Zwei Enden zur Schleife

Überblickskommentar:
 
Grundgedanke: Die bedrohte Transzendenz soll wiedererlangt werden. In der 1. Versgruppe (VG1) werden -bedroht durch die Gegenwart- Reste der Transzendenz beschrieben. Aufgabe wäre, deren Verschwinden einfühlsam wahrzunehmen und dagegen zu reden (VG2). Im Gedicht soll die Doppelfigur (Bewusstsein/Liebe gegen Tod/Verrat) aufgehoben werden, um in seiner Tiefe die Trans-zendenz am Beispiel der Wunden Christi widerscheinen zu lassen (VG3). Die Kursiva reflektieren die Aufgabe des Dichters: Mit Hilfe der Trauer über das Verschwindende und die Blindheit der Gegenwart bittet er das Gedicht (Füll mir), der Gesellschaft (uns) die Augen zu öffnen.
 
 

ZWEI ENDEN ZUR SCHLEIFE

 
Ganz ungehärtet
die Existenz
Kleinblütiger Wildkräuter
Und unter dem
Pechglanz

Von außen angreifender
5
Eiserner Reifen

 
Wunden sie bluten uns blind –

 
Wahrnehmungsaufgabe
fremden
Gefühls – dass eine
Führhilfe

Gleichsinnig
10Schwindendem Wind – dass sie
Der Schwere schwach widerspricht
 
Blind müssen Augen uns weinen –

 
Bewusst aber
der Schlange
Gespaltener Kuss: Wenn er die
15Doppelfigur die
Öffnet sich auf den Grund
Wo Unberührbares aufscheint
 
Füll mir die Wunden mit Tränen

Bis sie uns Augen sind
 
 
Stellenkommentar:
 
Titel: Ende (Gegenwart Ω) und Anfang (Transzendenz) werden als Zwei Enden zur Schleife gebunden. Das Gedicht verspricht als Geschenk die Unendlichkeit.
 
v.1ff : Die erste Versgruppe zeigt ein Naturbild, in dem Kleinblütige Wildkräuter ihre Existenz, ihr Sein, behaupten müssen in aufgebrochenem Straßenteer (Pechglanz, s. zu V.3) und angegriffen von Reifen. Das Sein (im philosophischen Sinn) scheint sich in die ungehärtete Natur zurückgezogen zu haben. Es ist auch möglich, die Wildkräuter als Symbol für Gedichte zu verstehen, über die noch ein Zugang zur Transzendenz, dem Sein, möglich ist.
 
v.3 Pechglanz: Pechglanz ist eine Bezeichnung in der Mineralogie für eine Glanzart, die bei verschiedenen Mineralen auftritt. Insbesondere zeigen die frisch zerschlagenen Teerbrocken, die man bei Straßenbauarbeiten sieht, Pechglanz. Es ist verlockend, die Verbindung von Pech (negativ) und Glanz (verführerisch) auf den Zustand der transzendenzlosen Gegenwart anzuwenden.
 
v.5 Eiserner Reifen: Auf der konkreten Ebene ist an mit Eisen beschlagene Kutschenräder zu denken. Das erinnert an die Schlussverse des Märchens ‚Der Froschkönig‘, in dem nicht die Kutschenräder (Reifen) brechen, sondern dem treuen Heinrich die eisernen Bande, die sich wegen der Verzauberung seines Prinzen um sein Herz gelegt haben, vor Freude zerspringen.
 
v.6: Die sinnentleerte Gegenwart wird hier als blutende Wunde bezeichnet, die für die Wahrnehmung der Transzendenz blind macht. Oder anders verstanden: die blutende Wunde eröffnet uns keinen Zugang zum Verständnis von Transzendenz, weil wir blind sind und die Erinnerung an die Wunde Christi vergessen haben.
 
v.7ff: Weil das Gefühl für die Transzendenz der Gegenwart fremd geworden ist, übernimmt der Dichter bzw. das Gedicht die Aufgabe uns Blinde zu ‚führen‘ und uns bei der Wahrnehmung zu ‚helfen‘. Schwindender Wind (Pneuma) und Dichter als Führhilfe sind Gleichsinnig, sie bilden das Gegengewicht zur Schwere des Materiellen. Der Binnenreim Schwindendem Wind bedauert als Echo das Verschwinden, die Alliteration ’schw‘ beschwert den Schluß der Versgruppe.
 
v.8 Führhilfe: Geschirr (Gurtsystem) für Blindenführhunde
 
v.12: Dass wir weinen müssen (sollten), macht uns nicht sehend (im übertragenen Sinne), sondern unsere Augen bleiben blind für die Transzendenz.
 
v.13ff: Überlagert wird hier die Paradies-Schlange mit dem Kuss des Judas Ischariot. Beide Narrative versinnbildlichen einen Zwiespalt. Die Schlange bringt Bewusstheit, aber auch Tod; der Kuss ist ein Liebessymbol, bringt aber mit Judas den Verrat an Christus. Diese Doppelfigur (Positves und Negatives) Öffnet den Blick auf den Grund, das Heilige (‚Unberührbare‘).
 
v.18f: Der Dichter fühlt, wenn er in der Imitatio Christi steht, die Wunden. Auf der poetologischen Ebene ist das Gedicht die Wunde, die den Verlust der Transzendenz mit Tränen betrauert, und dadurch der transzendenzlosen Gegenwart (uns) die Augen öffnen soll. Die Tränen in der blutenden Wunde erinnern an die Seitenwunde Christi, aus der Blut und Wasser tritt (Joh. 18,33ff).