterschied zur passiven taktilen Wahrnehmung. Phänomene der Transzendenz sind in diesem Sinne nicht begreifbar (‚anfühlbar‘). Der moderne Mensch benötig die Haptizität als Zugabe (bonus), um etwas für wirklich zu halten. Wenn allerdings der moderne Mensch den Haptizitätsbonus auf transzendente Phänomene anwenden könnte, würde er sich in einen Gläubigen verwandeln.
 
v.37 F-Typs: Gemeint ist der Sportwagen Jaguar der F-Type (Cabrio), der spöttisch auch ‚Miezenzieher‘ genannt wird. Auch die namensgebende Raubkatze verweist auf das sexualisierte Jagdverhalten von Herren vornämlich älteren Datums, auf die in den folgenden Versen Bezug genommen wird.
 
v.37ff: Vergleichbar mit der Vokalfolgen in v.3f ist hier die Folge a-a-a-o-o-o-a-a-o-a-a-a, die die erstaunte Begeisterung der Halb nackten Damen am Straßenrand onomatopoetisch zu Gehör bringen könnte.
 
v.38 Opel-Softies: Der Opel Manta war eine Billigkonkurrenz des Jaguars. Den Fahrern des Opels werden hier fehlender Biss und Aggressivität unterstellt, deswegen gelten sie als Softies, als Weicheier (‚Jeder Popel fährt ’nen Opel!‘).
 
v.38 kalt abkacken: Vulgärsprachlich Ausdrück, dafür dass die Opelfahrer nach Meinung der Damen in Bezug auf Klasse und Sexualität nicht konkurrenzfähig sind.
 
v.40ff: Das Gedicht endet in den letzten Versen mit einem Potpourri aus Autoteilen und Geschlechtsmerkmalen: Bugwarzen für Brustwarzen, -frontkolben für Penis, Bug- für die Autofront, Triebwerk für den Motor. Dem entspricht der Vulgärausdruck Hart poppen für den ‚Geschlechts-Verkehr‘ vollziehen.